247

Verschlechterungsverbot im Invaliditätspensions-Verfahren

MONIKAWEISSENSTEINER

Wurde einem Versicherten mit Bescheid wegen vorübergehender Invalidität Rehabilitationsgeld zugesprochen, gilt diese Leistung auch bei einer Klage auf Grund des Verschlechterungsverbots nach § 71 Abs 2 ASGG als unwiderruflich anerkannt. Geschützt wird der Versicherte vor einer Schlechterstellung gegenüber dem bekämpften Bescheid aufgrund der Ergebnisse des Prozesses.

SACHVERHALT

Der Antrag des 1964 geborenen Kl auf Weitergewährung der Invaliditätspension wurde abgewiesen, weil dauerhafte Invalidität nicht vorliegt. Weiters wurde ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität vorliegt und ab 1.9.2014 Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht. Der Kl erhob Klage gegen den Bescheid und begehrte die Weitergewährung der Invaliditätspension, weil er dauerhaft invalid sei.322

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies die Klage ab, weil der Kl noch verschiedene Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl, der die Abänderung oder Ergänzung durch Wiederherstellung des durch die Klage aufgehobenen Bescheids begehrte, Folge. Es änderte das Ersturteil dahingehend ab, dass es aussprach, dass weiterhin vorübergehende Invalidität vorliege und Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. In rechtlicher Hinsicht führte das OLG (zusammengefasst) aus, dass der gesamte angefochtene Bescheid eine Einheit bilde und außer Kraft getreten sei. Gem § 71 Abs 2 ASGG sei die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger anerkannt anzusehen, so dass aufgrund des Verschlechterungsverbots dem Kl zumindest die in diesem Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen sei.

Die ordentliche Revision der Bekl wird vom OGH als zulässig, aber nicht berechtigt beurteilt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Die Revisionswerberin vertritt unter sehr ausführlichem Bezug auf die vom Gesetzgeber mit der Schaffung des Rehabilitationsgeldes durch das SRÄG 2012 verfolgten Zwecke die Ansicht, die Anerkenntnisfiktion des § 71 Abs 2 ASGG unterliege Beschränkungen. Um ein Ergebnis zu vermeiden, das die Reformbestrebungen des Gesetzgebers des SRÄG 2012 ad absurdum führe, müsse die Bestimmung so ausgelegt werden, dass das vom Versicherungsträger zuerkannte Rehabilitationsgeld im gerichtlichen Verfahren nicht zuzusprechen sei, wenn sich in diesem herausgestellt habe, dass der Kläger nicht invalid ist. […] Die von der Revisionswerberin geforderte teleologische Reduktion des in § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG normierten Anerkenntnisses setzt den Nachweis voraus, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes gar nicht getroffen wird und dass sie sich von ‚eigentlich gemeinten‘ Fallgruppen soweit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre. […] Dieser Nachweis gelingt der Revision nicht. […]

Nach § 71 Abs 2 erster Halbsatz ASGG idF BGBl 1994/624 ist nach der Einbringung der Klage unter anderem nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen. […] Mit dieser durch die ASGG-Novelle 1994, BGBl 1994/624, eingefügten Vorschrift des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers verhindert werden, dass ein gerichtliches Urteil für den Kläger weniger günstig ausfällt, als der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid (Verschlechterungsverbot). Der Versicherte darf darauf vertrauen, jedenfalls die im Bescheid zuerkannte Leistung ohne Rücksicht auf den Ausgang des Prozesses zu erhalten. […] Das Gericht hat dem Kl daher ‚zumindest‘ die im Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen (10 ObS 235/98a, SSV-NF 12/93; RIS-Justiz RS0089217; ErläutRV 1654 BlgNR 18. GP 25; Fink, ASGG 493 ff). […] Diese Zweckrichtung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG trifft auch zu, wenn dem Versicherten im Bescheid des Versicherungsträgers Rehabilitationsgeld zuerkannt wurde. Geschützt wird der Versicherte vor einer Schlechterstellung gegenüber dem bekämpften Bescheid aufgrund der Ergebnisse des Prozesses. […] Nur Sachverhaltsänderungen, die nach Erlassung des mit der ersten Klage bekämpften Bescheids während des darüber anhängigen gerichtlichen Verfahrens eingetreten sind und die leistungsaufhebend oder leistungsvermindernd wirken, berechtigen den Versicherungsträger, in diesem Stadium wegen Änderung der Verhältnisse einen neuen Bescheid zu erlassen (Kuderna, ASGG2, 464 f). […] Warum der Fall des Kl anders behandelt werden muss als jener eines Versicherten, dem der Versicherungsträger eine Dauerversehrtenrente mit Bescheid zuerkannte, welcher mit der Behauptung, es läge eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit als im Bescheid angenommen vor, bekämpft wird und in dem sich im Prozess herausstellt, dass schon die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Gewährungszeitpunkt nicht ein rentenbegründendes Ausmaß erreicht hatte oder ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit nicht vorliegen (vgl RIS-Justiz RS0110572), ist nicht überzeugend begründbar. Eine sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. Auch Rehabilitationsgeld kann nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung eingetreten ist (vgl RIS-Justiz RS0083941, RS0106704). Daher kann es auch beim Rehabilitationsgeld, wenn der Zuerkennungsbescheid unbekämpft bleibt, zu nicht entziehbaren „Dauerleistungen“ kommen, wenn zum Gewährungszeitpunkt die Leistungsvoraussetzungen zur Gänze nicht vorlagen. […] Da der Gesetzeswortlaut und die klare gesetzgeberische Absicht gegen eine teleologische Reduktion, wie sie die bekl Partei vor allem aus rechtspolitischen Erwägungen anstrebt, sprechen, kommt sie nicht in Betracht (vgl P. Bydlinski in KBB4 § 7 ABGB Rz 5 mwN).“

ERLÄUTERUNG

Diese E stellt eine wesentliche Klarstellung zu einer Frage dar, die seit der Neuordnung des Invaliditätsrechts mit der Abschaffung der befristeten Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitspension für Personen ab Jahrgang 1964 und Einführung des Rehabilitationsgeldes heftig diskutiert wurde. Riskiert ein/e Versicherte/r das mit Bescheid der PVA zuerkannte Rehabilitationsgeld, wenn beim Sozialgericht eine Klage auf Gewährung der (dauernden) Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitspension eingebracht wird und die gerichtsärztlichen Sachverständigengut-323achten Arbeitsfähigkeit, dh nicht einmal vorübergehende Invalidität, bescheinigen? Das würde ein Rechtsschutzdefizit bedeuten. Sonntag (Rechtsschutzprobleme des neuen Invaliditäts- und Rehabilitationssystems, ASoK 2014, 460) hielt § 71 ASGG zwar für nicht direkt, aber für analog anwendbar. Der OGH wendet nun § 71 ASGG direkt an; bereits das OLG hat diese Auffassung vertreten. Die PVA hat in der Revision Bedenken dahingehend geltend gemacht, dass in diesen Fällen dann das Rehabilitationsgeld überhaupt nicht mehr entzogen werden könne, weil ja aufgrund der Gutachten Arbeitsfähigkeit bestehe. Dem hält der OGH zutreffenderweise entgegen, dass es nach § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG ausgeschlossen ist, bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen (bereits) im Gewährungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren einen neuen Bescheid zu erlassen. Das Rehabilitationsgeld kann nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Gewährungszeitpunkt eingetreten ist. Wenn ein Bescheid unbekämpft bleibt, kann es auch in einem derartigen Fall zu „Dauerleistungen“ kommen, wenn die Leistungsvoraussetzungen schon ursprünglich nicht vorlagen. Dies kann im Fall einer Klage nicht anders sein.