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Zulässiger Ausschluss nicht erwerbstätiger Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen

JOHANNESPEYRL
§ Art 7, 14 und 24 RL 2004/38/EG
EuGH 15.9.2015, C-67/2014, Jobcenter Berlin Neukölln gegen Nazifa Alimanovic ua

Mitgliedstaaten der EU dürfen StaatsbürgerInnen anderer Mitgliedstaaten, bei denen Erwerbstätigeneigenschaft nicht mehr vorliegt bzw aufrechterhalten wird, die aber nach wie vor in diesem Mitgliedstaat Arbeit suchen, vom Bezug von Sozialhilfeleistungen (hier: Leistungen nach „Hartz IV“) iSd Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG (UnionsbürgerInnen-RL) ausschließen. Das deutsche Arbeitslosengeld II wurde vom EuGH als Sozialhilfeleistung (und nicht als arbeitsmarktaktivierende Leistung der AN-Freizügigkeit) eingestuft, da der Existenzsicherungscharakter gegenüber dem Arbeitsmarktcharakter überwiegen würde.

SACHVERHALT

Nazifa Alimanovic, die 1966 geboren wurde, und ihre 1994, 1998 und 1999 geborenen Kinder, Sonita, Valentina und Valentino, besitzen alle die schwedische Staatsangehörigkeit, wobei Frau Alimanovic in Bosnien und alle Kinder in Deutschland geboren wurden. Die Familie Alimanovic verließ Deutschland 1999, um nach Schweden zu gehen, kehrte aber im Juni 2010 nach Deutschland zurück, wo ihnen eine unbefristete Bescheinigung nach dem deutschen Freizügigkeitsgesetz/EU erteilt wurde. Nach ihrer Ankunft in Deutschland waren Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, die iSd deutschen Rechtsvorschriften erwerbsfähig waren, zwischen Juni 2010 und Mai 2011 weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw Arbeitsgelegenheiten tätig. Der Familie Alimanovic wurden Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II, „Hartz IV“) zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose und Kindergeld bewilligt.

Aufgrund eines Ende 2011 erklärten Vorbehalts Deutschlands zum im Rahmen des Europarats geschlossenen „Fürsorgeabkommens“ hob das Jobcenter die Entscheidung über die Gewährung der streitigen Leistungen mit Wirkung für die Zukunft in vollem Umfang auf. Auf eine Klage der Familie Alimanovic hin hob das Sozialgericht Berlin diese Entscheidung auf und entschied insb, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita Anspruch auf die sie betreffenden streitigen Leistungen hätten; dieser Anspruch ergebe sich ua aus Art 4 der VO Nr 883/2004, der jede Diskriminierung von Unionsbürgern gegenüber den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats verbiete, iVm Art 70 dieser VO, der besondere beitragsunabhängige Geldleistungen wie die betreffe, um die es in der bei ihm anhängig gemachten Klage gehe. Das Jobcenter hat gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel an das Bundessozialgericht eingelegt. Dieses hat beschlossen, dem EuGH ua folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

„1. […]

2. Sind […] Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art 4 VO 883/2004 durch Bestim-330mungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art 24 Abs 2 der RL 2004/38 möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen (Anm: nämlich den besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen iS von Art 70 Abs 1 und 2 der VO 883/2004) ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt?

3. Steht Art 45 Abs 2 AEUV iVm Art 18 AEUV einer nationalen Bestimmung entgegen, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenzsicherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitssuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert?“

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[...] 44 Unbeschadet dessen ist darauf hinzuweisen, dass solche Leistungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch unter den Begriff ‚Sozialhilfe‘ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fallen. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Urteil Dano, C333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63).

45 Im vorliegenden Fall ist im Übrigen festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.

46 Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vatsouras und Koupatantze, C22/08 und C23/08, EU:C:2009:344, Rn. 45), sondern als ‚Sozialhilfe‘ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 bis 71 seiner Schlussanträge festgestellt hat. […]

57 Zwar können Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita dem vorlegenden Gericht zufolge aus dieser Vorschrift auch nach Ablauf des in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums für die Dauer des von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie abgedeckten Zeitraums ein Aufenthaltsrecht ableiten, das ihnen einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschafft; der Aufnahmemitgliedstaat kann sich in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen, um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren.

58 Aus der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgenommenen Verweisung auf deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt sich nämlich ausdrücklich, dass der Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der letztgenannten Vorschrift zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf.

59 Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Mitgliedstaat die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigen muss, wenn er eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass diese Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht (Urteil Brey, C140/12, EU:C:2013:565, Rn. 64, 69 und 78); eine solche individuelle Prüfung ist aber bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich.

60 Die Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schafft, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll, berücksichtigt nämlich selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit. [...]“

ERLÄUTERUNG

Das Urteil in der Rs Alimanovic ist das jüngste von drei recht knapp hintereinander ergangenen Urteilen zum Thema, wann ökonomisch nicht oder nicht mehr aktive UnionsbürgerInnen in anderen Mitgliedstaaten Anspruch auf (unterschiedliche) Sozialhilfeleistungen haben. Zur Vorgeschichte: Im Urteil Brey (EuGH 19.9.2013, C-140/12) hat der EuGH zur österreichischen Ausgleichszulage entschieden, dass diese (obwohl eine sogenannte beitragsunabhängige Geldleistung iSd Art 70 VO 883/2004) eine Sozialhilfeleistung iSd (für das Aufenthaltsrecht von UnionsbürgerInnen in anderen Mitgliedstaaten relevanten) UnionsbürgerInnen-RL (RL 2004/38/EG) ist. Allerdings ist nicht jeder Sozialhilfebezug schädlich für das Aufenthaltsrecht: Zu prüfen ist, ob der Bezug tatsächlich unangemessen ist (was zB bei nur vorübergehenden Schwierigkeiten nicht anzunehmen ist), dabei ist die Belastung des gesamten Sozialsystems zu beachten. In der Rs Dano (EuGH 11.11.2014, C-333/13) hat der EuGH zwar nach wie vor eine Einzelfallprüfung verlangt, aber ausgesprochen, dass Mitgliedstaaten das Recht haben, nicht erwerbstätigen UnionsbürgerInnen, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu331 kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.

In der Rs Alimanovic wird zunächst klargestellt, dass es sich bei der (verfahrensgegenständlichen) Leistung nach dem deutschen SBG II (Arbeitslosengeld II, „Hartz IV“) um eine Leistung aus dem Titel der Sozialhilfe handelt, da der existenzsichernde Charakter dieser Leistung gegenüber den arbeitsmarktaktivierenden Elementen klar überwiegen würde. Wäre die Leistung (primär) arbeitsmarktaktivierend, so wäre diese (nach dem Urteil Vatsouras und Koupatantze [EuGH 4.6.2009, C-22/08]) eine Leistung der AN-Freizügigkeit und dürfte nicht versagt werden, solange realistische Aussicht darauf bestehen würde, dass die AntragstellerInnen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen würden. Damit ist auch klar, dass die österreichische bedarfsorientierte Mindestsicherung ebenso als (bloße) Sozialhilfeleistung aufzufassen ist und nicht als arbeitsmarktaktivierend iSd Urteils Vatsouras anzusehen ist.

Weiters wird aber – hier beginnen die Schwierigkeiten – ausgesprochen, dass in einem Sachverhalt wie dem vorliegenden nicht nur kein Sozialhilfeanspruch besteht, da die Erwerbstätigeneigenschaft gem Art 7 Abs 3 lit c RL 2004/38/EG nicht mehr aufrechterhalten wurde und bei einem weiteren Aufenthalt zur Arbeitsuche gem Art 14 Abs 4 lit b leg cit ausdrücklich kein unionsrechtlicher Anspruch auf Sozialhilfeleistungen besteht (vgl Art 24 Abs 2), sondern dass in diesem Fall keine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist. Begründet wird der Entfall der Einzelfallprüfung damit, dass die RL 2004/38/EG selbst ein „abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft“ schaffen würde, welches das Aufenthaltsrecht und damit verbunden den Zugang zu Sozialleistungen regeln würde. Dabei würden unmittelbar von der RL verschiedene Faktoren, insb die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, berücksichtigt.

War das Verhältnis des Urteils des EuGH in der Rs Brey zu jenem in der Rs Dano bereits nicht klar, werden durch das hier besprochene Urteil Alimanovic noch mehr Fragen aufgeworfen: In welchen Konstellationen muss jetzt eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden, bzw wann dürfen die Mitgliedstaaten durch bloßen Verweis auf ein nicht oder nicht mehr vorhandenes Aufenthaltsrecht unter dem Titel der Erwerbstätigeneigenschaft bzw der Arbeitssuche Sozialhilfeleistungen verweigern? Die Ausgangslage der Rs Alimanovic und Dano ist insofern ähnlich, als beide Familien keine eigenen Unterhaltsmittel zur Verfügung hatten, während dies bei Familie Brey aber schon der Fall war (wenngleich unter dem entsprechenden Ausgleichszulagenrichtsatz). Es könnte sein, dass dies für den EuGH ausschlaggebend war, zumal Art 8 Abs 4 RL 2004/38/ EG besagt, dass die Mitgliedstaaten keinen festen Betrag für ausreichende Unterhaltsmittel festsetzen dürfen, sondern sich „nur“ an Mindestrenten orientieren dürfen. Dann ist aber erstens unklar, warum der EuGH dies nicht offen ausspricht und zweitens noch nicht geklärt, in welchen Konstellationen tatsächlich eine Einzelfallprüfung unterbleiben kann. Der EuGH wird das Verhältnis dieser Urteile zueinander klären müssen – allerdings konnte man gleiches schon vor dem Urteil Alimanovic sagen.