Lotterie oder erkennbare Rechtsprechungslinie(n)? – Replik zu Keul.

HARALDWÖGERBAUER
Keine aufschiebende Wirkung für Arbeitslose bei § 10 AlVG-Leistungssperren – praktische Negierung eines aktuellen VfGH-Erk durch AMS-Praxis und Teile der Rsp des BVwG, DRdA-infas 2015, 213 ff.

Nach der Lektüre des Beitrages von Jutta Keul in DRdA-infas 2015, 213 ff, könnte den Rechtsschutzsuchenden die im Titel gestellte, bange Frage bewegen. Weitere Fragen, die sich stellen: Kommt es zu einer „Beweislastumkehr zum Nachteil des Betroffenen“ und somit zur Verletzung des „Rechtsstaatsprinzips“ und des „Prinzips der Effektivität des Rechtsschutzes“? Ist das „Recht auf den gesetzlichen Richter“ verletzt? Ist der Wunsch nach Einheitlichkeit der Rsp des BVwG erfüllbar?

Als erstes ist daher die argumentierte Beweislastumkehr unter die Lupe zu nehmen. Im Beitrag von Keul wird richtig festgehalten, dass es „Aufgabe der Behörde“ und somit des Arbeitsmarktservice (AMS) ist, die Voraussetzungen des § 13 Abs 2 VwGVG betreffend Ausschluss der aufschiebenden Wirkung zu prüfen. Das BVwG verlangt nun eine Begründung der Beschwerde gegen diesen Ausschluss. Die Rechtsgrundlage, die den Inhalt der Beschwerde regelt, befindet sich in § 9 VwGVG. Insb die Z 3 des letztgenannten Paragraphen fordert „die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt“ anzugeben. Erst aufgrund einer begründeten Beschwerde kann es zu einer Überprüfung des Bescheides über den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung kommen. Gerade in Hinblick auf die dem Autor bekannten Beschwerdeverfahren, in denen Beschwerdeformularmuster ausgefüllt werden, mangelt es den Beschwerden regelmäßig an Ausführungen des Beschwerdeführers, weshalb das AMS die aufschiebende Wirkung nicht ausschließen hätte dürfen. Das Anforderungsniveau an die Begründung der Beschwerde ist dabei niedrig zu halten, jedoch ganz begründungslos darf die Beschwerde nicht sein. Handelt es sich dabei um eine Beweislastumkehr? Nein, da der Gesetzgeber dem Beschwerdeführer die Last aufbürdet, die Beschwerde zu begründen. Der Beschwerdeführer trägt daher die Begründungslast! Es ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber eine Entscheidung gem § 13 Abs 5 VwGVG über die aufschiebende Wirkung „ohne weiteres Verfahren“ durch die Richter fordert, sprich durch ein schnelles Provisorialverfahren. Ohne Begründung hat der Richter keine Anhaltspunkte für potentielle Fehler der Unterbehörde bei der Interessenabwägung. Insoweit ist auch der Verweis auf die Judikatur des VwGH zu § 30 Abs 2 VwGG zu verstehen. Hier kann der Autor also keine mögliche Rechtsverletzung durch die Entscheidungen des BVwG konstatieren.

Als zweiter Punkt ist nun zu untersuchen, wer zu entscheiden hat und in welcher Form. Keul argumentiert mit § 56 Abs 2 AlVG und erwartet eine Senatsentscheidung. Der Autor möchte folgendes Gegenargument zur Zusammensetzung einbringen: Gem § 6 BVwGG entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gem § 9 Abs 1 BVwGG leitet und führt der Vorsitzende eines Senats das Verfahren bis zur Verhandlung. Die dabei erforderlichen Beschlüsse bedürfen keines Senatsbeschlusses. Nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (RV 2008 BlgNR 24. GP 4) bedeutet dies, dass der Senatsvorsitzende „insbesondere die Entscheidung über den Antrag auf aufschiebende Wirkung, gegebenenfalls über den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung und über die Gewährung eines Verfahrenshilfeverteidigers“ ohne Senatsbeschluss erlassen darf. Die Entscheidung über die aufschiebende Wirkung unterliegt somit aus Sicht des Autors der Einzelrichterzuständigkeit, da bis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig keine Verhandlung stattfindet. Die Regelung der Einzelrichterzuständigkeit ist auch aus dem Ziel logisch erschließbar: Der Gesetzgeber wollte bei Entscheidungen über aufschiebende Wirkungen rasche Entscheidungen, weshalb Provisorialverfahren und Einzelrichterzuständigkeit vorgesehen wurden. Der Aufwand bezüglich der Ladung der Laienrichter zur Beschlussfassung und Probleme einer allfälligen Vertretung des Berufsrichters im Abwesenheits-334falle waren hier vermutlich die leitenden Gedanken. Denn inhaltliche Endentscheidungen sollten nicht vom Vertretungsrichter erledigt werden (Stichwort „Recht auf den gesetzlichen Richter“).

Stellt sich nun die Frage: Wieso kommt es zur Judikaturdivergenz? Dazu bedarf es folgender Überlegungen zu den divergierenden Meinungen der Richter: Die Form der E des BVwG, nämlich „Erkenntnis“ oder „Beschluss“, ist aus Sicht des Autors nicht geklärt. Der Autor vertritt folgende Meinung: Da die Bestimmung des § 13 Abs 2 VwGVG dem § 64 Abs 2 AVG nahezu wortident nachgebildet ist, ist auf die entsprechende Literatur und Judikatur zurückzugreifen. Laut Fister/Fuchs/Sachs, § 64 Rz 5, hat der Ausschluss durch verfahrensrechtlichen Bescheid zu erfolgen (ebenso Eder/Martschin/Schmid, K7 und Hengstschläger-Leeb, § 64 Rz 36 ff). Daraus ist zu schließen, dass das BVwG in Beschlussform zu entscheiden hat, auch wenn es sich um eine Stattgebung der Beschwerde handelt, da die Entscheidung keinesfalls als Entscheidung in der Sache selbst zu werten ist, vielmehr handelt es sich um eine der Sachentscheidung vorgelagerte „einstweilige Verfügung“, die nicht geeignet ist, den Ausgang des Verfahrens vorwegzunehmen. Diese tritt nach endgültiger Sachentscheidung außer Kraft.

Während der Autor aufgrund seiner eben referierten Rechtsmeinung den Beschluss als Entscheidungsform gewählt hat, so gibt es auch Gerichtsabteilungen des BVwG, die ein Erkenntnis präferieren. Hier seien demonstrativ die Entscheidungen vom 30.3.2015, W162 2103998-2, BVwG2.4.2015, W216 2104683-1 sowie BVwG19.3.2015, W218 2103234-1 aufgezählt. Der Autor liest aus diesen Erkenntnissen die Meinung heraus, dass es sich beim Treffen der Entscheidung über die aufschiebende Wirkung um eine Sachentscheidung nach § 28 VwGVG handelt und daher eine Entscheidung in Form eines Erkenntnisses zu ergehen hat. Diese Kollegen scheinen jedoch ebenfalls von der Idee eines verfahrensrechtlichen Bescheides auszugehen, da sie als Einzelrichter entschieden haben. Es unterscheiden sich somit zwischen Erkenntnis und Beschluss faktisch die Überschrift und die verfahrensrechtlichen Paragraphen, auf die sich der jeweilige Richter beruft.

Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen hinsichtlich der Rechtsmittelbelehrung divergieren: Laut Hengstschläger-Leeb, § 64 Rz 36, handelt es sich bei der aufschiebenden Wirkung „um einen von der Entscheidung in der Hauptsache trennbaren, selbständigen Nebenanspruch iSd § 59 Abs. 1 AVG“. Weiters stehen laut Hengstschläger-Leeb, § 64 Rz 39, „gegen den Ausschluss der AW nach § 64 Abs. 2 AVG mangels einer von § 63 Abs. 1 AVG abweichenden Regelung dieselben Rechtsmittel offen wie gegen die Entscheidung in der Hauptsache. Ebenso richtet sich der Instanzenzug nach der in der Sachentscheidung geltenden Regelung [...]“ Der Gesetzgeber hat insofern eine Änderung des „Instanzenzugs“ vorgesehen, als über die Beschwerde gegen den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung das BVwG, und nicht das AMS in der Beschwerdevorentscheidung, einen Beschluss zu fassen hat. Daraus ist aber seitens des Autors zu schließen, dass gegen den Beschluss des BVwG ein Rechtsmittel zulässig ist und somit die Rechtsmittelbelehrung aufzunehmen ist. Einen Hinweis, der ebenso in diese Richtung deutet, findet sich zu Aussetzungsbescheiden in einem Beschluss des VwGH vom 24.3.2015, Ro 2014/05/0089.

Zu einer anderen Ansicht als der Autor hinsichtlich der getrennten Bekämpfbarkeit der E des BVwG über die aufschiebende Wirkung sind einige Richter beim BVwG beispielhaft in den Entscheidungen vom 24.3.2015, W145 2103626-1, 8.4.2015, W209 2104635-1, 8.4.2015, G308 2104087-1 sowie 7.5.2015, G313 2105294-1 gelangt. Diese vertreten die Meinung, dass aufgrund des Vorliegens eines verfahrensleitenden Beschlusses keine getrennte Bekämpfbarkeit gegeben, sondern erst mit der inhaltlichen Sachentscheidung eine Revision möglich ist.

Bezüglich dieser Ausführungen zur Entscheidungsform und der Zusammensetzung ist daher zu konstatieren, dass aufgrund der Vielfalt an Entscheidungen einfachgesetzliche Rechtsverletzungen möglich sind. Der VfGH sah jedenfalls keine Rechtsverletzungen im verfassungsrechtlichen Bereich des Prinzips „Recht auf den gesetzlichen Richter“ (VfGH 11.6.2015, E 902/2015).

Fazit

Das BVwG vertritt mit seinen unabhängigen Richtern die Vielfalt der hier dargestellten Meinungen. Rechtsprechungslinien, wenn auch divergierend, sind erkennbar. Basis dafür sind Gesetze, die nicht eindeutig sind. Die von Keul gewünschte Vereinheitlichung der Rsp kann auf zwei Wegen bewerkstelligt werden: Entweder der Gesetzgeber schafft klare, widerspruchsfreie Normen oder der VwGH führt mit seiner Rsp die Vereinheitlichung herbei. Bis dahin sind einfachgesetzliche Rechtsverletzungen möglich und keiner der entscheidenden Richter weiß, ob nicht gerade er die falsche Meinung vertritt, was das Richterleben nicht gerade einfacher macht und den Rechtsschutzsuchenden aufgrund des uneinheitlichen Bildes verwirrt zurück lässt. Den Rechtsschutzsuchenden ist jedenfalls abschließend zu empfehlen, die Beschwerden unter Anführung konkreter Nachteile durch den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung zu begründen.335