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Berechnung des Wochengeldes bei Vorliegen von Erwerbseinkommen und einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld im Beobachtungszeitraum

MARTINATHOMASBERGER
§ 162 Abs 3 Satz 4, § 162 Abs 3a Z 2 und Z 3 ASVG

Der Verweis in § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG nur auf § 162 Abs 3a Z 2 und nicht auch auf dessen Z 3 stellt eine planwidrige Lücke dar. Liegen im Bemessungszeitraum für das Wochengeld gem § 162 Abs 3 Satz 1 Zeiten des Bezugs von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld vor, so sind diese mit dem gem § 162 Abs 3a Z 3 um 25 % erhöhten Betrag des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in die Bemessung mit einzubeziehen.

SACHVERHALT

Die Kl hatte nach der Geburt ihres ersten Kindes einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bezogen und danach wieder gearbeitet und ein Einkommen erzielt. Anlässlich des Versicherungsfalles der Mutterschaft für ihr zweites Kind stellte sie den Antrag auf Wochengeld bei der Versicherungsanstalt für Eisenbahn und Bergbau (VAEB). In den Bemessungszeitraum für das Wochengeld fielen sowohl Zeiten des Bezugs von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld als auch Zeiten mit Erwerbseinkommen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die VAEB berechnete das Wochengeld auf der Basis des im Bemessungszeitraums erzielten Erwerbseinkommens und des um 80 % erhöhten Grundbetrags gem § 162 Abs 3a Z 2 ASVG iVm § 3 KBGG (€ 14,53 * 1,8 = € 26,15) und gewährte daher als Wochengeld den Tagsatz von € 52,21. Die Kl machte dagegen geltend, dass aufgrund der zeitlichen Lagerung des Bemessungszeitraums neben Einkünften aus Erwerbsarbeit auch das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld mit seinem gem § 162 Abs 3a Z 3 um 25 % erhöhten Betrag in die Bemessung des Wochengeldes einzubeziehen sei, woraus sich der Tagsatz von € 78,61 ergeben würde.

Das Erstgericht wies die Klage ab und bestätigte die Rechtsansicht der Bekl. § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG verweise eindeutig nicht auf § 162 Abs 3a Z 3, sondern nur auf dessen Z 2 und somit auf den Grundbetrag des Kinderbetreuungsgeldes gem § 3 KBGG. Deswegen könne nicht von einer planwidrigen Lücke ausgegangen werden. Der Gesetzgeber habe es mit der Wahl des Durchschnittsprinzips für die Bemessung des Wochengeldes in Kauf genommen, dass Versicherte auch einen Verdienstentfall erleiden können. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl keine Folge und ließ die ordentliche Revision zu. Der OGH gab der Revision der Kl statt.

Er bejahte das Vorliegen einer planwidrigen Lücke und sprach aus, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern seien, dass der Kl das höhere Wochengeld zusteht.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„2. Im Zusammenhang mit der Erlassung des Kinderbetreuungsgeldgesetzes (BGBl I 2001/103) wurde auch der den Wochengeldanspruch regelnde § 162 partiell geändert. Insbesondere wurde § 162 Abs 3a Z 2 eingefügt, wonach den Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld Wochengeld in der Höhe des um 80 % erhöhten Kinderbetreuungsgeldes gebührt. […]

3. Mit dem Bundesgesetz BGBl I 2007/76 wurden in den §§ 5a – 5c KBGG drei Kurzleistungen (‚20+4‘, ‚15+3‘, ‚12+2‘) eingeführt. In diesem Zusammenhang wurde in § 162 Abs 3a ASVG der Z 2 der folgende Satz angefügt: ‚Berechnungsgrundlage ist den in § 3 Abs 1 KBGG genannte Betrag‘. Die Bezugnahme bloß auf den Tagessatz von 14,53 € bei allen (damals) vier Kinderbetreuungsgeldvarianten wird in den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 229 BlgNR 23. GP 8) damit erklärt, dass ‚zur Gleichbehandlung aller Mütter die Höhe des aus einem KBG-Bezug resultierenden Wochengeldes unabhängig von der zuvor gewählten Leistungsart stets auf Basis des § 3 Abs 1 KBGG berechnet wird.‘

4. Schließlich wurden mit dem Bundesgesetz BGBl I 2009/116 die damals vier Kinderbetreuungsgeldvarianten zur Gruppe ‚Pauschales Kinderbetreuungsgeld‘ zusammen gefasst; daneben wurde in Abschnitt 5 des KBGG (§§ 24 – 24d) eine neue ‚12+2‘ Variante, nämlich das ‚Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens‘ eingeführt. […]

4.2. Mit der Novelle wurde auch § 162 Abs 3a ASVG in Form einer Differenzierung zwischen der Pauschalvariante (Z 2) und der einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldvariante (Z 3) adaptiert. Bei den Pauschalvarianten blieb es bei der Maßgeblichkeit des in § 3 Abs 1 KBGG genannten Betrages von 14,53 €; für die einkommensabhängige Variante wurde vorgesehen, dass Wochengeld ‚in der Höhe des jeweiligen um 25 % erhöhten Kinderbetreuungsgeldes als Ersatz des Erwerbseinkommen‘ gebührt. Nicht geändert wurde § 162 Abs 3 ASVG. […]

5.4. In der Literatur weist Drs (in SV-Komm [Stand 31.12.2012] § 162 Rz 53) darauf hin, dass zwar unter ‚Arbeitsverdienst‘ iSd § 162 Abs 3 ASVG grundsätzlich keine Geldleistungen nach dem KBGG zu verstehen sind (ebenso Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG [119. ErgLfg], 877 f [§ 162154 Anm 6] zu Geldleistungen nach dem ASVG), dass jedoch § 162 Abs 3 Satz 4 für diese Zeiten eine Sonderregelung vorsieht: Fallen in den Beobachtungszeitraum auch Zeiten des Bezugs einer Leistung nach dem KBGG, so gilt als Arbeitsverdienst jenes Wochengeld, das aufgrund des § 162 Abs 3a ASVG im Fall des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft während des Leistungsbezugs gebührt hätte.

5.5. Aus dem Gesetzeswortlaut und der dargestellten Entwicklung der Gesetzeslage unter Bedachtnahme auf die Intentionen des Gesetzgebers ist daher der Schluss zu ziehen, dass § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG generell das im Beobachtungszeitraum bezogene Kinderbetreuungsgeld in die Wochengeldberechnung einbezieht (zu beachten ist allerdings der in § 162 Abs 5 Z 3 normierte Ausschluss von ‚Nur-Kinderbetreuungsgeld-Bezieherinnen‘ nach § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG).

6. Damit stellt sich die weitere, das Verfahren vor den Vorinstanzen dominierende Frage, ob das Fehlen des auf § 162 Abs 3a Z 3 ASVG gerichteten Verweises in § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG zur Folge hat, dass auch bei Beziehern eines einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes als Berechnungsgrundlage nur das um 80 % erhöhte pauschale Kinderbetreuungsgeld bei der längsten Bezugsvariante – dh mit der betraglich geringsten Höhe – heranzuziehen ist.

6.1. Drs (in SV-Komm [Stand 31.12.2012] § 162 Rz 53) folgt dem Gesetzeswortlaut: § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG verweise nur auf § 162 Abs 3a Z 2, nicht aber auch auf Z 3. […]

6.4. Bei der Einführung der (pauschalen) Kurzvarianten des Kinderbetreuungsgeldes mit dem Bundesgesetz BGBl I 2007/76 hat der Gesetzgeber in § 162 Abs 3a bewusst keine Unterscheidung nach den einzelnen Varianten vorgenommen (siehe dazu die unter 3. zitierten Gesetzesmaterialien, ErläutRV 229 BlgNR 23. GP 8). Angesichts der mit Einführung des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes dann doch durchgeführten Differenzierung in § 162 Abs 3a ASVG (zwischen der Z 2 einerseits und der Z 3 andererseits) wäre aber zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber – auch in Fortführung der dem SRÄG 2005 zugrunde liegenden Gedanken – die bewusst getroffene Unterscheidung zwischen den Pauschalvarianten des Kinderbetreuungsgeldes einerseits und der einkommensabhängigen Variante andererseits nicht nur in § 162 Abs 3 Satz 4 umsetzt: Es ist kein Grund erkennbar, dass eine Frau, die beim Eintritt des Versicherungsfalls im aktuellen Bezug einer Leistung nach dem KBGG steht, in Bezug auf dem Wochengeldanspruch bewusst verscheiden behandelt wird, je nachdem, ob das Kinderbetreuungsgeld in Form einer Pauschalvariante oder in Form von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld bezogen wird, während nach dem Gesetzeswortlaut dann, wenn der in den Beobachtungszeitraum fallende Kinderbetreuungsgeldbezug vor dem Eintritt des (neuen) Versicherungsfalles infolge Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geendet hat, der Bezug der Leistung nach dem KBGG undifferenziert berücksichtigt wird.

Der Gesetzgeber hat zwar mit dem BGBl I 2009/116 eine Anpassung des Abs 3a des § 162 ASVG vorgenommen, aber offensichtlich auf die entsprechende Adaptierung des Abs 3 Satz 4 vergessen, worauf auch hindeutete, dass er trotz erkennbarer Klärungsbedürftigkeit in den Gesetzesmaterialien keinen Grund angibt, warum die in Abs 3a einerseits und in Abs 3 Satz 4 andererseits genannten Fälle unterschiedlich zu behandeln seien. […]

Schließlich legt gerade der aus § 162 Abs 3a Z 3 ASVG hervorleuchtende Zweck, im Fall des vorherigen Bezugs von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld auch ein (indirekt) einkommensabhängiges Wochengeld zu gewähren, eine Gleichbehandlung der Fälle nahe.

Nach zutreffender Rechtsansicht der Klägerin bringt die Regelung des § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG […] ganz allgemein den Grundsatz zum Ausdruck, dass für Zeiten des Bezugs einer Leistung nach dem KBGG jenes Wochengeld gebühren soll, welches gebührt hätte, wenn der Versicherungsfall der Mutterschaft bereits während des Leistungsbezugs des Kinderbetreuungsgeldes eingetreten wäre. […]

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist eine planwidrige Gesetzeslücke zu bejahen, die dadurch zu schließen ist, dass in § 162 Abs 3 Satz 4 auch ein Verweis auf Abs 3a Z 3 hineinzulesen ist.“

ERLÄUTERUNG

Die Gerichte sind mit gutem Grund zurückhaltend, was die Feststellung von echten Gesetzeslücken und deren Schließung betrifft, da sie den verfassungsrechtlichen Auftrag zur Auslegung und Anwendung des Rechts haben und nicht auch zu seiner Weiterentwicklung bzw Änderung haben – das ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Das Vorliegen einer Gesetzeslücke ist zu prüfen, wenn die Anwendung des Gesetzeswortlautes, so wie im vorliegenden Fall, in bestimmten Sachverhaltskonstellationen zu nicht nachvollziehbaren, benachteiligenden oder unverständlichen Rechtsfolgen führt. Dies kann nur dann von einem Gericht bejaht werden, wenn neben dem „klaren Gesetzeszweck“ auch überzeugende methodische und systematische Argumente gefunden werden können, mit denen belegt werden kann, dass die Regelung eine planwidrige Unvollständigkeit aufweist.

Der OGH hat in dieser E solche Argumente gefunden, indem er die rechtshistorische Entwicklung der Bestimmungen über die Bemessung des Wochengeldes im Zusammenhang mit dem Bezug des Karenzgeldes und (ab 2002) des Kinderbe-155treuungsgeldes genau nachvollzogen und ausführlich dargelegt hat. Die E weist sehr klar darauf hin, dass die Berufung auf einen Zweck des Gesetzes allein nicht ausreicht, ebenso wenig wie die Behauptung, dass dem Gesetzgeber ein Versehen unterlaufen sei. Beide Behauptungen müssen so wie in dieser E mit tragfähigen Argumenten gestützt werden, die sich vor allem aus der Entwicklung der fraglichen Regelung und aus den historischen Gesetzesmaterialien (Regierungsvorlagen, Ausschussberichte) sowie aus der systematischen Einbettung in den Regelungszusammenhang ableiten lassen müssen.

Wird das Vorliegen einer echten Gesetzeslücke bejaht, dann kann das Gericht selber die Schlussfolgerung ziehen, welche Regelung für deren Schließung heranzuziehen ist. Dabei sollte das Gericht so einschränkend wie möglich vorgehen und nur solche Regelungen heranziehen, die sich in den der Feststellung zugrunde liegenden systematischen Zusammenhang einfügen; insb dürfen die für den Lückenschluss herangezogenen Regelungen nicht extensiv interpretiert werden.

Für Berufungs- bzw Revisionswerber beinhaltet die Behauptung des Vorliegens einer unvollständigen bzw fehlerhaften Regelung und das Begehren, die Gerichte mögen diese Lücke schließen, immer einen gegenüber anderen Rechtsmittelgründen wesentlich erhöhten Argumentationsaufwand. Sie müssen in ihrem Rechtsmittel bereits zumindest ein starkes Argument vorbringen, das die Rechtsmittelgerichte dazu bewegt, in die Prüfung des Vorliegens der behaupteten Lücke einzusteigen. Der Revisionswerberin ist dies im vorliegenden Fall mit dem Vorbringen gelungen, dass die Regelung des § 162 Abs 3 Satz 4 ASVG unter Berücksichtigung der dazu gehörigen Gesetzesmaterialien ganz allgemein den Grundsatz zum Ausdruck bringt, dass für Zeiten, in denen eine Leistung nach dem KBGG bezogen wird, das Wochengeld differenziert nach Pauschalvarianten einerseits und nach einkommensabhängigem Modell andererseits zu bemessen sein soll, und dass dieser Grundsatz auch auf Sachverhalte anzuwenden ist, in denen Erwerbseinkommen und Leistungsbezug im Beobachtungszeitraum vorliegen.