111Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und Bescheidpflicht
Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und Bescheidpflicht
Auch im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 sind Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation ohne Zusammenhang mit einem Pensionsverfahren vom Pensionsversicherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen ohne Bescheidpflicht zu erbringen. Ein Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitationsmaßnahmen gem § 253f Abs 1 ASVG bzw § 270b Abs 1 ASVG besteht nur für jene Personen, deren Pensionsantrag iSd § 367 Abs 4 ASVG abgelehnt worden ist.
Der Kl ist seit einem Verkehrsunfall 1981 oberschenkelamputiert und derzeit bei einer Versicherung im Außendienst tätig. Er beantragte bei der PVA die Gewährung medizinischer Maßnahmen der Rehabilitation durch Übernahme der Kosten für eine Oberschenkelprothese mit einem mikroprozessgesteuerten Genium-Bionic-Kniegelenk in Höhe von € 63.281,34.
Nach einer formlosen (ablehnenden) Mitteilung durch die PVA beantragte er die Ausstellung eines Bescheids. Der Antrag wurde mit Bescheid zurückgewiesen, weil auf die Leistung kein individueller Rechtsanspruch bestehe und die Leistung als freiwillige Leistung auch keiner Bescheidpflicht unterliege. In der Klage wurde164 vorgebracht, dass seit Inkrafttreten des SRÄG 2012 in § 367 ASVG ein Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation normiert sei. Das Erstgericht wies die Klage mit der Begründung, ein Rechtsanspruch bestehe nur dann, wenn das Vorliegen vorübergehender Invalidität festgestellt worden sei, zurück. Das Rekursgericht bestätigte diese E und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil der geänderte Wortlaut des § 367 ASVG eindeutig sei. Der OGH hielt den Revisionsrekurs zur Klarstellung der durch das SRÄG 2012 geänderten Rechtslage zwar für zulässig, aber nicht für berechtigt. Es blieb daher bei der Zurückweisung der Klage.
„Auch die Pensionsversicherungsträger treffen gemäß § 300 Abs 1 ASVG Vorsorge für die Rehabilitation ihrer Versicherten und Leistungsempfänger. Nach Abs 3 dieser Gesetzesstelle umfasst die Rehabilitation medizinische und berufliche Maßnahmen und, soweit dies zu ihrer Ergänzung erforderlich ist, soziale Maßnahmen mit dem Ziel, die zu rehabilitierenden Personen bis zu einem solchen Grad ihrer Leistungsfähigkeit herzustellen oder wiederherzustellen, der sie in die Lage versetzt, im beruflichen und wirtschaftlichen Leben und in der Gemeinschaft einen ihnen angemessenen Platz möglichst dauernd einnehmen zu können. […] Die Pensionsversicherungsträger gewähren diese Maßnahmen – unbeschadet der §§ 253f, 270b und 276f ASVG (in welchen Fällen ein Rechtsanspruch auf Gewährung von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation besteht) – nach pflichtgemäßem Ermessen. […] Nach bisher ständiger Rechtsprechung zur Rechtslage vor Inkrafttreten des SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, war der Versicherungsträger somit bei medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung, die – wie hier – unabhängig von einem Pensionsantrag begehrt werden (RIS-Justiz RS0084894 [T1]), zwar verpflichtet, die Leistungen der Rehabilitation nach pflichtgemäßem Ermessen zu erbringen, er hatte jedoch keinen Bescheid zu erlassen. […]
An dieser Rechtslage hat sich auch durch das BudgetbegleitG 2011 (75. ASVG-Nov, BGBl I 2010/111) keine Änderung ergeben. […]
Durch das SRÄG 2012 (BGBl I 2013/3) wurde der mit ‚Bescheide der Versicherungsträger in Leistungssachen‘ übertitelte § 367 Abs 1 ASVG dahin geändert, dass der bis dahin enthaltene Begriff der beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation durch den Begriff der medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation ersetzt wurde. Über den Antrag auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation aus der Pensionsversicherung ist nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen ein Bescheid zu erlassen (‚bedingte Bescheidpflicht‘), nämlich wenn der Versicherungsträger von sich aus ohne Einwilligung des Erkrankten (Versehrten) Anstaltspflege oder Wiederaufnahme der Heilbehandlung verfügt hat (Z 1), oder wenn die beantragte Leistung ganz oder teilweise abgelehnt wird und der Anspruchswerber ausdrücklich einen Bescheid verlangt (Z 2). […]
§ 367 ASVG idF SRÄG 2012 (BGBl I 3/2013) trat mit 1.1.2014 in Kraft und ist im vorliegenden Fall bereits anwendbar. […] Zwar war zum Zeitpunkt der Klageeinbringung am 15.9.2014 die sechsmonatige Säumnisfrist gemäß § 67 Abs 1 Z 2 lit a ASGG noch nicht abgelaufen, im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung war dies jedoch bereits der Fall. […]
Es stellt sich daher im vorliegenden Fall die Frage, ob für die beklagte Partei nach der ab 1.1.2014 geltenden Rechtslage eine bedingte Bescheiderlassungspflicht hinsichtlich medizinischer Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung, die unabhängig von einem Pensionsantrag beantragt werden, besteht (§ 367 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012). […]
§ 367 Abs 1 ASVG stellt eine verfahrensrechtliche Norm dar, die dem Abschnitt II ‚Verfahren in Leistungssachen‘ zugeordnet ist und die Bescheide der Versicherungsträger in Leistungssachen regelt. Hat man sie auszulegen, ist sie nicht isoliert für sich zu sehen, sondern nur nach dem Gesetzeszusammenhang, also im Kontext mit den das (materielle) Leistungsrecht betreffenden Neuerungen des SRÄG 2012. […]
8.1 Mit dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, ist für bestimmte Personengruppen (für die Jahrgänge ab 1964) somit ein Rechtsanspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation im Fall der Ablehnung der beantragten Pensionsleistung mangels Vorliegens dauernder Invalidität (Berufsunfähigkeit) und bei Feststellung vorübergehender Invalidität (Berufsunfähigkeit) im Ausmaß von mindestens sechs Monaten eingeführt worden (ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP 22). Leistungen der medizinischen Rehabilitation wurden daher in den Pflichtleistungskatalog der Pensionsversicherung aufgenommen (vgl § 222 Abs 1 Z 2 lit a ASVG idF BGBl I 2015/2). Dieser Rechtsanspruch besteht – wie sich aus § 253f Abs 1 ASVG bzw § 270b Abs 1 ASVG eindeutig ergibt – im Wirkungsbereich der Pensionsversicherung aber nur für jene Personen, deren Pensionsantrag iSd § 367 Abs 4 ASVG abgelehnt worden ist. Diese Personen haben einen Rechtsanspruch auf Leistung von (medizinischen) Rehabilitationsmaßnahmen, wenn derartige Maßnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit notwendig und nach dem Gesundheitszustand der versicherten Person zweckmäßig sind. […]
Nach § 222 Abs 3 ASVG idF SRÄG 2012 treffen die Pensionsversicherungsträger ‚überdies – unbeschadet der Leistungen nach Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 Z 2 lit a‘ aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit – Maßnahmen der Rehabilitation (§ 301 ASVG). Korrespondierend165 dazu bestimmt § 301 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012, dass die Pensionsversicherungsträger die Maßnahmen der Rehabilitation nach den §§ 302 bis 304 ASVG – unbeschadet der §§ 253f, 270b und 276f ASVG – nach pflichtgemäßem Ermessen gewähren.
8.3 Aus den beiden letzteren Regelungen folgt, dass die Pensionsversicherungsträger auch nach dem Inkrafttreten des SRÄG 2012 unbeschadet des Rechtsanspruchs auf medizinische Rehabilitation gemäß § 222 Abs 1 Z 2 lit a ASVG und unbeschadet der §§ 253f, 270b und 276f ASVG weiterhin Maßnahmen der Rehabilitation in der Pensionsversicherung nach pflichtgemäßem Ermessen gewähren. […] Dem Revisionsrekurswerber ist zuzugestehen, dass nach dem Wortlaut des § 367 Abs 1 Satz 1 ASVG die Bescheidpflicht (im Fall einer zumindest teilweisen Antragsablehnung über entsprechendes Begehren) nicht bloß auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation nach dem § 253f ASVG bzw § 270b ASVG eingeschränkt ist. Bei der Auslegung des § 367 Abs 1 ASVG ist aber auf das Ziel der mit dem SRÄG 2012 eingeführten Änderungen abzustellen, die Wiedereingliederung des Versicherten in den Arbeitsmarkt zu erreichen, zu welchem Zweck der Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation für Personen, die am 1.1.2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eingeführt wurde, deren Pensionsantrag wegen mangelnder dauernder Arbeitsunfähigkeit abgelehnt wurde […]. Eine grundsätzliche Änderung der Rechtslage hinsichtlich der fehlenden Bescheidpflicht bei Anträgen auf Gewährung von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen ohne Zusammenhang mit einem Pensionsantrag sollte mit dem SRÄG 2012 nicht herbeigeführt werden. […] § 367 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012 ist daher einschränkend dahin auszulegen, dass eine Bescheidpflicht über die Gewährung von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation aus der Pensionsversicherung nur nach dem § 253f ASVG bzw § 270b ASVG besteht. Auch im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 ist demnach weiterhin an der Rechtsprechung festzuhalten, nach der Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation ohne Zusammenhang mit einem Pensionsverfahren vom Pensionsversicherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen ohne Bescheidpflicht zu erbringen sind. […] Im vorliegenden Fall hat der Kläger ausschließlich einen Antrag auf Gewährung von medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation unabhängig von einem Pensionsantrag gestellt, sodass so wie nach der Rechtslage vor dem SRÄG 2012 keine Verpflichtung des Pensionsversicherungsträgers zur Erlassung eines Bescheids gegeben ist (siehe RIS-Justiz RS0084894 [T1]). Nur bei Bestehen einer Bescheidpflicht würde aber die Ablehnung der Erlassung eines Bescheids die Möglichkeit einer Säumnisklage (nach § 67 Abs 1 Z 2 ASGG) eröffnen.“
Das vorliegende, komplexe Urteil beantwortet eine Frage, die durch das SRÄG 2012 aufgeworfen wurde. Neben der Änderung des materiellen Rechts (die allein kompliziert genug ist) ist das Ineinandergreifen von materiellem Recht und Verfahrensrecht eine besondere Herausforderung für Versicherte, Versicherungsträger und Gerichte.
§ 367 ASVG stellt eine zentrale Norm des SRÄG 2012 dar. Die Bestimmung findet man im siebenten Teil des ASVG („Verfahren“). In den Materialien wird ausgeführt, dass Personen, die am 1.1.2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, keinen Rechtsanspruch mehr auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nach dem ASVG haben, vielmehr wird ein solcher Anspruch (nach dem Muster des § 253e ASVG) im AlVG festgeschrieben und die entsprechenden Leistungen vom AMS im Rahmen eines Case Managements erbracht. Hingegen soll diesem Personenkreis im Fall der Ablehnung der beantragten Pensionsleistung (weil keine dauernde Invalidität/Berufsunfähigkeit anzunehmen ist) und der Feststellung des Pensionsversicherungsträgers, dass eine vorübergehende Invalidität (Berufsunfähigkeit) im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliegt, ein Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation eingeräumt werden, wenn derartige Maßnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit notwendig und nach dem Gesundheitszustand der versicherten Person zweckmäßig sind. Der OGH interpretiert den durchsetzbaren Anspruch, der mit Bescheid zu erledigen ist, konsequenterweise einschränkend. Dieser Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation wird in § 253f ASVG für Arbeiter bzw in § 270b ASVG für Angestellte normiert. Der Rechtsanspruch besteht auch für Personen ohne Berufsschutz. Allerdings besteht der Anspruch nur im Zusammenhang mit einem Pensionsantrag, wenn der Anspruch auf Invaliditäts(Berufsunfähigkeits)pension abgelehnt wird, aber vorübergehende Invalidität (Berufsunfähigkeit) im Ausmaß von mindestens sechs Monaten besteht. § 367 Abs 1 ASVG muss im Zusammenhang mit § 253f ASVG (§ 270 b ASVG) gelesen werden: Personen, für die bescheidmäßig festgestellt wurde, dass vorübergehende Invalidität vorliegt, haben Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation. Darüber hinaus gewähren die Pensionsversicherungsträger medizinische Rehabilitationsmaßnahmen – unabhängig von einem Pensionsverfahren – wie bisher nach pflichtgemäßem Ermessen als freiwillige Leistungen (§ 222 Abs 3 iVm § 301 ASVG). Nach stRsp (OGH 9.2.2010, 10 ObS 68/09m; OGH 17.12.2013, 10 ObS 174/13f; OGH 30.9.2014, 10 ObS 120/14s) besteht in diesem Fall auch keine Verpflichtung des Pensionsversiche-166rungsträgers, einen Bescheid zu erlassen. Im Bereich der KV besteht dagegen auch für freiwillige Leistungen eine Bescheiderlassungspflicht. Der Versicherte hat zwar keinen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf die Leistung, aber im Rahmen der sukzessiven Kompetenz ist die Ermessensübung durch die Gerichte überprüfbar (zB OGH 18.2.2003, 10 ObS 258/02t).