112Empfehlungen der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission als Sachverständigengutachten zu qualifizieren; Begriff des wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens
Empfehlungen der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission als Sachverständigengutachten zu qualifizieren; Begriff des wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens
Der Empfehlung der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission gem § 351g Abs 2 ASVG kommt hinsichtlich der festzustellenden Tatsachen die Beweiskraft eines Sachverständigengutachtens zu; hinsichtlich der rechtlichen Einordnung der festgestellten Tatsachen sowie hinsichtlich der Ermessensentscheidung über die Aufnahme in den Erstattungskodex entfaltet diese Empfehlung jedoch keine Bindungswirkung. Ein wesentlicher therapeutischer Zusatznutzen iSd § 23 Abs 2 Z 6 VO-EKO liegt nur dann vor, wenn bedeutende Verbesserungen gegenüber vorhandenen therapeutischen Alternativen nachweisbar sind.
Die mitbeteiligte Partei beantragte die Aufnahme einer von ihr vertriebenen Arzneispezialität in den gelben Bereich des Erstattungskodex (EKO). Dabei stufte das Unternehmen die Arzneispezialität gem § 24 Abs 2 Z 6 Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex nach § 351c ASVG (VO-EKO) ein („die beantragte Arzneispezialität hat einen wesentlichen zusätzlichen therapeutischen Nutzen für die Mehrzahl von Patienten […] im Vergleich zu therapeutischen Alternativen“), während der Hauptverband von einer Einstufung nach § 24 Abs 2 Z 4 VO-EKO ausging („die beantragte Arzneispezialität hat einen zusätzlichen Nutzen für die Mehrzahl von Patienten […] im Vergleich zu therapeutischen Alternativen“). Entgegen dem vom Unternehmen vorgelegten Gutachten kam die Heilmittel-Evaluierungs-Kommission (HEK) in ihrer Empfehlung zum Ergebnis, dass ein zusätzlicher Nutzen zwar vorliege, dieser aber nicht als „wesentlich“ iSd § 23 Abs 2 Z 6 VO-EKO einzustufen sei. Der Hauptverband lehnte die Aufnahme des Produktes in den gelben Bereich des EKO mangels Wirtschaftlichkeit mit Bescheid ab und strich die Arzneispezialität aus dem roten Bereich des EKO. Gegen diesen Bescheid erhob die mitbeteiligte Partei Beschwerde an das BVwG.
Das BVwG schloss sich der Ansicht der Beschwerdeführerin an, dass die beantragte Arzneispezialität nach § 24 Abs 2 Z 6 VO-EKO einzustufen sei, hob den Bescheid hinsichtlich der gesundheitsökonomischen Einstufung auf und verwies die Sache zur Erlassung eines neuen Bescheides zurück. Der neu vorzunehmenden Beurteilung der Wirtschaftlichkeit gem § 25 VO-EKO sei die Einstufung unter § 24 Abs 2 Z 6 VO-EKO zugrunde zu legen. Der VwGH hob das Erk des BVwG wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts auf.
„4. Die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Arzneispezialitäten in den Erstattungskodex ist eine Ermessensentscheidung des Hauptverbandes. […] Kommt der Hauptverband in einer ersten Einschätzung zum Ergebnis, dass dem Antrag nicht stattzugeben (‚eine vom Antrag abweichende Entscheidung zu treffen‘) sein könnte, so kann das antragstellende Unternehmen dazu gemäß § 26 Abs. 1 VO-EKO eine Stellungnahme abgeben oder […] ein Gutachten gemäß § 26 Abs. 2 VO-EKO vorlegen, mit dem zur vorläufigen Feststellung des Hauptverbandes Stellung genommen wird. […] Schließlich ist der Antrag zusammen mit der vorläufigen Feststellung des Hauptverbandes und der Stellungnahme des Unternehmens bzw. dem Gutachten nach § 26 Abs. 2 VO-EKO der HEK vorzulegen; diese hat dem Hauptverband zu empfehlen, ob die Arzneispezialität in den gelben oder den grünen Bereich übernommen werden oder aus dem Erstattungskodex ausscheiden soll. Die Empfehlung der HEK hat gemäß § 351g Abs. 2 ASVG den Kriterien der Wissenschaft, der Transparenz und der gesundheitsökonomischen Bewertungen zu entsprechen. Ausgehend davon handelt es sich auch bei der Beurteilung, die der Empfehlung der HEK – eines Expertengremiums – zugrunde liegt, der Sache nach um eine sachverständige Äußerung. Der Hauptverband (und im Beschwerdeverfahren das Bundesverwaltungsgericht) darf sich bei der Beweiswürdigung nur dann darüber hinwegsetzen, wenn die Beurteilung der HEK nicht schlüssig ist bzw. wenn ihr andere, entsprechend valide sachverständige Äußerungen widersprechen.
Das bedeutet aber nicht, dass die Empfehlung der HEK bindend wäre: Ist die ihr zugrunde liegende Beurteilung schlüssig, so kommt ihr hinsichtlich der einzelnen festzustellenden Tatsachen die Be-167weiskraft eines Sachverständigengutachtens zu; der Hauptverband (bzw. – in den Grenzen seiner Kognitionsbefugnis – das Bundesverwaltungsgericht) kann jedoch sowohl bei der rechtlichen Einordnung der festgestellten Tatsachen als auch bei der letztlich zu treffenden Ermessensentscheidung hinsichtlich der Aufnahme oder Nichtaufnahme in den Erstattungskodex – in deren Rahmen die einzelnen Kriterien zu gewichten und gegeneinander abzuwägen sind – zu einem anderen Ergebnis als die HEK kommen. […]
5. […] Soweit das Bundesverwaltungsgericht auf der Ebene der Tatsachenfeststellungen beweiswürdigend dem Gutachten von Prof. Dr. J. statt der sachverständigen Äußerung der HEK gefolgt ist, erweist sich dies als unschlüssig, weil die HEK das Gutachten mit maßgeblichen Zusatzargumenten […] widerlegt hat und das Bundesverwaltungsgericht auch nicht darlegt, dass die Äußerung der HEK ihrerseits mangelhaft wäre. Außerdem scheint das Bundesverwaltungsgericht die maßgeblichen Kriterien zum Teil missverstanden zu haben: So wurde vor allem vernachlässigt, dass es nicht um den – ohnehin unstrittigen – therapeutischen Nutzen der Arzneispezialität ging, sondern um einen wesentlichen zusätzlichen Nutzen gegenüber den im Erstattungskodex bereits vorhandenen Alternativen. […]
Das Bundesverwaltungsgericht hat darüber hinaus die rechtliche Bedeutung des wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens verkannt. Dabei handelt es sich um die höchstmögliche Einstufung im Rahmen der medizinischtherapeutischen Evaluation; ausgehend davon kommt sie nur dann in Betracht, wenn […] bedeutende Verbesserungen gegenüber vorhandenen therapeutischen Alternativen nachweisbar sind, etwa – je nach Art der Erkrankung – der (deutlich raschere und/oder vollständigere) Rückgang der Symptome, die Verlängerung der Überlebensdauer, das Vermeiden bzw. Hinauszögern von Folgeschäden oder das Ausbleiben von schweren Nebenwirkungen; bei chronischen Erkrankungen kann auch eine – eindeutig objektivierbare – erhebliche Verbesserung der Lebensqualität einen wesentlichen therapeutischen Zusatznutzen begründen. Liegen derart gewichtige Vorteile im Vergleich zu den therapeutischen Alternativen nicht vor, kommt die Bejahung eines wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens nicht in Betracht.“
Der Hauptverband hat den sogenannten Erstattungskodex herauszugeben, in den Arzneispezialitäten aufgenommen werden, die von ÄrztInnen auf Kosten der KV verschrieben werden können. Die Entscheidung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme einer Arzneispezialität in den EKO liegt im Ermessen des Hauptverbandes. Dies ergibt sich explizit aus dem Gesetzeswortlaut des § 351d ASVG und wird in der gegenständlichen E vom VwGH bestätigt. Kommt der Hauptverband nach einer ersten Einschätzung zum Ergebnis, dass dem Antrag nicht stattzugeben sein könnte, ist in weiterer Folge gem § 26 Abs 3 VO-EKO die HEK in das Verfahren mit einzubeziehen. Diese hat auf der Grundlage der vorläufigen Feststellung des Hauptverbandes und der Stellungnahme bzw des Gutachtens des antragstellenden Unternehmens eine Empfehlung auszusprechen, ob die Arzneispezialität in den grünen oder in den gelben Bereich übernommen werden oder aus dem roten Bereich des EKO gestrichen werden soll. Der dieser Empfehlung zugrunde liegenden Beurteilung durch die HEK kommt die Beweiskraft eines Sachverständigengutachtens zu, so dass sich Hauptverband bzw BVwG nur dann darüber hinwegsetzen könne, wenn die Beurteilung unschlüssig ist oder durch andere valide Sachverständigengutachten widerlegt wird.
Die Bestimmungen des § 351c Abs 9 Z 1 ASVG, wonach eine Arzneispezialität in den grünen Bereich aufgenommen wird, wenn die HEK in ihrer Empfehlung eine gleiche oder ähnliche therapeutische Wirkung im Vergleich zu bereits im grünen Bereich vorhandenen Arzneispezialitäten festgestellt hat, sind jedoch nicht iS einer Bindung an die HEK, sondern iS einer Festlegung von Kriterien für die Entscheidung über die Aufnahme zu verstehen. Der Hauptverband (in den Grenzen seiner Kognitionsbefugnis auch das BVwG) kann hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung im Rahmen seiner Ermessensentscheidung durchaus zu einem anderen Ergebnis als die HEK kommen.
Im vorliegenden Fall ist die HEK zu der Beurteilung gelangt, dass kein wesentlicher klinisch relevanter Zusatznutzen vorliegt. Der VwGH sieht die Beweiswürdigung des BVwG als nicht schlüssig an, weil die HEK den maßgeblichen Zusatznutzen, der sich aus dem vom vertriebsberechtigten Unternehmen vorgelegten Gutachtens ergibt, widerlegt hat und das BVwG auch nicht darlegt, inwiefern die Empfehlung der HEK mangelhaft wäre.
Der VwGH hält darüber hinaus auch fest, dass das BVwG die rechtliche Bedeutung des wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens verkannt hat. Die höchstmögliche Einstufung nach § 24 Abs 2 Z 6 VO-EKO kommt nur dann in Betracht, wenn bedeutende Verbesserungen gegenüber vorhandenen therapeutischen Alternativen nachweisbar sind. Der VwGH führt dazu auch konkrete Beispiele an. Liegen solche Vorteile jedoch nicht vor, kann von einem wesentlichen Zusatznutzen nicht ausgegangen werden.168