148Selbstständige Prüfung des rechtmäßigen Aufenthalts für den Anspruch auf Ausgleichszulage durch das zuständige Gericht
Selbstständige Prüfung des rechtmäßigen Aufenthalts für den Anspruch auf Ausgleichszulage durch das zuständige Gericht
EU-Pensionisten, die die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaates unangemessen in Anspruch nehmen, haben keinen Anspruch auf dessen Sozialleistungen.
Die Gerichte haben die Befugnis, die Zulässigkeit des Anspruchs auf eine Sozialleistung unabhängig vom Vorliegen einer Aufenthaltsbescheinigung zu prüfen.
Eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats iSd Art 7 Abs 1 lit b und lit c RL 2004/38/EG liegt dem Grunde nach in allen Fällen vor, in denen ökonomisch inaktive Unionsbürger nur zum Zweck eines Leistungsbezugs in den Aufnahmemitgliedstaat kommen.
Der Kl ist 2012 im Alter von knapp 69 Jahren nach Österreich gekommen und lebt seither bei seiner Schwester in Salzburg. Er hat abgesehen von knapp sechs Monaten in den Jahren 1996 und 1997 nie in Österreich gearbeitet und hat keinen österreichischen Pensionsanspruch. Er bezieht eine Rente aus Rumänien (im August 2012 € 79,06 pro Monat) und eine Rente aus Deutschland (im September 2012 € 144,52). Abgesehen von einem Sohn in Rumänien leben alle seine Verwandten in Österreich oder in Deutschland.
Der Kl erlitt in den Jahren 2010 und 2011 zwei Herzinfarkte und einen Schlaganfall, er leidet an Diabetes und an einer Krebserkrankung. Im Frühjahr 2012 übersiedelte er nach Österreich, weil die medizinische Versorgung hier besser ist. Die Kosten der Behandlung in Österreich werden aufgrund der gesetzlichen KV des Kl als Rentner von der rumänischen KV getragen.
Die Schwester des Kl gab im Jahr 2012 der Aufenthaltsbehörde gegenüber eine Garantieerklärung ab und legte hierfür ein Sparbuch über € 5.000,- vor. Der Kl beantragte eine Aufenthaltsbescheinigung für EU-Bürger, die Aufenthaltsbehörde stellte im Juni 2012 eine Anmeldebescheinigung für AN gem § 51 NAG aus.
Ein erster Antrag auf Gewährung der Ausgleichszulage wurde mit Bescheid abgelehnt, der im Juli 2012 rechtskräftig wurde. Der Kl bezog danach Leistungen aus der bedarfsorien-226tierten Mindestsicherung und beantragte nochmals die Ausgleichszulage. Im Rahmen der neuerlichen Antragsprüfung im Winter 2012 teilte die Schwester des Kl der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) mit, dass das Garantie- Sparbuch nicht mehr vorhanden sei, da der Kredit, mit dem die Einlage finanziert wurde, zurückgezahlt worden sei. Die Schwester des Kl gab dennoch eine neuerliche Garantieerklärung ab, um ein in der Zwischenzeit eingeleitetes Ausweisungsverfahren der Fremdenbehörde abzuwenden. Die Fremdenbehörde nahm im April 2013 davon Abstand, die Anmeldebescheinigung vom März 2012 zu widerrufen. Im Mai 2013 teilte die Schwester des Kl dem Sozialamt mit, dass sie nicht genug Geld habe, um den Kl mit ausreichenden Mitteln für die Lebensführung zu versorgen.
Die PVA lehnte auch den zweiten Antrag auf Ausgleichszulage ab, da der Kl keinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich habe und da die Unionsbürgerschaft keinen Anspruch auf Gleichstellung begründe. Gegen diesen Bescheid wurde Klage erhoben.
Das Erstgericht wies die Klage ab. Es stellte fest, dass der Kl zu keinem Zeitpunkt ausreichende Mittel hatte, um ohne Inanspruchnahme von staatlichen Zuwendungen wie Sozialhilfe oder Ausgleichszulage zu überleben. Er habe die Fremdenbehörde getäuscht, die bei Kenntnis der Kreditfinanzierung des Garantiebetrags keine Aufenthaltsbescheinigung ausgestellt hätte. Der EuGH habe es in der Rs Dano vom 11.11.2014, C-333/13, für zulässig erachtet, Unionsbürgern Sozialleistungen zu verwehren, wenn sie von ihrem Freizügigkeitsrecht nur mit dem Ziel Gebrauch machten, um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl keine Folge. Die Anmeldebescheinigung habe rein deklaratorische Wirkung, weshalb das Gericht bei der Beurteilung des Anspruchs von EWR-Bürgern auf Ausgleichszulage grundsätzlich selbstständig zu prüfen habe, ob die für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts notwendigen Voraussetzungen vorlägen. Da der Kl im Alter von 69 als Rentner nach Österreich gekommen sei, sei die Erteilung der Anmeldebescheinigung als AN verfehlt, was dem Gericht die Befugnis zur selbstständigen Prüfung gebe, ob ein rechtmäßiger Aufenthalt iSd § 292 Abs 1 ASVG vorliege. Unter Verweis auf die E des EuGH in der Rs Dano vom 11.11.2014, C-333/13, sei das Vorliegen ausreichender Existenzmittel als Vorfrage zu klären. IS dieser E sei kein rechtmäßiger Aufenthalt gegeben, wenn keine ausreichenden Existenzmittel für die Beanspruchung des Aufenthaltsrechts vorliegen. Dies sei eine klare Absage an die von EuGH in der Rs Brey vom 19.9.2013, C-140/12, vertretene Auffassung, dass wirtschaftlich inaktiven EU-Bürgern ein Anspruch auf Sozialhilfe zustehe, wenn sie diese nicht unangemessen in Anspruch nehmen, selbst wenn sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen. Der Kl nehme aber das System der sozialen Sicherheit in Österreich in Anspruch, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. In diesem Fall sei es zulässig, dem Kl die Ausgleichszulage zu versagen.
Die ordentliche Revision wurde zugelassen, da es keine höchstgerichtliche Rsp zur Auswirkung einer offenkundig verfehlten Anmeldebescheinigung auf ein Verfahren zur Gewährung der Ausgleichszulage gebe.
Der OGH teilte die Rechtsansicht des Berufungsgerichts und gab der Revision des Kl keine Folge.
„3. In den Entscheidungen des EuGH vom 19.9.2012, C-140, Brey (ECLI:EU:C:2013:565), vom 11.11.2014, C-333/13, Dano (ECLI:EUC:2014:2358), vom 15.9.2015, C-67/14, Alimanovic (ECLI:EU:C:2015:597) und vom 25.2.2016, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114) ging es jeweils um die Frage, ob EU-Ausländern existenzsichernde Sozialleistungen unter gleichen Voraussetzungen wie Inländern zu gewähren sind. Der EuGH hat in diesen Entscheidungen ausgesprochen, dass die Einstufung einer Leistung als ‚Beitragsunabhängige Sonderleistung‘ im Sinne des Art 70 Abs 2 lit c der VO (EU) 883/2004 angesichts des unterschiedlichen Regelungszwecks der Rechtsakte nicht ausschließt, dass die Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialleistungen im Sinn der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38 fallen kann und deshalb auch Art 25 der Unionsbürger-RL zur Anwendung kommt […]. Die Unionsbürger-RL erlaubt es dem Aufnahmemitgliedsstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
Diese Möglichkeit zur Einschränkung gilt auch für die österreichische Ausgleichszulage (EuGHC-140/12, Brey [Rz 62]). […]
5. […] (D)er EuGH (räumt) mit der Entscheidung in der Rs Dano dem Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit ein, im Rahmen der Prüfung des Sozialleistungsanspruchs die Erfüllung der Voraussetzungen der Unionsbürger-RL zu prüfen und auf ihrer Grundlage den Sozialleis-227tungsanspruch zu versagen, ohne dass es einer vorherigen Beendigung des Aufenthalts bedürfte […]. Fraglich blieb, ob ein pauschaler Ausschluss von bestimmten Sozialleistungen möglich ist oder ob eine Einzelfallprüfung stattzufinden hat […].
Dabei ist bemerkenswert, dass der EuGH in der Dano-Entscheidung von der Pflicht der Mitgliedstaaten, eine mögliche Belastung ihrer Sozialsysteme insgesamt zu prüfen […], abgegangen ist und unter Bedachtnahme auf Erwägungsgrund 19 der Unionsbürger-RL vom wandernden Unionsbürger fordert, die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedsstaats nicht unangemessen zu belasten (EuGHC-333/13, Dano [Rz 71]). Damit schwenkt der EuGH zu einer konkreten Prüfung der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Betroffenen um […].
In der darauf folgenden Entscheidung in der Rs C-67/14, Alimanovic, ging der EuGH noch einen weiteren Schritt weiter: In Fallgestaltungen, wie in der zu entscheidenden, sei eine individuelle Prüfung gar nicht erforderlich, weil das in der Unionsbürger-RL vorgesehene abgestufte System selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die ihrerseits die persönlichen Umstände der antragstellenden Person widerspiegeln […]. Diese Linie wird im Urteil in der Rs C-299/14, Garcá-Nieto ua, das die Frage der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Unionsbürgern von Leistungen nach SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts betrifft, explizit bestätigt. Sowohl in der Alimanovic-Entscheidung als auch in der García-Nieto-Entscheidung wird die in der Brey-Entscheidung geforderte Rücksichtnahme auf die Belastung der Sozialsysteme ausdrücklich abgelehnt.
6. Im Ergebnis können EU-Bürger, die nicht erwerbstätig sind und nur zum Zweck eines Leistungsbezugs mobil sind, auf der Grundlage von Unionsrecht keine Ansprüche auf Sozialleistungen wie die Ausgleichszulage geltend machen […].
7. Selbst eine Prüfung der besonderen Situation des Klägers würde zu keinem anderen Schluss führen: […] (Der) Kläger (fällt) eindeutig in die Kategorie der Armutszuwanderung; ein Aufenthalt in Österreich ist nur denkbar, wenn er aus öffentlichen Kassen unterstützt wird. Ein Bezug zu einer Erwerbstätigkeit in Österreich fehlt.
8. Da sich eine Anmeldebescheinigung nur auf das Aufenthaltsrecht bezieht, hat ihre (in Übrigen nur deklarativ wirkende) Ausstellung keine Auswirkung auf den Sozialleistungsanspruch […].“
Der OGH legt in dieser E ausführlich dar, wie sich die EuGH-Rsp zum Thema Sozialhilfeleistungen für ökonomisch inaktive EU-Zuwanderer entwickelt hat und was sich nach seiner Auffassung für die österreichische Rechtslage daraus ableiten lässt.
Wie der OGH in seiner Entscheidungsbegründung ausführlich darlegt, setzte sich der EuGH in den drei nachfolgenden Entscheidungen in den Rs Dano (ECLI:EUC:2014:2358), C-67/14, Alimanovic (ECLI:EU:C:2015:597) und C-299/14, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114) ausführlich mit dem Zusammenhang zwischen rechtmäßigem Aufenthalt von Unionsbürgern und dem Begriff der Sozialhilfeleistungen iSd Art 7 Abs 1 lit c Unionsbürger-RL 2004/38/EG im Verhältnis zu den beitragsunabhängigen Sonderleistungen iSd Art 70 VO (EU) 883/2004 auseinander. Das Ergebnis ist, dass beitragsunabhängige Sonderleistungen wie die Ausgleichszulage (vgl Rs Skalka, C-160/02, ECLI:EU:C:2004:269) zugleich Sozialhilfeleistungen iSd Art 7 Unionsbürger-RL sein können (Rs Brey Art 61 und Rs Dano Art 63), und dass solche Leistungen ökonomisch inaktiven EU-Zuwanderern („Sozialtouristen“) verweigert werden können, wenn sie die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats „unangemessen“ in Anspruch nehmen. Aus den Begründungen in der Rs Brey ließ sich ableiten, dass erst eine Gesamtbelastung der Sozialsysteme durch zu viele oder insgesamt zu hohe Sozialhilfeleistungen an ökonomisch inaktive EU-Zuwanderer eine unangemessene Inanspruchnahme herbeiführen würde (Art 72). Der EuGH entwickelte in den Folgeentscheidungen zur Rs Brey den Begriff der „unangemessenen Inanspruchnahme“ aber weiter und verlegt den Schwerpunkt weg von der Gesamtbetrachtung der Belastung von Sozialsystemen hin zu einer konkreten Prüfung von individuellen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt. Der EuGH kommt unter Anwendung des Erwägungsgrundes 10 der Unionsbürger-RL 2004/38/EG zum Ergebnis, dass das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern beschränkt oder aufgehoben werden kann, wenn sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen. In der Rs Dano (Art 71 bis 75) führt der EuGH nochmals ausdrücklich aus, dass auch Unionsbürger ihr Aufenthaltsrecht nicht ausschließlich darauf begründen können, dass sie die „ausreichenden Existenzmittel“ iSd Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL aus den Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats lukrieren. Mitgliedstaaten sind auch auf der Grundlage unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote nicht dazu verpflichtet, ökonomisch inaktiven Unionsbürgern Sozialhilfeleistungen zu gewähren (Rs Dano, Art 65).
Aus der Entwicklung der EuGH-Rsp leitet der OGH ab, dass ein ökonomisch inaktiver Unionsbürger, der wie im vorliegenden Fall nur228 wegen der besseren Gesundheitsversorgung nach Österreich zuwandert und der ansonsten keine Verbindung zu den österreichischen Systemen der sozialen Sicherheit hat, keinen Anspruch auf die Sicherung seines Lebensunterhaltes durch die Ausgleichszulage hat. Der OGH gibt in dieser E den Gerichten auch für Fälle, in denen eine deklarative Aufenthaltsbescheinigung vorliegt, die Prüfungsbefugnis für Ansprüche auf Sozialleistungen. Das ist insofern bemerkenswert als der OGH zuvor noch die Ansicht vertrat, dass die Sozialbehörden an die Entscheidung der Aufenthaltsbehörden gebunden sind und solange Sozialleistungen zu gewähren haben, bis die Aufenthaltsbehörde aufenthaltsbeendende Maß- nahmen setzt (OGH10 ObS 152/13wDRdA 2014/25, 306 [Pfeil]). Die vorliegende E kann daher als Abkehr von dieser Rsp verstanden werden.