2. Symposium des Wiener Arbeitsrechtsforums zum Generalthema „Die Tücken des Bestandschutzes“
2. Symposium des Wiener Arbeitsrechtsforums zum Generalthema „Die Tücken des Bestandschutzes“
Nach einem erfolgreichen ersten Symposium zum Generalthema „EuGH und Arbeitsrecht“ im Jahr 2015 fand am 7.6.2016 das zweite Symposium des Wiener Arbeitsrechtsforums statt.
Dabei wurde das bewährte Konzept der Vorjahrestagung beibehalten. Die ganztägige Veranstaltung widmete sich in fünf Vorträgen praxisrelevanten, wissenschaftlich wertvollen Fragestellungen des nationalen und europäischen Arbeitsrechts. Den rund 80 TeilnehmerInnen wurde im Anschluss an jedes Referat ausreichend Raum für Diskussionsbeiträge geboten.
RA Dr. Alois Obereder nutzte seinen das Symposium einleitenden Vortrag zum Thema „Bestandschutz in Österreich“ zu einer neuartigen Systematisierung der bestehenden Bestandschutznormen und ordnete diese in die Kategorien Rechtswirkungen der Bestandschutznormen (Anfechtungsnormen, prozedurale Normen, Wirksamkeitsvoraussetzungsnormen), Quellen des Bestandschutzes, geschützter Kreis an AN sowie Zweck des Bestandschutzes. In der Folge betonte der Vortragende, dass der Begriff „Anfechtung“ im Hinblick auf § 42 Abs 10 bzw § 45 Abs 6 Wiener VBO 1995 nicht unbedingt als Hinweis auf eine zu erhebende Rechtsgestaltungsklage verstanden werden müsse, sondern auch eine Feststellungsklage auf aufrechten Bestand des Dienstverhältnisses meinen könne.
Darüber hinaus wies Obereder auf die (haftungsrelevante) Regelung des § 7o BEinstG hin, wonach eine klagsweise Bekämpfung mehrfachdiskriminierender Beendigungen in Verbindung mit einer Behinderung iSd § 7f BEinstG die Anführung sämtlicher Diskriminierungstatbestände bereits im (zwingenden) Antrag auf Einleitung eines Schlichtungsverfahrens vor dem Sozialministerium erfordere.
Im Rahmen der Ausführungen zum Bestandschutz „im weiteren Sinne“ beschäftigte sich der Vortragende zudem mit Fragen einer möglichen Anfechtung von Nichtverlängerungserklärungen nach § 27 TAG sowie der (fraglichen, jedoch in Teilen wünschenswerten) Einbeziehung freier DN, leitender Angestellter sowie Organmitglieder im Konzern in den allgemeinen Bestandschutz.
Daran anschließend ging Wilhelm Mestwert, Präsident des deutschen LAG Niedersachsen, der Darstellung der Bestandschutznormen in Deutschland nach, die im Wesentlichen auf Art 12 GG basieren bzw daraus abgeleitet werden.
Mestwert betonte, dass der deutsche allgemeine Bestandschutz auch leitenden Angestellten die Möglichkeit biete, Kündigungen anzufechten. Diese hätten jedoch – im Gegensatz zu sonstigen AN – in der Folge einen unmittelbaren Abfindungsanspruch. Darüber hinaus gelange der allgemeine Bestandschutz erst auf Betriebe mit mehr als zehn AN zur Anwendung. Im Gegensatz zur österreichischen Rechtslage müsse der Betriebsinhaber im abzuhaltenden Kündigungsvorverfahren nach § 102 BetrVG dem BR sämtliche Gründe für die Kündigung offenlegen und könne diese im weiteren Anfechtungsverfahren grundsätzlich nicht mehr ergänzen.
Dieses „Nachschiebeverbot“ erscheint – nach Ansicht des Verfassers – im Hinblick auf die österreichische Rechtslage und die damit einhergehende Eindämmung der derzeit (durch das Nachschieben von Rechtfertigungsgründen) umfassenden Kündigungsanfechtungsverfahren äußerst begrüßenswert. Darüber hinaus werde im deutschen Recht nach dem Vortragenden nicht auf die soziale Notlage bzw Sozialwidrigkeit der Kündigung iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG geachtet. Vielmehr werde der allgemeine Kündigungsschutz als direktes Recht des AN auf Schutz des Arbeitsplatzes bewertet.
Verhaltensbedingte Kündigungen seien möglich, die durchzuführende Prognose beachte jedoch nicht die Arbeitsplatzsuchdauer, sondern die zu erwartende Vertragstreue des AN. Nach dem Vortragenden werfe bei Klagen auf aufrechten Bestand des Arbeitsverhältnisses insb ein allfälliger Weiterbeschäftigungsanspruch des AN nach Ablauf des Kündigungszeitraums Probleme auf. Das BAG (27.2.1985, GS 1/84) statuiere dabei seit jeher eine Interessenabwägungspflicht, wonach bis Erlass eines stattgebenden Urteils die Interessen des AG am Nichtbestehen des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich überwiegen würden und ein AN nur dann weiterbeschäftigt werden könne, wenn die Kündigung offensichtlich rechtsunwirk-59sam sei. Die Interessenlage ändere sich – außer bei erfolgter Nachfolgekündigung – bei klagsstattgebendem Urteil zugunsten des AN. In diesem Falle sei eine Weiterbeschäftigung desselben bis zur rechtskräftigen Entscheidung anzunehmen, wobei es sich dabei um ein prozessrechtliches Beschäftigungsverhältnis, nicht jedoch um ein echtes Arbeitsverhältnis handle.
Univ.-Prof. Hofrat des OGH Dr. Georg Kodek beschäftigte sich in der Folge mit der Einordnung und den Auswirkungen der vorläufigen Vollstreckbarkeitswirkung gem § 61 ASGG, die er in Anlehnung an Gamerith als „quaestio famosa“ des ASGG bezeichnete. Dabei hält Kodek fest, dass – entgegen der Ansicht des OGH, der § 61 ASGG lediglich auf die Vollstreckbarkeitswirkung beschränkt – vom Anwendungsbereich des § 61 ASGG erfasste Urteile ua aufgrund subjektiv-historischer Argumente sofort sämtliche Entscheidungswirkungen entfalten sollten.
In der Folge widmete sich Kodek insb der Frage eines allfälligen Rückforderungsanspruchs bei abändernden Entscheidungen zweiter bzw dritter Instanz. Dabei wies der Vortragende auf OGH vom 1.12.1999, 9 ObA 283/99d, hin, wonach § 61 ASGG keinen endgültigen Entgeltanspruch normiere und das Judikat 33 neu in diesem Fall aufgrund der Unredlichkeit des Besitzes nicht zur Anwendung komme.
Ein Rückforderungsanspruch bestehe vor allem dann, wenn AN nur entlohnt, jedoch nicht weiterbeschäftigt würden; in letzterem Fall stünde AN ein angemessenes Entgelt zu. Nach Kodek sei jedoch zu beachten, dass der AN bereits für seine Arbeitsbereitschaft einen Entgeltanspruch habe und ein verschuldensunabhängiger Schadenersatzanspruch – anders als im Recht der einstweiligen Verfügung – gerade nicht bestehe. Dies spreche eher gegen einen Rückforderungsanspruch des AG. Eine gegenteilige Ansicht führe – gerade entgegen dem Zweck des Bestandschutzes – in Wahrheit dazu, dass AN trotz § 61 ASGG gezwungen wären, ein neues, anderes Arbeitsverhältnis zu suchen, um nicht der Gefahr eines Rückforderungsanspruchs ausgesetzt zu sein. Unter Beachtung der höchstgerichtlichen Auslegung der Regelung sei somit der ursprüngliche Regelungszweck von § 61 ASGG nicht erreicht worden und es müsse – de lege ferenda – an eine Neuregelung der Norm gedacht werden; die rechtspolitischen Ziele könnten nur mit einer Beschäftigungsobliegenheit erreicht werden.
Im Rahmen des ersten Vortrags am Nachmittag beleuchtete Mitglied des VfGH Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek den österreichischen Bestandschutz im Lichte der Grundrechtecharta (GRC). Nach einer ausführlichen Darstellung der GRC bearbeitete der Vortragende insb den für den Bestandschutz wesentlichen Art 30 GRC und warf dabei zwei mögliche (noch offene) Auslegungsarten der Regelung auf: Einerseits könne Art 30 GRC dahingehend verstanden werden, dass dieser (iVm Art 47 GRC) eine umfassende gerichtliche Kontrolle von arbeitgeberseitigen Kündigungen bzw Entlassungen anordne. Andererseits wäre es möglich, Art 30 GRC als Schutz vor „ ungerechtfertigten Entlassungen“ – iS einer autonomen Auslegung als eine Art Sittenwidrigkeitskontrolle – zu verstehen. Würde man Art 30 GRC ein individualrechtliches Verständnis der Grundrechte zugrunde legen, sei nach Holoubek zu hinterfragen, ob eine Ausnahme leitender Angestellter bzw AN in Kleinbetrieben vom allgemeinen Kündigungs- und Entlassungsschutz rechtlich zulässig sei.
Einschränkend wies der Vortragende – neben der Schrankenklausel nach Art 52 Abs 1 GRC – darauf hin, dass Art 30 GRC für reine Inlandssachverhalte keine Relevanz habe; dies mit Ausnahme von harmonisierten Bereichen, also solchen, in denen das Unionsrecht Anwendung finde (zB über Richtlinien). In diesem Zusammenhang ermutigte Holoubek Erstrichter dazu, von sich aus Vorlagefragen an den EuGH zu stellen und verwies auf prominente Entscheidungen, die aus derartigen Vorlagen hervorgingen (zB EuGH 19.11.1991, C-6/90 und C-9/90, Francovich, ECLI:EU:C:1991:428). RechtsvertreterInnen empfahl der Vortragende, in einschlägigen Gerichtsverfahren neben Art 30 GRC insb den allgemeinen (österreichischen) Gleichheitssatz zu bemühen.
Frau Univ.-Ass.in MMag.a Dr.inDiana Niksova (WU Wien) beschäftigte sich im letzten Referat der Tagung mit dem „Bestandschutz bei WanderarbeitnehmerInnen“. Während der OGH anfänglich bei Auslandssachverhalten (also insb solchen, in denen AN für eine Tätigkeit im Ausland angestellt und dort beschäftigt wurden) die Anwendbarkeit des ArbVG anhand des Territorialitätsprinzips anknüpfte, änderte das Höchstgericht seine diesbezügliche Rsp in den Entscheidungen OGH vom 16.9.2011, 9 ObA 65/11s sowie OGH vom 25.11.2014, 8 ObA 34/14d, und geht nunmehr davon aus, dass der allgemeine Kündigungs- und Entlassungsschutz nach Art 8 Rom I-VO iS eines individual-arbeitsrechtlichen Anspruchs anzuknüpfen sei.
Die Vortragende verweist dabei darauf, dass der Bestandschutz in vielen europäischen Staaten individualrechtlich ausgestaltet sei und eine autonome Auslegung des Kündigungsschutzes diese Ansicht unterstütze. Das betriebliche Vorverfahren nach § 105 ArbVG sei gesondert anzuknüpfen, könne jedoch nach Niksova ebenso dem Arbeitsvertragsstatut unterstellt werden. Im Zusammenhang mit der materiellen Anwendbarkeit von60 § 105 ArbVG, insb bezüglich der Grenze an im Betrieb beschäftigten AN, geht die Vortragende davon aus, dass eine Zusammenzählung der im Ausland beschäftigten AN mit jenen des inländischen Betriebs nicht durchgeführt werden könne, da das ArbVG auf einen Betrieb im Inland abstelle.
Bei Entsendungen regle die Entsendungs-RL die Anwendung zahlreicher Regelungen des Empfangsstaates, nicht jedoch jene des Kündigungsschutzes. Bei grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassungen wies Niksova darauf hin, dass der Gesetzgeber in § 10a AÜG bzw § 6 LSDB-G offenbar bewusst den allgemeinen Bestandschutz nicht als anwendbare Rechtsnormen bzw Schutzstandard aufgenommen habe. Der besondere Bestandschutz sei – im Gegensatz zum allgemeinen Bestandschutz – als Eingriffsnorm iSd Art 9 Rom I-VO zu qualifizieren. Zur internationalen Zuständigkeit verwies Niksova darauf, dass der allgemeine Bestandschutz nach höchstgerichtlicher Judikatur (OGH 25.6.2015, 8 ObA 41/15k) als Anspruch aus dem individuellen Arbeitsverhältnis iSd EuGVVO angesehen werde und somit – soweit möglich – ein Gleichlauf zwischen den Regelungen der EuGVVO sowie der Rom I-VO hergestellt werden solle.
Langfassungen sämtlicher Vorträge können dem in Kürze erscheinenden Sammelband Kozak (Hrsg), Die Tücken des Bestandschutzes (2016), entnommen werden, die Vortragsunterlagen stehen unter http://forumarbeitsrecht.at/ zur Verfügung.
Das dritte Symposium des Wiener Arbeitsrechtsforums wird am 8.6.2017 unter dem Generalthema „Globales Arbeiten“ stattfinden.61