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Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (VN-Übereinkommen)

THOMASKALLAB
Art 1 bis 3 RL 2000/78/EG (Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf)

Der Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78 erfasst eine Einschränkung, die ua auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können. Erfasst sind auch die von Unfällen herrührenden Behinderungen.

Zu den Anhaltspunkten dafür, dass eine Einschränkung „langfristig“ ist, gehören ua der Umstand, dass zum Zeitpunkt des angeblich diskriminierenden Geschehnisses ein kurzfristiges Ende der Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen nicht genau absehbar ist, oder der Umstand, dass sich die Arbeitsunfähigkeit bis zur Genesung des Betroffenen noch erheblich hinziehen kann.

SACHVERHALT

Am 17.4.2014 wurde Herr Daouidi von Bootes Plus als Küchenhelfer in einem der Restaurants eines Hotels in Barcelona (Spanien) eingestellt. Zu diesem Zweck schlossen Herr Daouidi und Bootes Plus einen mit erhöhtem Arbeitsanfall im Restaurant begründeten Aushilfsvertrag für eine Dauer von drei Monaten und mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden. Der Vertrag sah eine Probezeit von 30 Tagen vor. Am 1.7.2014 vereinbarten Herr Daouidi und Bootes Plus die Umwandlung dieses Teilzeitarbeitsvertrags in einen Vollzeitarbeitsvertrag über 40 Wochenstunden. Am 15.7.2014 wurde Herrn Daouidis Vertrag um neun Monate bis zum 16.4.2015 verlängert. Der Küchenchef hatte dieser Verlängerung ebenso wie der Überführung des Teilzeitarbeitsvertrags von Herrn Daouidi in einen Vollzeitarbeitsvertrag zugestimmt.

Am 3.10.2014 rutschte Herr Daouidi auf dem Boden der Küche des Restaurants, in dem er arbeitete, aus und zog sich dabei eine Luxation des linken Ellenbogens zu, der eingegipst werden musste. Am selben Tag leitete er das Verfahren zur Anerkennung seiner vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Arbeitsunfalls ein.

Zwei Wochen nach diesem Arbeitsunfall kontaktierte der Küchenchef Herrn Daouidi, um sich nach seinem Gesundheitszustand und der Dauer92 seiner Situation zu erkundigen. Herr Daouidi antwortete ihm, dass er seine Beschäftigung nicht unmittelbar wieder aufnehmen könne.

Am 26.11.2014, als er noch vorübergehend arbeitsunfähig war, erhielt Herr Daouidi von Bootes Plus eine Kündigung wegen Fehlverhaltens mit folgendem Wortlaut:

„Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir beschlossen haben, Ihr Arbeitsverhältnis mit unserem Unternehmen zu beenden und Ihnen mit sofortiger Wirkung zum heutigen Tage zu kündigen. Der Grund für diese Entscheidung ist, dass Sie weder die Erwartungen des Unternehmens erfüllen noch die Leistung erbracht haben, die nach Ansicht des Unternehmens bei der Erfüllung der Ihrem Arbeitsplatz entsprechenden Aufgaben angemessen ist. Der genannte Sachverhalt kann gemäß [dem Arbeitnehmerstatut] zur Kündigung führen.“

Am 23.12.2014 erhob Herr Daouidi beim Juzgado de lo Social n°33 de Barcelona (Arbeitsgericht Nr 33 Barcelona, Spanien) Klage auf Erklärung der Kündigung für nichtig iS von Art 108 Abs 2 des Gesetzes 36/2011. Er machte zum einen geltend, seine Kündigung verletze sein in Art 15 der Verfassung verankertes Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, insb weil der Restaurantleiter ihn aufgefordert habe, seine Arbeit am Wochenende vom 17. bis 19.10.2014 wieder aufzunehmen, wozu er nicht in der Lage gewesen sei. Zum anderen sei die Kündigung diskriminierend, weil ihr wahrer Grund die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit aufgrund seines Arbeitsunfalls sei und er damit namentlich vom Begriff der Behinderung iSd RL 2000/78 und des Urteils vom 11.4.2013, HK Danmark (C 335/11 und C 337/11, EU:C:2013:222), erfasst werde. Hilfsweise begehrte Herr Daouidi, seine Kündigung für „rechtswidrig“ iS von Art 108 Abs 1 des Gesetzes 36/2011 zu erklären.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Juzgado de lo Social n°33 de Barcelona (Arbeitsgericht Nr 33 Barcelona) hat dem Gerichtshof insgesamt fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Gerichtshof erkannte sich allerdings nur für die fünfte Frage zuständig, da die ersten vier Fragen Themen betreffen, die nicht vom Unionsrecht erfasst werden. Die fünfte Frage lautete:

Erfasst der Begriff der unmittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung als Diskriminierungsgrund iSd Art 1 bis 3 der RL 2000/78 die Entscheidung eines AG, einen beruflich bis dahin untadeligen AN allein aufgrund seiner durch einen Arbeitsunfall hervorgerufenen vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit – die von unbestimmter Dauer ist – zu entlassen?

Der EuGH hat auf die fünfte Frage geantwortet, dass die RL 2000/78 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass der Betroffene aufgrund eines Arbeitsunfalls auf unbestimmte Zeit vorübergehend arbeitsunfähig iSd nationalen Rechts ist, für sich allein nicht bedeutet, dass die Einschränkung der Fähigkeit dieser Person als „langfristig“ gemäß der Definition der „Behinderung“ iS dieser RL qualifiziert werden kann.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

[…] Dazu ist daran zu erinnern, dass die Union mit dem Beschluss 2010/48 das VN-Übereinkommen genehmigt hat. Die Bestimmungen dieses Übereinkommens bilden folglich seit dessen Inkrafttreten einen integrierenden Bestandteil der Unionsrechtsordnung […].

Folglich kann das VN-Übereinkommen zur Auslegung dieser Richtlinie herangezogen werden, die nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen auszulegen ist […].

Aus diesem Grund hat der Gerichtshof […] festgestellt, dass der Begriff ‚Behinderung‘ im Sinne der Richtlinie 2000/78 so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können […].

Bringt […] ein Unfall eine Einschränkung mit sich, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und ist diese Einschränkung von langer Dauer, so kann die Einschränkung unter den Begriff ‚Behinderung‘ im Sinne der Richtlinie 2000/78 fallen […].

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Herr Daouidi einen Arbeitsunfall hatte und sich den linken Ellenbogen auskugelte, der eingegipst werden musste. Hierbei handelt es sich um einen grundsätzlich heilbaren körperlichen Zustand.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Ellenbogen von Herrn Daouidi zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Ausgangsverfahren, also etwa sechs Monate nach dem Arbeitsunfall, noch immer eingegipst gewesen sei und Herr Daouidi somit nicht in der Lage gewesen sei, seiner Berufstätigkeit nachzugehen.

Unter diesen Umständen steht fest, dass Herr Daouidi eine Einschränkung seiner Fähigkeit infolge einer physischen Beeinträchtigung erlitt. Daher ist für die Feststellung, ob er als ‚Mensch mit Behinderung‘ im Sinne der Richtlinie 2000/78 angesehen werden und damit in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen kann, zu prüfen, ob diese Einschränkung […]93 ‚langfristig‘ im Sinne der oben […] angeführten Rechtsprechung ist […].

Nach ständiger Rechtsprechung folgt aber aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss […].

Daraus folgt, dass der Umstand, dass Herr Daouidi unter die rechtliche Regelung über die ‚vorübergehende‘ Arbeitsunfähigkeit im Sinne des spanischen Rechts fällt, nicht ausschließen kann, dass die Einschränkung seiner Fähigkeit etwa als ‚langfristig‘ im Sinne der im Licht des VN-Übereinkommens betrachteten Richtlinie 2000/78 eingestuft wird.

Im Übrigen ist die Langfristigkeit der Einschränkung mit Blick auf den Zustand der Arbeitsunfähigkeit als solchen des Betroffenen zum Zeitpunkt der ihn angeblich diskriminierenden Handlung zu prüfen […].

Zum Begriff der Langfristigkeit einer Einschränkung im Kontext des Art. 1 der Richtlinie 2000/78 und des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber Maßnahmen zur Einrichtung des Arbeitsplatzes nach Maßgabe der Behinderung beigemessen hat, zeigt, dass er an Fälle gedacht hat, in denen die Teilhabe am Berufsleben über einen langen Zeitraum eingeschränkt ist […].

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob die Einschränkung der Fähigkeit des Betroffenen ‚langfristig‘ ist oder nicht, denn diese Beurteilung ist vor allem tatsächlicher Natur.

Zu den Anhaltspunkten dafür, dass eine Einschränkung ‚langfristig‘ ist, gehören u. a. der Umstand, dass zum Zeitpunkt des angeblich diskriminierenden Geschehnisses ein kurzfristiges Ende der Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen nicht genau absehbar ist, oder, wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt, der Umstand, dass sich die Arbeitsunfähigkeit bis zur Genesung des Betroffenen noch erheblich hinziehen kann.

Bei der Überprüfung, ob die Einschränkung der Fähigkeit des Betroffenen ‚langfristig‘ ist, muss sich das vorlegende Gericht auf alle ihm bekannten objektiven Gesichtspunkte stützen, insbesondere auf Unterlagen und Bescheinigungen über den Zustand des Betroffenen, die auf aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten beruhen.

Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Einschränkung der Fähigkeit von Herrn Daouidi ‚langfristig‘ ist, ist darauf hinzuweisen, dass eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nur dann in den Schutzbereich der Richtlinie 2000/78 eingreift, wenn sie eine Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie darstellt […].“

ERLÄUTERUNG

Behinderte iSd § 3 BEinstG, die nicht auch als begünstigte Behinderte iSd BEinstG gelten (weniger als 50 % Grad der Behinderung), können gem § 7f BEinstG Kündigungen anfechten oder einer Schadenersatz verlangen, wenn sie auf diskriminierende Weise wegen einer Behinderung gekündigt werden. Als Behinderung iSd § 3 BEinstG ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Von einer nicht bloß vorüberhegenden Beeinträchtigung ist dann auszugehen, wenn die Einschränkung länger als sechs Monate dauert. In der Praxis stellt sich daher immer wieder die Frage, ob Kündigungen während der ersten sechs Monate eines längeren Krankenstandes unter dem Diskriminierungsschutz des BEinstG fallen. Zur Beantwortung dieser Frage bietet diese E des EuGH durchaus Anhaltspunkte, auch wenn jeweils auf die Umstände des Einzelfalles Bedacht zu nehmen ist.

Dass ein AN im Krankenstand (zB gem § 8 AngG oder EFZG) ist, schließt nach Ansicht des EuGH nicht aus, dass die sich daraus ergebende Einschränkung seiner Fähigkeit als „langfristig“ und damit als Behinderung einzustufen ist. Auch durch (Arbeits-)Unfall verursachte Einschränkungen der Fähigkeiten können unter dem Begriff der Behinderung fallen.

Eine Einschränkung ist nach der vorliegenden E des EuGH darüber hinaus immer dann „langfristig“, wenn zum Zeitpunkt des angeblich diskriminierenden Geschehnisses ein kurzfristiges Ende der Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen nicht genau absehbar ist, oder sich die Arbeitsunfähigkeit bis zur Genesung des Betroffenen noch erheblich hinziehen kann. Dabei sind alle objektiven Gesichtspunkte, insb die Unterlagen und Bescheinigungen über den Zustand des Betroffenen, die auf aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten beruhen, sowie die Umstände des Einzelfalles zu beachten. Dazu gehört – wie der EuGH in dieser E festhält – zB auch die Frage, ob zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung für den AG erkennbar war, dass eine langfristige Einschränkung und damit Behinderung vorliegt. Wenn dies für den AG zu diesem Zeitpunkt bereits ersichtlich war (oder sein konnte), ist eine Kündigung, die deswegen ausgesprochen wurde, diskriminierend iSd RL.94

Dies ist schwierig zu beantworten, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung die Arbeitsunfähigkeit erst kurze Zeit andauert. Einen exakten Rahmen bietet auch diese E dafür nicht. Sie gibt aber eine Vorgangsweise vor, die in der Praxis durchaus hilfreich für eine Interpretation sein kann.

Fraglich ist ferner, ob und gegebenenfalls inwieweit der AG verpflichtet ist, sich bei Kündigung wegen Krankenstandes über die voraussichtliche Dauer desselben zu informieren. Meines Erachtens ist aus der Vielzahl der Normen auf den verschiedenen Ebenen (völkerrechtliche Verträge, Richtlinien, einzelstaatliche Gesetze im einfachen aber auch Verfassungsrang) zu schließen, dass dem Schutz Behinderter vor diskriminierender Kündigung in der Rechtsordnung allgemein besondere Bedeutung zukommt. Daraus ergibt sich, dass nicht nur konkretes Wissen um die Langfristigkeit der Einschränkung der Fähigkeiten auf ein diskriminierendes Verhalten schließen lässt. Vielmehr wird der AG zumutbare Nachforschungen (zumindest ein Nachfragen beim betroffenen AN!) anstellen müssen, um mit der zu Gebote stehenden Sicherheit ausschließen zu können, dass eine Behinderung iSd RL vorliegt. Insb, wenn – wie in diesem Fall – der Verdacht naheliegt, dass eine langfristige Arbeitsunfähigkeit gegeben ist, kann mitunter ein einfaches Nachfragen beim betroffenen AN nicht genügen. Dem AG wird es im Zweifel zB zumutbar sein, Zeugen des Vorfalles hinsichtlich der Schwere der Verletzung zu befragen.