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Keine Anwendung des deutschen Mindestlohns bei Taxifahrten aus Österreich zum Flughafen München

WOLFGANGKOZAKELIASFELTEN
Art 8f Rom-I VO; Art 3 Abs 1 RL 96/71/EG; § 20 MiLoG

Der Zweck des deutschen Mindestlohngesetzes, AN vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen, betrifft vorrangig AN, die ständig bzw längerfristig und nicht nur vorübergehend ihre Arbeitstätigkeit in Deutschland verrichten.

SACHVERHALT

Die Mietwagenzentrale der Bekl befindet sich in der Stadt Salzburg, von wo aus der Kl jeweils seinen Dienst begann und beendete. Er holte hauptsächlich Fluggäste des Flughafens München von deren Wohnort in Salzburg und Umgebung ab und brachte sie nach München bzw holte sie am Flughafen ab und brachte diese an ihren österreichischen Wohnort. Ab und zu musste der Kl auch am Flughafenschalter der Bekl in München arbeiten. Der Kl begehrte für seine in Deutschland geleistete Arbeit die Differenz auf den deutschen Mindestlohn. Die Bekl hielt dem entgegen, dass sie auch für Pausenzeiten den österreichischen Lohn weiterzahlte und für diese Zeiten kein Mindestlohn nach dem deutschen MiloG gebühre. Der durchschnittliche Stundenlohn des Kl sei daher tatsächlich nicht unter dem deutschen Mindestlohn von € 8,50 gelegen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

In der Folge wiesen sowohl das Erstgericht als auch das OLG Linz als Berufungsgericht die Klage ab. Der dagegen vom Kl erhobenen ordentlichen Revision wurde vom OGH ebenfalls keine Folge gegeben.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. […] Auf das vorliegende Arbeitsverhältnis [findet] grundsätzlich österreichisches Arbeitsrecht Anwendung […], weil die Arbeitsvertragsparteien keine Rechtswahl vorgenommen haben, der Kläger seine Dienste jeweils von Österreich aus antrat und auch dort beendete und sein Arbeitseinsatz in Deutschland nur vorübergehend war (vgl Erwägungsgrund 36 Rom I VO; EuGH 15.3.2011, C 29/10, Koelzsch, Rn 49 f). […]

[…] Der Kläger beruft sich im Verfahren auch nicht (iSd Art 23 Rom I VO) auf die Anwendung der Richtlinie 96/71/EG des europäischen Parlaments und des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen vom 16. Dezember 1996 (Entsenderichtlinie) und die sich aus deren Art 3 Abs 1 allenfalls ergebende Anwendung des § 20 MiLoG auf das Arbeitsverhältnis. […]

4. Selbst wenn man […] davon ausgeht, dass die §§ 1, 20 MiLoG Eingriffsnormen iSd Art 9 Abs 1 Rom I VO sind, wäre für den Kläger nichts gewonnen.

Die unmittelbare Anwendung von Eingriffsnormen iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO setzt nämlich nach Art 9 Abs 3 Satz 1 Rom I-VO voraus, dass den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, Wirkung verliehen wurde, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. […]

5.2. Bei der Entscheidung, ob den Eingriffsnormen iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden (Art 9 Abs 3 Satz 2 Rom I-VO). […]

5.3. Der deutsche Gesetzgeber wollte, wie aus den Gesetzesmaterialien (BT-Drs 18/1558, 2) hervorgeht, durch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen. Zugleich trage der Mindestlohn dazu bei, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht zu Lasten der Arbeitnehmer durch die Vereinbarung immer niedrigerer Löhne, sondern um die besseren Produkte und Dienstleistungen stattfinde. Das Fehlen eines Mindestlohns könne ein Anreiz sein, einen Lohnunterbietungswettbewerb zwischen den Unternehmen auch zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu führen, weil nicht existenzsichernde Arbeitsentgelte durch staatliche Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ‚aufgestockt‘ werden könnten. Der Mindestlohn schütze damit die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme.96

Der Zweck des deutschen Mindestlohngesetzes, Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen, betrifft vorrangig Arbeitnehmer, die ständig bzw längerfristig und nicht nur vorübergehend ihre Arbeitstätigkeit in Deutschland verrichten. Denn sie kommen nicht unerheblich mit den deutschen Lebenshaltungskosten in Berührung. Dass auch der Kläger, der nur fallweise und kurzfristig mit Arbeitseinsätzen in Deutschland betraut und nach dem österreichischen Kollektivvertrag für das Personenbeförderungsgewerbe mit Pkw entlohnt wurde, einen besonderen Bezug zu den deutschen Lebenshaltungskosten aufwies und einen dazu im Verhältnis unangemessenen Lohn bezog, hat er nicht behauptet.

Berücksichtigt man weiters, dass den vom Arbeitgeber in Österreich – im Gegensatz zu jenen in Deutschland – beschäftigten Taxilenkern […] an Sonderzahlungen eine Urlaubs- und Weihnachtsremuneration zusteht, dann ist auch die Gefahr des Lohndumpings durch österreichische Arbeitgeber in Deutschland nicht evident.

[…] Der Unterschied zwischen dem kollektivvertraglichen Stundenlohn in Österreich und dem deutschen Mindeststundenlohn nach dem MiLoG von 8,50 EUR beläuft sich daher auf 0,36 Cent pro Arbeitsstunde. Der Kläger hätte somit bei Nichtanwendung des deutschen Mindestlohngesetzes für seine festgestellten Arbeitsverrichtungen in Deutschland einen um diesen Betrag geringeren Grundstundenlohn erhalten.

Der Zweck des deutschen Mindestlohns, die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu schützen, kommt im vorliegenden Fall nicht zum Tragen. Der Kläger hat nämlich auch nicht behauptet, am deutschen sozialen Sicherungssystem teilzunehmen.

5.4. Die Folgen der Anwendung des deutschen Mindestlohngesetzes für den beklagten Arbeitgeber mit Sitz in Österreich sind hingegen gravierend. Wird ein Arbeitnehmer vom österreichischen Arbeitgeber, wie im Anlassfall, an einzelnen Tagen und kurzfristig mit der teilweisen Verrichtung von Arbeitstätigkeiten in Deutschland betraut, wird er durch die umfassenden, ihn treffenden Melde und Dokumentationspflichten gemäß §§ 16, 17 MiLoG beschränkt […]. Damit wäre unter Umständen – wie im vorliegenden Fall – jede spontane Tätigkeit der Beklagten in Deutschland (zB eine sofortige Taxifahrt nach Anruf eines Kunden von Salzburg nach München) faktisch unmöglich, [da] […] Arbeitgeber mit Sitz im Ausland nämlich verpflichtet, schon vor Beginn jeder Werk- oder Dienstleistung eine schriftliche Meldung in deutscher Sprache bei der zuständigen Behörde der Zollverwaltung vorzulegen, in der ua Name, Beginn, Dauer und Ort der Beschäftigung zu nennen sind. § 17 Abs 1 MiLoG verpflichtet in bestimmten Fällen ausländische Arbeitgeber – wie auch hier die Beklagte –, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertags aufzuzeichnen und diese Aufzeichnungen mindestens zwei Jahre aufzubewahren. […]

6. Die abschließende Abwägung […] lässt es unter Berücksichtigung von Art und Zweck der Bestimmungen der §§ 1, 20 […] MiLoG […] gerechtfertigt erscheinen, diesen Bestimmungen im vorliegenden Fall keine Wirkung [Anm Bearb: iS einer Eingriffsnorm] […] zu verleihen. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Bestimmungen der §§ 1, 20 MiLoG auf das konkrete im Anlassfall zu beurteilende Arbeitsverhältnis nicht anzuwenden sind. Es bleibt daher nach Art 8 Abs 2 Rom-I dabei, dass der dem Kläger zustehende Lohn nach österreichischem Recht zu beurteilen ist.“

ERLÄUTERUNG

Die vorliegende E betraf einen AN, der sowohl in Österreich als auch in Deutschland tätig war. Den Großteil seiner Arbeitszeit verbrachte er freilich in Österreich. Aus diesem Grund erhielt er vom AG den österreichischen Kollektivvertragslohn und zwar auch für jene Zeiten, in denen er sich in Deutschland (am Flughafen München) aufhielt. Der deutsche Mindestlohn ist allerdings höher. Der AN klagte daher auf Zahlung des deutschen Mindestlohnes für alle Arbeitsleistungen auf deutschem Territorium. Im konkreten Fall ging es daher um die Frage, ob auf das Arbeitsverhältnis ausschließlich österreichisches oder auch deutsches Arbeitsrecht zur Anwendung kommt.

Diese Frage regelt die sogenannte „Rom-I-Verordnung“. Diese sieht vor, dass auf Arbeitsverhältnisse – soweit die Arbeitsvertragsparteien nichts anderes vereinbart haben – das Recht des gewöhnlichen Arbeitsortes zur Anwendung kommt. Da der AN den Großteil seiner Arbeitszeit in Österreich verbracht hat, ist Österreich der gewöhnliche Arbeitsort. Das hat zur Konsequenz, dass österreichisches Arbeitsrecht zur Anwendung kommt, selbst dann, wenn der AN – wie im vorliegenden Fall – vorübergehend Arbeitsleistungen in einem anderen Staat verrichten sollte. Jedoch sieht die Rom-I-VO eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz vor: So genannte „Eingriffsnormen“ können sich auch gegenüber dem Recht des gewöhnlichen Arbeitsortes durchsetzen. Als Eingriffsnormen werden all jene zwingenden Bestimmungen eines Mitgliedstaates bezeichnet, deren Einhaltung als so entscheidend angesehen werden, dass sie ungeachtet der Regeln der Rom-I-VO auf jeden Arbeitsvertrag zur Anwendung kommen, der in ihren Anwendungsbereich fällt.

Der OGH hatte daher zu klären, ob es sich beim deutschen Mindestlohn nach dem MiLoG um eine solche Eingriffsnorm handelt. Das hätte zur Folge gehabt, dass für jene Zeiten, in denen der AN Arbeitsleistungen in Deutschland verrichtet hat,97 tatsächlich der deutsche Mindestlohn und nicht der österreichische Kollektivvertragslohn gebührt. Der OGH hat das allerdings verneint. Ob eine bestimmte ausländische Regelung als „Eingriffsnorm“ zu qualifizieren ist, ist nämlich nach Ansicht des OGH anhand einer Interessenabwägung zu beantworten. Dabei ist das wirtschaftliche Interesse des Unternehmens an der Ausübung seiner regelmäßigen Tätigkeit in Deutschland ohne Anwendung des deutschen Mindestlohns, dem Interesse des deutschen Staates am Mindestlohn und dem Interesse des AN am Erhalt des deutschen Mindestlohns gegenüberzustellen. Der OGH geht davon aus, dass das Interesse des deutschen Staates am Mindestlohn zum einen darin besteht, einen „Lohnunterbietungswettbewerb“ zu verhindern, der auch zu Lasten der Stabilität des deutschen Sozialversicherungssystems ginge. Zum anderen sollen AN vor unangemessen niedrigen Löhnen geschützt werden. Im konkreten Fall besteht aber nach Ansicht des OGH durch die Nichtanwendung des deutschen Mindestlohnes keine Gefahr für das deutsche Sozialversicherungssystem, da der betroffene AN nur vorübergehend und kurzfristig in Deutschland tätig war. Darüber hinaus liegt der österreichische Kollektivvertragslohn nur wenige Cent unter dem deutschen Mindestlohn. Von einem unangemessen niedrigen Lohn könne daher keine Rede sein. Hingegen würde die Anwendbarkeit des deutschen MiLoG das österreichische Unternehmen faktisch daran hindern, spontane Tätigkeiten in Deutschland zu verrichten. Der OGH kam daher zum Ergebnis, dass es sich beim deutschen MiLoG um keine Eingriffsnorm handle, die sich gegenüber dem österreichischen Recht durchsetzt. Der AN habe lediglich Anspruch auf den österreichischen Kollektivvertragslohn und zwar auch für jene Dienste, der er in Deutschland verrichtet hat.

Die vorliegende E ist soweit überblickbar in Arbeitsrechtssachen die erste, die sich mit der Frage der Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen befasst. Da es im Kern um die Auslegung der Rom-I-VO und damit des Unionsrechts geht, wäre auch ein Vorlagebeschluss an den EuGH durchaus zu erwarten gewesen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass dieses Ergebnis dem konkreten Sachverhalt geschuldet ist. In einem anders gelagerten Fall könnte die Interessenabwägung auch zu Lasten des AG ausgehen; vor allem dann, wenn die Differenz zwischen dem österreichischen Kollektivvertragslohn und dem deutschen Mindestlohn größer und die Aufenthaltszeiten in Deutschland länger sein sollten.