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Ablehnung des Antrags auf Arbeitslosengeld bei erst nach Antragstellung erfolgter Rückverlagerung des Wohnsitzes nach Polen

BIRGITSDOUTZ

Steht fest, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der (voll)arbeitslosen Person zum Zeitpunkt des Endes der Beschäftigung auseinandergefallen sind, so kommt es im Fall des Nicht-Grenzgängers darauf an, ob die Person in den Wohnmitgliedstaat „zurückgekehrt“ ist. Verfügt der Antragsteller nicht mehr über einen Wohnsitz in Österreich, so ist mangels aktueller Anknüpfungspunkte in Österreich von einer Rückverlagerung der Interessen in den Wohnmitgliedstaat und somit von der Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats für Leistungen bei Arbeitslosigkeit auszugehen.

SACHVERHALT

Der Arbeitslose ist polnischer Staatsbürger und hat am 14.12.2015 einen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt. Seit 22.6.2011 ist er mit Unterbrechungen regelmäßig in Österreich einer Beschäftigung nachgegangen und hat sich in den Wintermonaten jeweils bis zu acht Wochen arbeitslos gemeldet. Der Beschwerdeführer verfügte seit 9.3.2012 über Wohnsitze in Österreich. Mit 11.7.2016 wurde der letzte Hauptwohnsitz des Beschwerdeführers abgemeldet. Im Zentralen Melderegister scheint diesbezüglich der Vermerk „verzogen nach Polen“ auf.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Arbeitsmarktservice (AMS) hat den Antrag auf Arbeitslosengeld mangels Zuständigkeit abgewiesen und als Begründung angeführt, dass der Wohnort und der Lebensmittelpunkt des Arbeitslosen in Polen liegen würden und somit der Wohnmitgliedstaat Polen zuständig sei. Dagegen brachte der Arbeitslose eine Beschwerde ein und brachte darin vor, dass er in Österreich voll integriert sei und nur alle zwei bis drei Wochen zu seiner Familie nach Polen fahre. Nach negativer Beschwerdevorentscheidung durch das AMS beantragte der Arbeitslose die Vorlage der Beschwerde an das BVwG.

Da beim BVwG zu diesem Zeitpunkt mehr als 100 Verfahren zu Beschwerden gegen Bescheide des AMS anhängig waren, mit denen Anträge auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes gem § 44 AlVG iVm Art 65 Abs 2, 3 und 5 der VO 883/2004 mangels Zuständigkeit zurückgewiesen worden waren, setzte das BVwG das Verfahren vorerst bis zur E des VwGH in einem der zu den Zahlen Ra 2016/08/0047, Ra 2016/08/0046, Ra 2015/08/0141, Ra 2016/08/0053 sowie Ra 2015/08/0140 anhängigen Verfahren aus.

In diesen Verfahren sollte der VwGH die Frage klären, ob für Personen, die keine Grenzgänger iSd Art 1 lit f VO 883/2004 sind und einen Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Österreich haben, die Zuständigkeit für Leistungen aus der AlV des Beschäftigungsstaates oder des Wohnsitzstaates gegeben ist. Der VwGH entschied diese Frage dahingehend, dass ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger, der während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und der (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedsstaat zurückkehrt, sich gem Art 65 Abs 2 dritter Satz der VO 883/2004 der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaats zur Verfügung stellen kann und von diesem Leistungen der AlV beziehen kann (VwGH 2.6.2016, 2016/08/0047).

Nach Vorliegen des VwGH-Erk hat das BVwG die Beschwerde abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung bestätigt.100

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„3.7. […] Im Lichte des festgestellten Sachverhalts ist von einer Rückkehr des Beschwerdeführers iSd Art 65 Abs 2 bzw 5 VO (EG) Nr 883/2004 also von einer Rückverlagerung jener Interessen nach Polen auszugehen, die zuvor mit der Abwanderung und der Aufnahme der Beschäftigung (teilweise) vom Wohnmitgliedstaat in den Beschäftigungsstaat verlagert worden sind, zumal der Beschwerdeführer in Österreich über keinen Wohnsitz mehr verfügt und auch in keinem aufrechten Beschäftigungsverhältnis steht. Es ist mangels aktueller Anknüpfungspunkte in Österreich evident, dass der Beschwerdeführer seine familiären Interessen in Polen jedenfalls mit Eintritt der Arbeitslosigkeit im Dezember 2015 verstärkt wahrnehmen wird (vgl in diesem Zusammenhang ebenfalls VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047). Im konkreten Fall hat sich der Beschwerdeführer zusammengefasst gegen einen Verbleib in Österreich entschieden.

Die im gegenständlichen Fall aufgrund der Eigenschaft des Beschwerdeführers als ‚unechter‘ Grenzgänger ursprünglich beim Beschäftigungsmitgliedstaat Österreich bestandene Zuständigkeit für die Leistungserbringung ist somit auf den Wohnmitgliedstaat übergegangen, sodass der Beschwerdeführer Leistungen nach Maßgabe der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Polen erhält.“

ERLÄUTERUNG

Das BVwG verweist in der E darauf, dass der Arbeitslose sich dafür entschieden hat, in den Wohnmitgliedstaat Polen zurückzukehren, und misst dabei der Tatsache, dass diese Rückkehr erst mehr als sechs Monate nach der Stellung des Antrags auf Arbeitslosengeld erfolgt ist, keinerlei Bedeutung zu. Es begründet seine Entscheidung damit, dass unabhängig vom Zeitpunkt der Aufgabe des Wohnsitzes in Österreich bereits seit dem Verlust des Beschäftigungsverhältnisses in Österreich von einer verstärkten Wahrnehmung der familiären Interessen des Beschwerdeführers in Polen auszugehen sei.

Dieser Auffassung ist das Erk des VwGH vom 4.9.2015, Ra 2015/08/0035, entgegenzuhalten, wonach bei der Beurteilung der Zuständigkeit nicht auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde erster Instanz Bedacht zu nehmen ist. Für die Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle kommt es vielmehr auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Antragstellung an. Bis zur tatsächlichen Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat wäre damit im vorliegenden Fall der Anspruch auf Leistungen aus der österreichischen AlV wohl jedenfalls zu bejahen gewesen.