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Kein Erwerb von Schwerarbeitszeiten während Freistellung als Betriebsrat

ALEXANDERDE BRITO

Für die Beurteilung, ob ein Schwerarbeitsmonat vorliegt, ist auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit abzustellen. Eine Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum einer Freistellung zur Betriebsratsmandatsausübung ist zu verneinen.

Das im § 115 Abs 3 ArbVG festgelegte Diskriminierungsverbot richtet sich nur an den DG. Es wirkt sich nicht auf Schwerarbeitszeiten in der Form aus, dass einem freigestellten Betriebsratsmitglied, das vor seiner Freistellung Schwerarbeit verrichtet hat, auch die Zeiten der Freistellung als Schwerarbeitszeiten zuzurechnen sind.

SACHVERHALT

Die am 14.6.1961 geborene Kl war von 1.10.1996 bis 31.1.2016 als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester im Landespflegezentrum S beschäftigt; von 1.1.2006 bis 31.1.2016 war sie freigestellte Zentralbetriebsratsvorsitzende.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 7.3.2016 hat die bekl Pensionsversicherungsanstalt die im Zeitraum von 1.10.1996 bis 31.12.2005 erworbenen 111 Versicherungsmonate als Schwerarbeitszeiten anerkannt und die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1.1.2006 bis 31.1.2016 abgelehnt. Die Vorinstanzen haben das auf Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1.1.2006 bis 31.1.2016 gerichtete Klagebegehren im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass die Feststellung von Schwerarbeitszeiten die tatsächliche Ausübung von Schwerarbeit voraussetze; das Beschränkungs- und Benachteiligungsverbot des § 115 Abs 3 ArbVG richte sich nur an den AG. Der OGH hält die außerordentliche Revision zu Klärung der Rechtslage für zulässig, aber nicht für berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„4. Die von der Klägerin im Zeitraum von 1. Oktober 1996 bis 31. Dezember 2005 tatsächlich ausgeübte Tätigkeit als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester (DGKS) ist unstrittig als Schwerarbeit im Sinne der Schwerarbeitsverordnung zu qualifizieren. Zu beurteilen ist allein die Frage, ob auch die unmittelbar anschließenden Zeiten der Freistellung für die Betriebsratsmandatsausübung als Schwerarbeitszeiten qualifiziert werden können.

4.1. Die in § 607 Abs 14 ASVG (‚Tätigkeiten […] erbracht wurden‘), § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV (‚Tätigkeiten, die geleistet werden‘) und § 4 SchwerarbeitsV (‚Tätigkeiten […] ausgeübt wurden‘) verwendeten Formulierungen stellen auf die tatsächliche Erbringung von Tätigkeiten unter körperlich oder psychisch besonders belasten-den Bedingungen ab.

4.2. Darauf deutet auch der – wenn auch nicht eindeutig – aus den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 653 BlgNR 22. GP 9) hervorleuchtende Zweck der Regelung hin, wonach die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten jenen Versicherten offen stehen soll, die im Rahmen ihrer Berufstätigkeit tatsächlich besonders belastenden Formen von Schwerarbeit ausgesetzt waren. [...]

4.4. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass zur Beurteilung, ob ein Schwerarbeitsmonat vorliegt, auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit abzustellen ist. Die Klägerin übte während des fraglichen Zeitraums ihre eigentliche Tätigkeit als DGKS nicht aus, sondern war als freigestellte Zentralbetriebsratsvorsitzende tätig. […]

4.6. Aus diesen Gründen ist der Ansicht des Berufungsgerichts zuzustimmen, dass eine Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum einer Freistellung zur Mandatsausübung zu verneinen ist.

5. In der Revision beruft sich die Klägerin in erster Linie auf eine Verletzung des Benachteiligungsverbots nach § 115 Abs 3 ArbVG. [...]102

5.3. Das Oberlandesgericht Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen dehnte die Pflicht zur Gleichbehandlung von (freigestellten) Betriebsratsmitgliedern insofern auf das Leistungsrecht der Sozialversicherung aus, als es aussprach, dass die Zeit, in der ein Versicherter, der in einem erlernten oder angelernten Beruf tätig war und von dieser Arbeitsleistung als Betriebsrat freigestellt wurde, für die Beurteilung des Berufsschutzes mitzuzählen sind (OLG Wien16 R 3/62, SSV 2/17). Die weitere Aussage, dass das freigestellte Betriebsratsmitglied weiterhin Dienstnehmer sei und wegen seiner Betriebsratstätigkeit weder eine dienstrechtliche noch eine sozialversicherungsrechtliche Benachteiligung erleiden dürfe, wurde in einer weiteren Entscheidung obiter wiederholt (OLG Wien31 R 298/81, SSV 21/112).

6. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass sich das Diskriminierungsverbot auch auf Schwerarbeitszeiten in der Form auswirkt, dass einem freigestellten Betriebsratsmitglied, das vor seiner Freistellung Schwerarbeit verrichtet hat, auch die Zeiten der Freistellung als Schwerarbeitszeiten zuzurechnen sind.

6.1. Betrachtet man die Bestimmung des § 115 Abs 3 ArbVG in ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), handelt es sich um eine Regelung des Betriebsverfassungsrechts, die die Beziehungen zwischen Belegschaft und Betriebsinhaber regelt. Dies spricht dafür, dass Adressat des Beschränkungs- und Benachteiligungsverbots der Betriebsinhaber bzw Arbeitgeber ist.

Auch ein Blick auf § 16 Abs 1 Betriebsrätegesetz 1947, der Vorgängerbestimmung des § 115 Abs 3 ArbVG, kann für diese Ansicht ins Treffen geführt werden. § 16 Abs 1 BRG spricht davon, dass der Betriebsinhaber die Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht beschränken oder aus diesem Grund nicht benachteiligen darf.

Obwohl § 115 Abs 3 ArbVG allgemeiner formuliert ist als die Vorgängerbestimmung und den Betriebsinhaber nicht mehr erwähnt, sollten nach den Gesetzesmaterialien zum ArbVG (ErläutRV 840 BlgNR 13. GP 90) die Bestimmungen über die Grundsätze der Mandatsausübung weitgehend dem geltenden Recht entsprechen. Insofern ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber – trotz Änderung der Formulierung in § 115 Abs 3 ArbVG – die Zielrichtung (gegenüber dem Betriebsinhaber und nicht gegenüber Dritten) nicht ausweiten wollte. [...]

6.2. Das Oberlandesgericht Wien hat in der schon genannten Entscheidung 16 R 3/62 (SSV 2/17) ausgesprochen, dass ein Mitglied des Betriebsrats wegen einer Freistellung auch keine sozialversicherungsrechtliche Benachteiligung erleiden dürfe. In dieser Entscheidung wurde die Frage bejaht, ob die Zeit der Freistellung als Ausübung des Berufs, der einen Berufsschutz vermittelte, gerechnet werden könne.

Dieser Standpunkt wurde damit begründet, dass der Gesetzgeber weder angeordnet habe, dass die Tätigkeit eines freigestellten Betriebsrats derjenigen Tätigkeit, von der er freigestellt worden sei, iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG gleichzusetzen sei, noch das Gegenteil angeordnet habe. Daher liege eine Gesetzeslücke vor, die – ausgehend vom erkennbaren Willen des Gesetzgebers – dadurch zu schließen sei, dass die Zeit der Freistellung als Ausübung des Berufs, der einen Berufsschutz vermittelt, zu rechnen sei.

6.3. Darin liegt ein maßgeblicher Unterschied vom hier zu entscheidenden Fall, in dem keine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Wie unter 4.4. zusammenfassend dargestellt wurde, will der Gesetzgeber bei der Beurteilung, ob ein Schwerarbeitsmonat vorliegt, erkennbar auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit abstellen. Wird tatsächlich keine Schwerarbeit geleistet, können auch keine Schwerarbeitszeiten erworben werden.

6.4. Der Klägerin geht es um den Erwerb von Schwerarbeitszeiten durch fiktive Ausübung von Schwerarbeit. Sie wird nicht benachteiligt, wenn der nach dem Gesetz ausschlaggebende Umstand, dass sie die belastende Tätigkeit tatsächlich nicht ausgeübt hat, zur Nichtanrechnung von Schwerarbeitszeiten führt. Im Gegenteil würde sie – wenn sie die belastende Tätigkeit tatsächlich nicht ausüben musste, aber trotzdem die Zeiten der Freistellung als Schwerarbeitszeiten qualifiziert würden – einen nicht zu rechtfertigenden Vorteil aus der Betriebsratsmitgliedschaft ziehen.“

ERLÄUTERUNG

Auch wenn der OGH in der vorliegenden E versucht, einen Unterschied zur E des OLG Wien als seinerzeitigem Höchstgericht in Sozialrechtssachen herauszuarbeiten, stellt diese meiner Ansicht nach eine Änderung der Judikatur dar. Die Rechtsfrage ist bei beiden Entscheidungen im Grunde genommen dieselbe, nämlich geht es in der älteren E (OLG Wien16 R 3/62, SSV 2/17) um die Frage des Berufsschutzes nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG. In dieser Bestimmung wird nach geltender Rechtslage festgelegt, dass Berufsschutz nur vorliegt, wenn „[…] innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag […] in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit […] ausgeübt wurde“. Zum Zeitpunkt der zitierten OLG-E wurde nur darauf abgestellt, ob der Versicherte überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war.

Die Ausübung der Tätigkeit wurde somit damals und wird heute auch bei dieser Bestimmung ausdrücklich als Voraussetzung genannt. Die Entstehung einer Gesetzeslücke wurde vom OLG darin gesehen, dass der Gesetzgeber keine Gleichstellung mit der Tätigkeit, von der der BR freigestellt wurde, vorgenommen hat. Auch bei den Bestimmungen zur Schwerarbeitsregelung ist dies nicht103 der Fall. Warum hier keine Lücke vorliegen soll, wird vom OGH lediglich damit begründet, dass der Gesetzgeber die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit verlangt, was aber bei der Frage des Berufsschutzes ebenso geregelt ist. Dass der derzeitige Gesetzgeber neue Zugänge zu vorzeitigen Alterspensionen restriktiv verstanden haben will, mag eine Tatsache sein, für eine rechtsdogmatische Begründung ist dies jedoch nicht ausreichend.

Die Bestimmungen des § 115 Abs 3 ArbVG, nach dem die Mitglieder des BR in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht beschränkt oder benachteiligt werden dürfen, richten sich eindeutig nur an den DG. Die Frage, ob der Gesetzgeber Nachteile durch die Ausübung eines Betriebsratsmandates mit Freistellung nicht nur dem DG gegenüber, sondern auch in der SV verhindern wollte, wurde bisher nur einmal, und zwar bezüglich der Frage, ob die Zeiten einer Freistellung bei der Beurteilung des Berufsschutzes mitzurechnen sind, vom OLG als damaligem Höchstgericht in Sozialversicherungssachen entschieden. Diese Entscheidung, wonach der DN durch die Betriebsratstätigkeit auch sozialversicherungsrechtlich keine Nachteile erleiden soll und deshalb die Zeit der Freistellung als Ausübung des Berufs, der einen Berufsschutz vermittelte, gerechnet werden müsse, stammt aus dem Jahr 1962; die Aussage, dass das freigestellte Betriebsratsmitglied auch keine sozialversicherungsrechtliche Benachteiligung erleiden solle, wurde in Folge nur einmal vom Höchstgericht zu einer anderen Frage (obiter) wiederholt. Daran ist ersichtlich, dass die Frage der Benachteiligung von freigestellten BetriebsrätInnen in der SV in der Praxis eine eher untergeordnete Bedeutung hat – so stellt sich etwa die Frage der Erhaltung des Berufsschutzes erst dann, wenn freigestellte BetriebsrätInnen einen Antrag auf eine Invaliditäts-/Berufsunfähigkeitspension stellen.

Insgesamt entspricht die nun getroffene E des OGH, dass Zeiten der Freistellung wegen einer Betriebsratstätigkeit nicht als Schwerarbeitsmonate anzurechnen sind, dem Willen des Gesetzgebers, der die Schwerarbeitsregelung nur für eine kleine Gruppe von Versicherten konzipiert hat. In der Tatsache, dass der Gesetzgeber keine Regelung für freigestellte BetriebsrätInnen getroffen hat, sieht der OGH keine Regelungslücke, sondern eine bewusste Entscheidung. Die Brisanz der vorliegenden E liegt freilich darin, dass freigestellten BetriebsrätInnen nun wohl nahezulegen ist, nachzurechnen, wann durch die Ausübung des Mandates der Anspruch auf die Inanspruchnahme der Schwerarbeitspension verloren geht. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass es für BetriebsrätInnen, die bereits Schwerarbeitszeiten erworben haben, uU aus sozialversicherungsrechtlicher Perspektive ratsam sein kann, sich für eine Freistellung gar nicht erst zur Verfügung zu stellen oder aber eine solche vorzeitig zu beenden, um nicht den Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension zu verlieren.