78Hilfe bei einem Unglücksfall
Hilfe bei einem Unglücksfall
Der Unfallversicherungsschutz des § 176 Abs 1 Z 2 ASVG umfasst nicht nur die Rettung eines Menschen aus einem Unglücksfall, sondern auch die Abwehr eines Schadens an Sachgütern anderer Menschen.
In seiner Vormittagspause begab sich der Kl zum nahegelegenen Kaufhaus, um eine Jause zu kaufen und diese am Weg zurück zu seinem Arbeitsplatz zu verzehren. Dort angekommen, entdeckte er zwei ineinander verkeilte Kleintransporter. Von seinem dort anwesenden Bekannten um Hilfe gebeten, half er mit, die Fahrzeuge voneinander zu trennen. Beim Lösen der Verkeilung kam einer der Wägen ins Rollen. Der Kl sprang seitlich vor diesen und versuchte ihn zu halten, kam jedoch zu Fall und wurde vom Wagen überrollt. Dabei wurde er am linken Fuß verletzt und begehrte in weiterer Folge die Anerkennung als Arbeitsunfall und eine Versehrtenrente.
Mit dem angefochtenen Bescheid lehnte die bekl Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) die Anerkennung des Unfalls des Kl als Arbeitsunfall ab, weil ein ursächlicher Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung fehle.
Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrte der Kl neben der Feststellung, dass es sich beim gegenständlichen Unfall um einen Arbeitsunfall handle, die Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß. Der Unfall habe sich während seiner Arbeitszeit auf einem mit seiner Beschäftigung zusammenhängenden Weg iSd § 175 Abs 2 Z 1 und Z 7 ASVG ereignet. Auch handle es sich um einen gem § 176 ASVG den Arbeitsunfällen gleichgestellten Unfall, weil er Hilfe geleistet habe, um weitere Schäden und Gefahren von anderen Beteiligten und Helfern abzuwenden.
Das Erstgericht anerkannte zwar den Weg zur Besorgung einer Jause als Arbeitspause iSd § 175 Abs 2 Z ASVG, lehnte den Versicherungsschutz für den Unfallzeitpunkt aber ab, weil der Kl diesen unfallversicherungsgeschützten Weg aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen habe. Auch der § 176 ASVG sei nicht erfüllt worden.
Das Berufungsgericht teilte die Ansicht des Erstgerichts, ließ die ordentliche Revision aber zu.
Der OGH gab der Revision des Kl Folge und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung an das Erstgericht zurück.
„1. Zu § 175 Abs 1 Z 7 ASVG:
1.1 Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass der Weg des Klägers von seiner Arbeitsstätte zum nahe gelegenen Kaufhaus im Ort zur Besorgung einer Jause während einer Arbeitspause vom Unfallversicherungsschutz gemäß § 175 Abs 1 Z 7 ASVG umfasst war.106
1.3 Das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Versicherungsschutz auf Umwegen (Abwegen) hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab (RIS-Justiz RS0084380 [T8]; 10 ObS 45/14m, SSV-NF 28/26). Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass der Kläger durch seine Entscheidung, bei der Trennung der Kleintransporter zu helfen, den vom Schutzbereich umfassten Teil des Weges zum Kaufhaus im konkreten Fall verlassen hat. […]
1.4 Zutreffend sind die Vorinstanzen daher zu dem Ergebnis gelangt, dass im konkreten Fall kein Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG vorlag.
2. Zu § 176 Abs 1 Z 2 ASVG:
2.1 In § 176 ASVG werden weitere Unfälle bei bestimmten Tätigkeiten den Arbeitsunfällen gemäß § 175 ASVG ‚gleichgestellt‘. Bei diesen Unfällen handelt es sich daher begrifflich um keine dem Schutzbereich des § 175 ASVG unterliegenden Arbeitsunfälle, sodass es auf die betriebliche Tätigkeit des Klägers bzw die Motive für die Unterbrechung seines Weges zum Kaufhaus in diesem Zusammenhang nicht ankommt. Der Versicherungsschutz des § 176 Abs 1 Z 2 ASVG gilt nämlich für gemäß §§ 4 ff ASVG versicherte wie für nicht versicherte Personen in gleicher Weise (Müller in SV-Komm [162. Lfg] § 176 ASVG Rz 3, 72), weil Tätigkeiten, die aus altruistischen Beweggründen im Interesse der Allgemeinheit unternommen werden (Lebensrettung, Hilfeleistung in Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr usw), ganz allgemein in den Unfallversicherungsschutz einbezogen werden sollten (AB 613 7. GP 19 zur Stammfassung des ASVG BGBl 1955/189; RIS-Justiz RS0084062).
2.2.2 […] Nach dieser Bestimmung sind den Arbeitsunfällen [ua] Unfälle gleichgestellt, die sich ereignen bei der Rettung eines Menschen aus tatsächlicher oder vermuteter Lebensgefahr oder dem Versuch einer solchen Rettung (Fallgruppe 1) […] oder bei der Hilfeleistung in sonstigen Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr oder Not (Fallgruppe 4) […] in allen diesen Fällen jedoch nur, wenn der Unglücksfall nicht durch den Retter/die Retterin vorsätzlich herbeigeführt wurde und wenn nicht nach anderen unfallversicherungs- oder unfallfürsorgerechtlichen Bestimmungen ein Leistungsanspruch besteht.
2.3.2 Soweit für die Entscheidung relevant bezog sich die bisherige Rechtsprechung auf Fälle, in denen die Hilfeleistung nach § 176 Abs 1 Z 2 ASVG Menschen galt, und nicht etwa nur Tieren oder Sachen (10 ObS 58/96, SSV-NF 10/32; 10 ObS 191/97d, SSV-NF 11/79; Tomandl in
2.4.2 Der Schutzbereich der Fallgruppe 4 unterscheidet sich von jenem der Fallgruppe 1 dadurch, dass weder eine Lebensgefahr für Menschen vorliegen muss, noch der Versicherungsschutz auf die Abwendung von Gefahren für Menschen beschränkt ist (Müller in SV-Komm [162. Lfg] § 176 Rz 98). Die Fallgruppe 4 stellt ganz allgemein auf die Hilfeleistung in sonstigen (daher nicht bereits von der Fallgruppe 1 erfassten) Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr oder Not ab.
2.5.3 Für das österreichische Recht führt R. Müller (in SV-Komm [162. Lfg] § 176 ASVG Rz 98) aus, dass der Schutzbereich der Fallgruppe 4 in § 176 Abs 1 Z 2 ASVG zweigeteilt sei. Er umfasse Hilfe bei Unglücksfällen (individuelle Betroffenheit) und bei allgemeiner Gefahr oder Not (Betroffenheit der Allgemeinheit). Es gehe dabei entweder um die Beseitigung von Schäden oder um die Abwehr der Gefahr drohender Schäden. Auch R. Müller vertritt die Ansicht, dass die Hilfeleistung zur Sicherung von Sachen geschützt sei, wenn sie im Unglücksfall oder im Katastrophenfall erfolge. Der Begriff des Unglücksfalls durch eine durch einen Vorgang der Außenwelt herbeigeführte Gefahrenlage (Rz 99) setze voraus, dass es sich nicht bloß um Bagatellschäden, sondern um einen nicht unerheblichen tatsächlichen oder drohenden Schaden an einem wichtigen Rechtsgut handeln muss.
2.6 Angewendet auf den vorliegenden Fall ist der Unfallversicherungsschutz gemäß § 176 Abs 1 Z 2 Fallgruppe 4 ASVG für den Kläger zu bejahen.
2.6.3 Gerät ein Kleintransporter auf einer abschüssigen Straße unkontrolliert ins Rollen, so besteht erhebliche Gefahr für Menschen und Sachen (insbesondere auch den rollenden Kleintransporter selbst), wenn dies – wie hier – mitten im verbauten Ortsgebiet […] geschieht. Dieses plötzlich eintretende Ereignis ist daher ein Unglücksfall iSd § 176 Abs 1 Z 2 Fallgruppe 4 ASVG. […]“
Neben der allgemeinen Regelung des § 175 ASVG hat der Gesetzgeber Konstellationen geschaffen, die unabhängig von einer Erwerbstätigkeit vom gesetzlichen Unfallversicherungsschutz umfasst sind. Anlass der gegenständlichen E war eine Handlung aus „altruistischen Beweggründen im Interesse der Allgemeinheit“, die der Gesetzgeber in § 176 Abs 1 Z 2 ASVG dem Arbeitsunfall gleichstellt und somit der gesetzlichen UV unterstellt. Als der Kl verletzt wurde, versuchte er einen rollenden Kastenwagen aufzuhalten. Er tat dies, um eine erhebliche Gefahr für Menschen und Sachen Dritter zu verhindern.
Im konkreten Fall kommen zwei Tatbestände des § 176 Abs 1 Z 2 ASVG in Frage: Fallgruppe 1 erfordert die (versuchte) Rettung eines Menschen aus einer tatsächlichen oder vermuteten Lebensgefahr. Fallgruppe 4 regelt die Hilfeleistung in Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr oder Not.107 Da keine unmittelbare Lebensgefahr für Menschen bestand, kann richtigerweise nur Fallgruppe 4 zur Anwendung kommen. Diese wiederum wird in zwei Gruppen unterteilt. Von einem Unglücksfall wird gesprochen, wenn eine individuelle Person betroffen ist. Allgemeine Gefahr oder Not besteht bei einem Katastrophenereignis. Hier liegt zweifelsfrei Hilfe in einem Unglücksfall vor.
In der bisherigen Rsp zu § 176 Abs 1 Z 2 ASVG Fallgruppe 4 (siehe zB OGH 8.7.1997, 10 ObS 191/97d) ließ der OGH nur dann den Schutz der UV zu, wenn die Hilfe in einem Unglücksfall Menschen und nicht etwa Sachen oder Tieren galt. Mit der vorliegenden E schließt sich der OGH der Argumentation von R. Müller an und geht – mit Hinweis auf die deutsche Rsp und Lehre – von dieser Rsp ab und stellt klar, dass die Hilfe in einem Unglücksfall auch dann von der gesetzlichen UV umfasst ist, wenn sie der Abwehr eines Schadens an Sachgütern anderer Menschen (ausgenommen Bagatellschäden) dient. Insofern wurde damit der gesetzliche Versicherungsschutz auf die Verhinderung von Sachschäden erweitert. Offen bleibt die Frage, ob dies auch für die Rettung von Tieren, die keine Sachen iSd ABGB sind, gelten soll.