111Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines nahen Angehörigen
Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines nahen Angehörigen
Eine erhebliche Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege als Anspruchsvoraussetzung für die Selbstversicherung ist bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 14 Stunden wöchentlich bzw ab 60 Stunden monatlich anzusetzen.
Der Antragsteller auf Selbstversicherung in der PV ist selbstständiger Landwirt und übt eine Angestelltentätigkeit im Ausmaß von 24 Stunden in der Woche aus. Seine Mutter bezieht Pflegegeld der Stufe 3, und er lebt mit ihr im gemeinsamen Haushalt. Er gab an, dass seine Arbeitskraft durch die Pflege erheblich beansprucht werde. Die Selbstversicherung gem § 18b ASVG wegen Pflege eines nahen Angehörigen wurde bewilligt. Als er der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) mitteilte, er werde eine 24-Stunden-Betreuung „besorgen“, kam er der Aufforderung, den Pflegevertrag vorzulegen, nicht nach und legte trotz mehrmaliger Aufforderung auch keinen Nachweis vor, welche Pflegeleistung er selbst erbringe. Die Selbstversicherung wurde mit Bescheid mit 28.2.2013 beendet. Die PVA führte begründend aus, die Arbeitskraft des Mitbeteiligten durch die Pflege nicht erheblich beansprucht werde, so dass die Voraussetzungen für die Selbstversicherung nicht (mehr) gegeben seien.
Auf Grund des dagegen erhobenen Einspruchs, in dem vorgebracht wurde, dass die Mutter inzwischen Pflegegeld der Stufe 5 beziehe und die Pflege zwischen der 24-Stunden-Betreuerin und dem Mitbeteiligten aufgeteilt werde, hob das BVwG (auf das die Zuständigkeit übergegangen ist) den Bescheid der PVA auf und verwies die Sache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung zurück. Die PVA habe genaue Ermittlungen betreffend den Pflegeaufwand zu führen. Es sei möglich und lebensnah, dass der Mitbeteiligte auch neben seiner Erwerbstätigkeit erheblich durch die Pflege beansprucht werde.
Gegen diese E richtet sich die Revision der PVA. Der VwGH hält die Revision für zulässig, weil noch keine Rsp zur Auslegung von § 18b ASVG vorliegt und das BVwG von der Rsp zu § 28 Abs 3 Satz 2 VwGVG abgewichen ist. Der Beschluss des BVwG wird daher aufgehoben und diesem die Entscheidung in der Sache aufgetragen.
„9.1. Was unter einer ‚erheblichen‘ Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege zu verstehen ist, wird vom Gesetzgeber nicht definiert.
Eine (erste) Eingrenzung des Begriffs ergibt sich daraus, dass im § 18b Abs 1 ASVG ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3 nach dem BPGG – was das Vorliegen eines durchschnittlichen Pflegeaufwands von mehr als 120 Stunden monatlich bedeutet – vorausgesetzt wird. Weiters soll laut den Materialien zum 3. Sozialrechts-Änderungsgesetz – 3. SRÄG 2009, BGBl I Nr 84/2009, ErläutRV 197 BlgNR 24. GP 5, mit dem im § 123 Abs 7b ASVG die beitragsfreie Mitversicherung für pflegende Angehörige in der Krankenversicherung ab Vorliegen von Pflegestufe 3 eingeführt wurde, bei einem derartigen Pflegeaufwand bereits von einer ‚ganz überwiegenden‘ Beanspruchung der Arbeitskraft auszugehen sein.
9.2. Da somit der Pflegeaufwand ab der Pflegestufe 3 (also von mehr als 120 Stunden monatlich bzw mehr als 28 Stunden wöchentlich) eine ‚ganz überwiegende‘ Beanspruchung der Arbeitskraft darstellt, ist in einem weiteren Schritt festzulegen, welcher Unterschied zwischen den Begriffen170‚ganz überwiegend‘, ‚überwiegend‘ und ‚erheblich‘ besteht. Dabei kann auf das allgemeine Sprachverständnis abgestellt werden, wonach etwas ‚Erhebliches‘ zwar von einigem Gewicht bzw einiger Bedeutung, aber weniger als etwas ‚Überwiegendes‘ ist, dem ein größeres Gewicht, nämlich ein ‚Übergewicht‘ im Sinn von mehr als der Hälfte zukommt. Etwas ‚Überwiegendes‘ bleibt wiederum hinter etwas ‚ganz Überwiegendem‘ zurück, dem – als Steigerungsform – ein großes Übergewicht im Sinn von weit mehr als der Hälfte zukommt. [...]
10. Was nun das konkrete Ausmaß einer Pflege betrifft, die eine ‚erhebliche‘ Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinn des § 18b Abs 1 ASVG – im Gegensatz zu einer ‚ganz überwiegenden‘ oder (bloß) ‚überwiegenden‘ Beanspruchung – ausmacht, so ist folgende Abgrenzung vorzunehmen:
10.1. Auszugehen ist davon, dass nach dem Willen des Gesetzgebers eine ‚ganz überwiegende‘ Beanspruchung der Arbeitskraft bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand der pflegenden Person von mehr als 120 Stunden monatlich bzw mehr als 28 Stunden wöchentlich vorliegen soll.
Eine (bloß) ‚überwiegende‘ Beanspruchung der Arbeitskraft ist daher – im Hinblick auf die Normalarbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich (§ 3 AZG) und das oben aufgezeigte Begriffsverständnis (wonach ‚überwiegend‘ ein größeres Gewicht im Sinn von mehr als die Hälfte bedeutet) – bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 21 Stunden wöchentlich bzw ab 90 Stunden monatlich (entspricht mehr als der halben Normalarbeitszeit) anzunehmen.
10.2. Eine ‚erhebliche‘ Beanspruchung der Arbeitskraft ist indessen – im Hinblick auf die Normalarbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich und das bereits erörterte Begriffsverständnis, wonach ‚erheblich‘ von einigem Gewicht, aber weniger als ‚überwiegend‘ ist (vgl in dem Sinn auch OGH RIS-Justiz RS0054693 (T2)) – bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 14 Stunden wöchentlich bzw ab 60 Stunden monatlich anzusetzen.
Ein Pflegeaufwand in diesem Umfang ist bereits von einigem Gewicht, entspricht er doch einem erheblichen Anteil (von ungefähr einem Drittel; vgl in dem Sinn den Beschluss des OGH vom 8.7.1999, 8 ObA 274/98x, sowie neuerlich RIS-Justiz RS0054693 (T2)) an der Normalarbeitszeit und auch einem gewichtigen Anteil am gesamten Pflegebedarf (von zumindest Pflegestufe 3). Durch die genannte Stundenanzahl ist einerseits gewährleistet, dass die Selbstversicherung nicht allzu leicht bzw in ausufernder Weise zu Lasten des die Beiträge unbefristet und zur Gänze tragenden Bundes (§ 77 Abs 8 ASVG) beansprucht werden kann. Andererseits ist damit sichergestellt, dass die – auch neben einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit zulässige [...] – Selbstversicherung nicht bloß für Personen eröffnet wird, die ihre bisherige Berufstätigkeit zur Pflege naher Angehöriger überwiegend einschränken oder aufgeben. [...]
11. Was die Ermittlung der – für das Ausmaß der Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinn der obigen Abgrenzung relevanten – Anzahl von Pflegestunden anbelangt, so sind – wie schon das Verwaltungsgericht zutreffend hervorgehoben hat – nur jene Zeiten zu berücksichtigen, in denen tatsächlich notwendige Leistungen der Betreuung und Hilfe erbracht werden. Um welche Verrichtungen es sich dabei handelt und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden ist, ist an Hand der Regelungen des BPGG [...] sowie der dazu ergangenen Einstufungsverordnung [...] zu beurteilen.
Da auf den auch für die Ermittlung des Pflegegelds maßgeblichen Pflegebedarf abzustellen ist, wird als Grundlage für die Beurteilung in der Regel ein bereits im Verfahren über die Zuerkennung oder Neubemessung des Pflegegelds eingeholtes – soweit noch aktuelles bzw sonst entsprechendes – Sachverständigengutachten (§ 8 EinstV) dienen können. Erforderlichenfalls wird ein weiteres Gutachten einzuholen sein. [...]
12.1. Die Inanspruchnahme einer 24-Stunden-Pflege mag ein Indiz für die alleinige Vornahme der notwendigen Pflegeleistungen durch die beigezogene Pflegekraft sein, handelt es sich bei dieser doch in der Regel um eine Fachkraft, welche die erforderliche Pflege rund um die Uhr gewährleisten soll. Es ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, dass trotz Beiziehung einer 24-Stunden-Pflege die nahen Angehörigen womöglich einen Teil der notwendigen Pflegeleistungen verrichten müssen; dafür sind vom Antragsteller besondere Gründe konkret vorzubringen. [...]
12.3. Vorliegend schließt auch der Umstand, dass der Anspruchswerber einer Erwerbstätigkeit als Angestellter im Umfang von 24 Stunden wöchentlich und zusätzlich als selbständiger Landwirt nachgeht, die erhebliche Beanspruchung seiner Arbeitskraft durch eine notwendige Pflege nicht aus. Wie schon aufgezeigt wurde, ist die Selbstversicherung für pflegende Angehörige neben einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit möglich. [...]
13.2. Zu den für kassatorische Entscheidungen nach § 28 Abs 3 Satz 2 VwGVG geltenden Voraussetzungen kann auf das hg Erkenntnis vom 26.6.2014, Ro 2014/03/0063, verwiesen werden (§ 43 Abs 2 VwGG). [...] Dass gegebenenfalls Vernehmungen erforderlich sind, rechtfertigt ebenso wenig die Zurückverweisung, vielmehr sind die Vernehmungen vom Verwaltungsgericht – zweckmäßiger Weise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – durchzuführen. [...]
14.2. Davon ausgehend hat die Revisionswerberin aber bereits umfangreiche Ermittlungen zum maßgeblichen Sachverhalt durchgeführt. Auf der Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse hätte das Verwaltungsgericht zweckmäßiger Weise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung171die notwendigen weiteren Erhebungen zu den vom Mitbeteiligten verrichteten Pflegestunden – soweit erforderlich unter Vernehmung von Beweispersonen und/oder Einholung eines Sachverständigengutachtens – selbst durchführen müssen. [...]“
Für Personen, die einen nahen Angehörigen, der zumindest Pflegegeld der Stufe 3 bezieht, in häuslicher Umgebung unter erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft pflegen, besteht die Möglichkeit der Selbstversicherung in der PV. Die Beiträge dafür werden auf Basis einer monatlichen Beitragsgrundlage von € 1.776,70 (Wert 2017) zur Gänze vom Bund getragen. Anzumerken ist, dass die Pflege in häuslicher Umgebung nicht gleichbedeutend mit „im gemeinsamen“ Haushalt ist. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall ebenso wie der Pflegegeldbezug unstrittig. Die Möglichkeit der Selbstversicherung nach § 18b ASVG wurde mit dem SVÄG 2005 (BGBl I 2005/132) eingeführt. Davor bestand bereits die begünstigte Weiterversicherung bei Pflege eines nahen Angehörigen, die jedoch ein Ausscheiden aus der Pflichtversicherung voraussetzt. Mit der neuen Selbstversicherung sollte ausdrücklich die Möglichkeit einer Versicherung auch neben einer Erwerbstätigkeit eröffnet werden, um damit die sozialrechtliche Absicherung pflegender Angehöriger zu verbessern. Ursprünglich wurde vom Bund nur ein „fiktiver Dienstgeberbeitrag“ getragen, dh der Selbstversicherte hatte auch einen Beitrag zu bezahlen. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass gem § 18a ASVG für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes unter überwiegender (früher gänzlicher) Beanspruchung eine Möglichkeit der Selbstversicherung besteht, bei der die Beiträge vom Familienlastenausgleichsfonds und vom Bund getragen werden. Weiters wird in § 123 Abs 7b ASVG normiert, dass bestimmte Angehörige in der KV mitversichert sind, wenn sie vom Versicherten unter ganz überwiegender Beanspruchung seiner Arbeitskraft gepflegt werden.
Die strittige Frage, was der Gesetzgeber unter „erheblicher“ Beanspruchung verstanden hat, war im vorliegenden Fall vom VwGH zu lösen. Die PVA hatte die Selbstversicherung ursprünglich neben einer bestehenden Erwerbstätigkeit bewilligt; erst mit der Beauftragung einer 24-Stunden-Betreuerin wurden die Voraussetzungen neuerlich geprüft. Allerdings reagierte der Sohn auf mehrere Anfragen der PVA, welche Pflegetätigkeiten in welchem Ausmaß er selbst verrichte, nicht. Dieser Prüfungsaufwand ist nun vom BVwG zu erledigen, eine Zurückverweisung an die PVA ist nicht zulässig.
Klargestellt wird, dass die erhebliche Beanspruchung ab 14 Stunden Zeitaufwand für notwendige Pflegehandlungen in der Woche bzw 60 Stunden im Monat anzunehmen ist. Weder die daneben bestehenden Erwerbstätigkeiten noch die Tatsache, dass eine 24-Stunden-Betreuungskraft vorhanden ist, schließen die Selbstversicherung per se aus. Es sind aber nur jene Zeiten zu berücksichtigen, die tatsächlich notwendige Leistungen der Betreuung und Hilfe betreffen. Welche Leistungen darunter zu verstehen sind, richtet sich nach dem BPGG und der EinstV. Neben den Gutachten aus dem Pflegegeldverfahren kann ein weiteres Gutachten notwendig sein. Darüber hinaus muss das Vorbringen des pflegenden Angehörigen betreffend den Zeitaufwand für die Pflege erörtert werden. Dabei ist nicht auf die pauschalierten Zeitwerte der EinstV zurückzugreifen.
ANMERKUNG DER BEARBEITERIN: Im Erk Ro 2014/08/0082 vom selben Tag bestätigt der VwGH, dass dieselben Grundsätze auch bei einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung gem § 4a BPGG zu gelten haben. In diesem Fall wird ein Pflegegeldbezieher der Stufe 4 (ein Rollstuhlfahrer) von seiner Lebensgefährtin gepflegt, die einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 38,5 Wochenstunden nachgeht. Auch hier sind konkrete Feststellungen betreffend den von der Lebensgefährtin erbrachten notwendigen Pflegeaufwand vom BVwG zu treffen. Eine Reduktion der Arbeitszeit ist nicht zwingend erforderlich, wenn die Arbeitszeiten und/oder Pflegezeiten flexibel gestaltet werden können. |