121

Liechtensteinische Geburtenzulage führt mangels Vergleichbarkeit der Leistung nicht zum Ruhen des Kinderbetreuungsgeldes

MARTINATHOMASBERGER

Da die Geburtenzulage des Fürstentums Lichtenstein keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare ausländische Leistung iSd § 6 Abs 3 KBGG ist, ist sie bei grenzüberschreitenden Sachverhalten trotz einer nachrangigen Leistungszuständigkeit Österreichs nicht auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen.

SACHVERHALT

Die Kl beantragte im Jahr 2015 das Kinderbetreuungsgeld bei der bekl Partei in der Variante 30+6. Sie war vor dem Bezug des Wochengeldes arbeitslos gemeldet. Der Vater des Kindes ist im Fürstentum Liechtenstein beschäftigt, der gemeinsame Wohnsitz der Familie ist in Österreich. Der Vater erhielt von der liechtensteinischen Familienausgleichskasse eine einmalige Geburtszulage in Höhe von 2.300,- CHF.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die bekl Gebietskrankenkasse setzte mit einem Bescheid die Höhe des beantragten Kinderbetreuungsgeldes für mehrere Monate mit € 0,- fest und begründete dies damit, dass die liechtensteinische Geburtszulage eine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung iSd § 6 Abs 3 KBGG und daher auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei.

In der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage beantragte die Kl das Kinderbetreuungsgeld in Höhe von € 14,53 täglich für den gesamten beantragten Zeitraum mit der Begründung, dass die Vergleichbarkeit der liechtensteinischen Geburtszulage und des Kinderbetreuungsgeldes bereits vom OGH (allerdings noch im zeitlichen Geltungsbereich der VO [EWG] 1408/71) verneint worden sei (OGH 27.11.2007, 10 ObS 109/07p).179

Das Erstgericht wies die Klage im Umfang des auf die Auszahlung des ungekürzten Kinderbetreuungsgeldes gerichteten Mehrbegehrens ab und sprach aus, dass die liechtensteinische Geburtszulage jedenfalls auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei, unabhängig davon, ob es sich um vergleichbare oder nicht vergleichbare Familienleistungen handle.

Aufgrund der Berufung der Kl änderte das Berufungsgericht das Ersturteil ab und gab der Klage statt. Zusammengefasst begründete das Berufungsgericht sein Urteil damit, beide Leistungen seien Familienleistungen iSd Art 1 lit z der VO (EU) 883/2004, die aber aus unterschiedlichen Gründen gewährt werden; die liechtensteinische Geburtenbeihilfe gebühre aufgrund der Beschäftigung des Vaters in Liechtenstein, das österreichische Kinderbetreuungsgeld unabhängig von einer Beschäftigung aufgrund des Wohnsitzes der Familie in Österreich. Nach der weiterhin anwendbaren Rsp des EuGH zur VO (EWG) 1408/71 seien die Antikumulierungsbestimmungen des Art 68 Abs 2 VO (EU) 883/2004 einschränkend dahin auszulegen, dass sie das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art voraussetzten. Gleichartigkeit läge nur vor, wenn der Zweck der Leistungen und die Voraussetzungen für ihre Gewährung übereinstimmen. Die von der bekl Partei gewünschte Anwendung der nationalen Ruhens- und Antikumulierungsregel in § 6 Abs 3 KBGG komme wegen des Anwendungsvorrangs der VO (EU) 883/2004 nicht in Betracht.

Der OGH ließ die außerordentliche Revision der bekl GKK zu, weil noch keine E zu einem vergleichbaren Sachverhalt im Anwendungsbereich der VO (EU) 883/2994 ergangen war, sprach aber aus, dass sie nicht berechtigt sei und bestätigte das Urteil des Berufungsgerichts.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 2.1.2. […].

Mittlerweile hat der EuGH in der ebenfalls zur VO (EWG) 1408/71 ergangenen Entscheidung vom 8.5.2014, Rs C-347/12, Wiering, ausdrücklich bestätigt, das bei Berechnung eines im Beschäftigungsstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags nicht sämtlich der Familie nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedsstaats gezahlten Leistungen, sondern nur gleichartige Leistungen als Familienleistungen zu berücksichtigen sind. Damit hat der EuGH die im allgemeinen Teil enthaltene Antikumulierungsvorschrift des Art 12 VO (EWG) 1408/71 […] auch in Bezug auf zwei Ansprüche bei Familienleistungen angewendet (Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 10 VO 88372004 [gemeint wohl: 883/2004], [46. Lfg] Rz 1).

2.2. Dem Standpunkt der Revisionswerberin, die VO 883/2004 stelle – im Gegensatz zur Vorgängerverordnung (EWG) 1408/71 – nicht mehr auf einer Vergleichbarkeit oder Gleichartigkeit der Familienleistungen ab, weil die bisherige Unterscheidung in ‚Familienleistungen‘ und ‚Familienbeihilfen‘ entfallen sei und die VO 883/2004 nur mehr einen (einzigen) Begriff ‚Familienleistungen‘ kenne, ist nicht zu folgen. […]

4.3. Der Begriff ‚vergleichbare ausländische Familienleistungen‘ in § 6 Abs 3 KBGG ist unionsrechtskonform auszulegen.

In den Gesetzesmaterialien zum KBGG wird ausgeführt, dass es für das Ruhen des Kinderbetreuungsgeldes irrelevant sein soll, wie diese Leistungen und [gemeint wohl: in] den jeweiligen Staaten jeweils im Detail ausgestaltet sind oder bezeichnet werden, an welchen Elternteil sie gezahlt werden oder für welches Kind die Leistungen gebühren. Die allgemeine Definition ‚vergleichbare ausländische Familienleistungen‘ sei darauf zurückzuführen, dass Familienleistungen in den einzelnen Staaten unterschiedlichst ausgestaltet sind, aber aus dieser mangelnden Harmonisierung weder Nachteile noch Vorteile gezogen werden sollten (ErläutRV 229 BlgNR 22. GP 5).

4.4. Insoweit den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 229 BlgNR 22. GP 5) weiters zu entnehmen ist, unter den Begriff ‚vergleichbare ausländische Familienleistungen‘ fielen all jene Familienleistungen, die für Kinder unter drei Jahren gebühren und nicht der Familienbeihilfe (bzw. dem Kinderabsetzbetrag oder dem Mehrkindzuschlag) gleichartig sind, hat dies im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden. Da die Gesetzesmaterialien weder das Gesetz selbst sind noch dieses authentisch interpretieren, kann ein Rechtssatz, der ausschließlich in den Gesetzesmaterialien steht, auch nicht im Weg der Auslegung Geltung erlangen (RIS-Justiz RS0008799). Es kann daher dahin gestellt bleiben, ob es durch § 6 Abs 3 KBGG zu einer mit der zitierten Rechtsprechung des EuGH unvereinbaren Einschränkung der nach der VO 883/2004 zustehenden Ansprüche dadurch kommt, dass nach den Gesetzesmaterialien sämtliche – und nicht nur gleichartige – Familienleistungen bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags zu berücksichtigen wären.

4.5. Auch auf die erst künftig (mit 1.3.2017) in Kraft tretende Novellierung des § 6 Abs 3 KBGG mit dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 und die bezughabenden Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 1, 8 f), mit der ‚klargestellt‘ werden soll, dass die liechtensteinische Geburtszulage anzurechnen sei, muss nicht eingegangen werden. In den Gesetzesmaterialien kommt klar zum Ausdruck, dass ‚eine Anpassung der nationalen Anrechnungsbestimmung …‘ erfolgt.

51.1 Zum Einwand, die Nichtanrechnung der Geburtenzulage stelle eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, ist anzuführen, dass Antikumulierungsvorschriften ganz generell als Ausgleich für Vorteile anzusehen sind, die die Unionsverordnungen über die soziale Sicherheit180

den in ihren persönliche Geltungsbereich fallenden Personen dadurch gewähren, dass sie ihnen das Recht geben, die gleichzeitige (koordinierte) Anwendung der Sozialvorschriften mehrerer Mitgliedsstaaten zu verlangen […]. Berücksichtigt der Gesetzgeber in § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl 200/116bei der Ermittlung der Höhe des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld aber nicht sämtliche, sondern nur vergleichbare ausländische Familienleistungen und trägt damit der Rechtsprechung des EuGH Rechnung, ist diese Norm gleichheitsrechtlich unbedenklich. […]“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hatte in 10 ObS 109/07p bereits entschieden, dass die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische Kinderbetreuungsgeld iSd unionsrechtlichen Sozialrechtskoordinierung unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Funktion und Struktur keine gleichartigen Leistungen sind und daher nicht zu wechselseitigen Anrechnungen führen können. Auf den Sachverhalt dieser Vorgängerentscheidung war allerdings die Koordinierungsvorschriften der „alten“ VO (EWG) 1408/71 anzuwenden.

Art 3 lit j der VO (EU) 883/2004 bezieht „Familienleistungen“ in den sachlichen Geltungsbereich der Koordinierungsvorschriften ein und gibt die frühere Unterscheidung von Familienleistungen und Familienbeihilfen in Art 2 lit u der VO (EWG) 1408/71 auf. Als Familienleistungen iSd VO (EU) 883/2004 sind – ungeachtet der Verschiedenartigkeit der nationalen Systeme – alle Geldleistungen zu verstehen, die dem Ausgleich von Familienleistungen dienen und die unabhängig von der Art ihrer Finanzierung an Personen gewährt werden, die die national bestimmten objektiven Kriterien erfüllen (Fuchs, Europäisches Sozialrecht6 [2013] Art 3 VO (EG) 883/2004, Rz 28). Die Vollziehung hatte die Neuformulierung zum Anlass genommen, in einem neu aufgetretenen Sachverhalt mit grenzüberschreitenden Elementen (Beschäftigungsstaat Liechtenstein mit primärer Zuständigkeit, Wohnortstaat Österreich) unter Berufung auf § 6 Abs 3 KBGG die Familienleistung Kinderbetreuungsgeld um den Betrag der liechtensteinischen Geburtszulage zu reduzieren (mit der Begründung, dass der Entfall des Begriffs „Familienbeihilfe“ zu einem Systemwandel geführt habe, welcher der OGH nicht gefolgt ist).

Personen, für die VO (EU) 883/2004 gilt, haben auch für Angehörige, die in einem anderen als dem für die Sozialversicherung primär zuständigen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen, auf die die Bestimmungen dieses Mitgliedstaats anzuwenden sind. Im konkreten Sachverhalt kamen die Regelungen des Fürstentums Liechtenstein als Beschäftigungsstaat zur Anwendung, daher bestand Anspruch auf die liechtensteinische Geburtszulage. Art 11 Abs 3 VO (EU) 883/2004 legt fest, dass für nicht-erwerbstätige Kinder deren Wohnsitzstaat zuständig ist. Aufgrund des Familienwohnsitzes in Österreich bestand daher auch der Anspruch auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld (und die österreichische Familienbeihilfe, die ebenfalls der unionsrechtlichen Koordinierung unterliegt, aber im vorliegenden Sachverhalt nicht mit betroffen war).

Für solche Fälle legt Art 68 VO (EU) 883/2004 Prioritätsregeln für die Gewährung der Familienleistungen fest. Wenn sich die Familienleistungen der vorrangig und nachrangig zuständigen Staaten nach Struktur und Zweck unterscheiden, wie im vorliegenden Fall, erfolgt keine wechselseitige Anrechnung. Der OGH hat im vorliegenden Urteil klar dargelegt, dass § 6 Abs 3 KBGG, der von „gleichartigen Leistungen“ spricht, unionsrechtskonform so auszulegen ist, dass kein Ruhen des Kinderbetreuungsgeldes eintritt, wenn die Familienleistungen aus mehreren Mitgliedstaaten nicht als „gleichartig“ iSd VO anzusehen sind, auch wenn Österreich aufgrund der in Art 68 Abs 1 lit a festgelegten Reihenfolge nachrangig zuständig ist.

Zweifellos sind die in diesem Urteil des OGH enthaltenen Klarstellungen zu begrüßen: Die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische Kinderbetreuungsgeld sind auch im Geltungsbereich der VO (EU) 883/2004 keine gleichartigen Leistungen. Gesetzesmaterialien taugen nicht zur authentischen Interpretation von gesetzlichen Vorschriften und nationales Recht ist unionsrechtskonform auszulegen (auch wenn die Gesetzesmaterialien andere Ansichten enthalten mögen). Dem OGH blieb – wie in der Urteilsbegründung ausführlich dargelegt wurde – keine andere unionsrechtskonforme Möglichkeit als an die EuGH-Rsp zur Gleichartigkeit von Leistungen, vor allem von Familienleistungen, anzuknüpfen. An der Entscheidung ist im Grunde nur bemerkenswert, dass sie überhaupt ergehen musste. Das für die Vollziehung zuständige BMFJ und die in dessen übertragenem Wirkungsbereich tätigen Krankenversicherungsträger hätten auf der Grundlage ergangener Vorentscheidungen bereits klare Grundlagen für eine unionsrechtskonforme (und kundenfreundlichere) Vollzugspraxis gehabt.

ANMERKUNG DER BEARBEITERIN:
In der EUGH-E vom 7.6.2005, Rs C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, die noch zur VO (EWG) 1408/71 ergangen war, hatte der EuGH bereits klargestellt, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine der Sozialrechtskoordinierung unterliegende Familienleistung ist.181