Moderne Lösungen in der Arbeitszeitpolitik

CHARLOTTEREIFF/ADIBUXBAUM (WIEN)
Vor dem Hintergrund der aktuellen Arbeitszeitdebatte lohnt es sich, die Fakten zur Erwerbsarbeitszeit genauer zu analysieren. Das hat nun das WIFO mit der Studie „Österreich 2025: Arbeitszeitverteilung in Österreich. Analyse und Optionen aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ getan. Sie zeigt eine Reihe von Herausforderungen: die Vielfalt der Beschäftigungsformen, die alternsgerechte Erwerbsintegration Älterer und das Ziel der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Um diesen zu begegnen, braucht es eine moderne und progressive Arbeitszeitpolitik.

Die gegenwärtige Arbeitszeit-Diskussion beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit nach betrieblichen Bedürfnissen. Die WIFO-Studie (2/2017) hat einen anderen Fokus: Nämlich darauf, welche Faktoren das Ausmaß der Erwerbsarbeitszeit aus AN-Sicht bestimmen. Dabei wird deutlich, dass nicht nur ökonomische Notwendigkeiten und Einkommenshöhe, sondern auch die Verteilung der Betreuungsarbeit, gesellschaftliche Normvorstellungen und individuelle Präferenzen wichtig sind.

1.
Perspektiven auf Arbeitszeit

Führt man sich die Einflussfaktoren auf das Ausmaß von Erwerbsarbeitszeit vor Augen, entsteht ein Bild von vielen verschiedenen Perspektiven194und Interessen. Diese haben Einfluss auf die Regulierung von Arbeitszeit. Deren Ausgleich ist also zentral für eine legislative Reform. In Anlehnung an die WIFO-Studie kann man die verschiedenen Interessen wie folgt darstellen:

1.1.
Politik
  • Gesundheit der Beschäftigten

  • Wertschöpfungspotenziale nutzen

  • Geschlechtergerechtigkeit

  • Wettbewerbsfähigkeit

  • Vereinbarkeit von Beruf und Familie

1.2.
Beschäftigte
  • Planbarkeit zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit

  • Einkommen und soziale Sicherheit

  • Gesundheit

  • Weiterbildung

1.3.
Unternehmen
  • Flexibilisierung (Kosteneinsparung, Wettbewerbsfähigkeit)

  • Produktivität

  • MitarbeiterInnemotivation

1.4.
KonsumentInnen
  • Dienstleistungsgedanke (Service- und Öffnungszeiten)

2.
Status quo der Arbeitszeitverteilung in Österreich

Stünden bei einer evidenzbasierten, europäischen Standortdebatte nur der Arbeitseinsatz und die Leistungsbereitschaft im Fokus, so käme man nur schwer an den vorteilhaften Eigenschaften der AN in Österreich vorbei.

AN in Österreich mit Vollzeitanstellung liegen mit 41,5 Stunden Arbeitsleistung pro Woche (2015) im europäischen Vergleich nur hinter Großbritannien und Zypern, und Mehr- bzw Überstunden sind ein fixer Bestandteil der betrieblichen Realität. Alleine 2015 wurden 253 Mio Mehr- und Überstunden geleistet. Ausgehend davon, dass die überwiegende Zahl der Überstunden innerhalb des gesetzlichen Rahmens geleistet wird, bedeutet die Forderung der Wirtschaft (zehn Stunden tägliche Normalarbeitszeit, zwölf Stunden tägliche Höchstarbeitszeit, 60 Stunden Wochenarbeitszeit, zwei Jahre Durchrechnung), dass Überstundenzuschläge entfallen könnten und 1,5 Mrd € für die AN auf dem Spiel stehen.

Im Bereich der Arbeitsorganisation bzw der Unternehmenskultur dürften sich in den letzten Jahren Standards und Normen verfestigt haben, die eher als „gleichstellungsfeindlich“ zu bewerten sind: Während 9 von 10 Männern in einem Vollzeitjob arbeiten und damit implizit eine „Vollzeit-Norm“ für Männer besteht, bei der mitunter auch überlange Arbeitszeiten anfallen, scheint sich bei Frauen ein Trend Richtung (unfreiwilliger) Teilzeitbeschäftigung mit vielen Nachteilen (oft unzureichende soziale Absicherung, Abhängigkeiten im Haushaltsverbund, eingeschränkte Karrierepfade etc) etabliert zu haben.

In der laufenden Debatte über Arbeitszeitflexibilisierung wird seitens der Interessenvertretungen der Unternehmen vorrangig darauf abgezielt, den rechtlichen Rahmen in Österreich zu diskreditieren und mit dem Verweis auf vermeintlich starre Arbeitszeitregelungen – die heimische Unternehmen vor kaum bewältigbare Aufgaben stellen würden – argumentiert. Diese Feststellung entspricht allerdings nicht der Realität, wenn man die gesetzlichen und kollektivvertraglichen Möglichkeiten zur Arbeitszeitgestaltung auswertet.

3.
Optionen für eine moderne Arbeitszeitpolitik

Schon jetzt gibt es eine Fülle von Regelungen und Instrumenten aus unterschiedlichen Politikbereichen, die die Erwerbsarbeitszeit beeinflussen. Das sind nicht nur arbeitsvertragsrechtliche Instrumente, wie All-in-Vereinbarungen, und steuer- und sozialrechtliche Regelungen, wie etwa die Geringfügigkeitsgrenze und die steuerliche Behandlung von Überstunden, sondern auch familienpolitische Arbeitszeitoptionen, wie Elternteilzeit und Pflegekarenz, sowie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, wie die Altersteilzeit und Bildungsteilzeit (vgl WIFO 2017, 64). Diese Maßnahmen spiegeln nicht nur die Fülle an politischen Handlungsfeldern, sondern auch die wechselnden Zeitpräferenzen von AN wider. Die Erkenntnis, dass moderne Arbeitszeitpolitik diese Präferenzen in die Gestaltung von Arbeitszeit und von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einbeziehen muss, ist zentral.

In der WIFO-Studie kristallisieren sich zwei wesentliche Faktoren moderner Arbeitszeitpolitik heraus, nämlich die Berücksichtigung von Lebensphasen und die Gleichstellungsorientierung.

3.1.
Orientierung an den Lebensphasen der Menschen

Erwerbsarbeitszeit ist nur ein Teil unseres Zeitbudgets, das wir je nach Lebensphase unterschiedlich gewichten. Neben Kindern und Familie spielen dabei auch Freiwilligenarbeit, politisches Engagement oder Freizeitaktivitäten eine wichtige Rolle. Durch Änderungen in Familienmodellen, Alterung der Erwerbsbevölkerung oder195durch die zunehmende Bedeutung von Weiterbildung zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit erscheint es immer wichtiger, den unterschiedlichen Lebensphasen auch in der Arbeitszeitpolitik Rechnung zu tragen (vgl WIFO 2017, 61 f):

Beispiele für Möglichkeiten, die Arbeitszeit an Lebensphasen anzupassen:

  • Bildungskarenz und Bildungsteilzeit,

  • Fachkräfte- und Selbsterhalterstipendium,

  • Elternteilzeit,

  • Pflegekarenz und Pflegeteilzeit,

  • Altersteilzeit,

  • Wiedereingliederung nach langem Krankenstand,

  • Freizeitoptionen in Kollektivverträgen.

Die bestehenden Möglichkeiten, die Arbeitszeit an Lebensphasen anzupassen, sind in Österreich bisher auf verschiedene Weise limitiert. So haben einige Maßnahmen nur einen zeitlich sehr eingeschränkten Umfang, sind nicht über Rechtsanspruch zugänglich, nicht existenzsichernd sowie nur in bestimmten Branchen vorhanden oder es gibt schlicht entgegengesetzte Arbeitszeitnormvorstellungen und/oder Informationsmangel über gegebene Optionen. Lebensphasenorientierung als Maxime würde für eine Reform der Arbeitszeit bedeuten, „sich ändernden Arbeitszeitpräferenzen und Arbeitszeitvermögen im Lebensverlauf“ anzupassen und „Optionen für eine temporäre Freistellung oder Arbeitszeitreduktion zu bieten“ (WIFO 2017, 98). In der Studie wird als ein Reformansatz, um dem gerecht zu werden, die rechtliche Verankerung von Wahlarbeitszeit mit einer Vorlaufzeit von drei Monaten diskutiert. Abgesehen von einem Beispiel aus der betrieblichen Praxis (vgl WIFO 2017, 70) sind die Rahmenbedingungen für eine etwaige Umsetzung – beispielsweise innerhalb eines Wochenstundenkorridors – noch weitgehend unklar. Als Horizont zur Orientierung kann Wahlarbeitszeit aber jedenfalls dienen.

3.2.
Soziale Sicherheit für beide Geschlechter durch gerechte Arbeitszeitverteilung

Die Autorinnen der WIFO-Studie betonen einen wichtigen Aspekt: Lebensphasenorientierung kann nicht per se auch als Instrument der Gleichstellung betrachtet werden. So steht sie beispielsweise insofern der Gleichstellung entgegen, als es hauptsächlich Frauen sind, die in bestimmten Lebensphasen ihre Arbeitszeit reduzieren (vgl WIFO 2017, 97). Und im Gegensatz zu den limitierten Möglichkeiten, Arbeitszeit nach den Lebensphasen zu gestalten, gibt es hinsichtlich Gleichstellung von Männern und Frauen noch viel weniger tatsächlich vorhandene Optionen und Anreize. Um die bestehende geschlechtsspezifische Aufteilung von Erwerbsarbeitszeit und Betreuungspflichten zu verändern, sind jedoch einige Ansätze denkbar, die zum Teil auch in der Studie angesprochen werden (vgl WIFO 2017, 72 ff):

  • Einschränkung des maximalen Kinderbetreuungsgeld-Bezugszeitraums,

  • Ausweitung der exklusiven Kinderbetreuungsgeld-Bezugszeiten von Männern,

  • steuerliche Anreize für Paare, die die Arbeitszeit zur Kinderbetreuung gleichermaßen reduzieren,

  • Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz,

  • Kinderbetreuungsangebot, das mit den generellen Erwerbsarbeitszeiten kompatibel ist,

  • andere finanzielle Anreize zur Inanspruchnahme von Elternteilzeit,

  • Anregungen aus der deutschen Diskussion über Familienarbeitszeit,

  • Recht auf Aufstockung der Arbeitszeit bei Teilzeitbeschäftigung,

  • Einkommenstransparenz,

  • Verteilung von Überstundenaufkommen.

Die Autorinnen weisen zu Recht darauf hin, dass Arbeitszeitpolitik nicht nur durch rechtliche Rahmenbedingungen, sondern auch zu einem großen Teil von sozialen Normen beeinflusst wird. Diese können nicht durchgesetzt werden, sondern entwickeln sich zeitversetzt dadurch, dass eine Mehrheit der Bevölkerung bestimmte Optionen akzeptiert und lebt (vgl WIFO 2017, 63). Es wäre erstrebenswert, wenn sich Überstunden nicht mehr an der „Bruchlinie“ Geschlecht differenzieren, sondern nach Lebensphasen. Oder wenn es einfach selbstverständlich wäre, dass Männer und Frauen sich die Karenz gleich aufteilen (können). Das wäre für Unternehmen und AN eine sinnvolle und moderne Arbeitszeitgestaltung.

4.
Fazit

Sollte sich die Wirtschaftsseite aufgrund der aufrechten Machtasymmetrie, die zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit besonders eklatant ist, im Diskurs um den 12-Stunden-Arbeitstag durchsetzen – dh, ua weitgehender Entfall von Zuschlägen bis zu 1,5 Mrd € pro Jahr, weniger Zeitautonomie der AN uvm –, würden sich die geschlechtsspezifischen, ungleichen „Norm-Arbeitszeitprofile“ zunehmend verfestigen. Mit der damit verbundenen verschärften Polarisierung der Arbeitszeitverteilung geht letztendlich auch ein Auseinanderdriften von Einkommen und Lebensrealitäten einher.

Der bewusste Bruch mit den dominanten, sozialen und betrieblichen Mustern wäre nicht nur hinsichtlich der gegebenen, geschlechterspezifischen Ungleichheit der Arbeitszeitverteilung wünschenswert, sondern würde dem Arbeitsmarkt insgesamt – insb älteren AN – zugutekommen und implizit auch einen wesentlichen, positiven Beitrag für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft leisten.196