Däubler (Hrsg)Tarifvertragsgesetz mit Arbeitnehmer-Entsendegesetz

4. Auflage, Nomos Verlag, Baden-Baden 2016 1.916 Seiten, gebunden, € 183,–

MARTINRISAK (WIEN)

Mit der Neuauflage des von Däubler, emeritierter Professor an der Universität Bremen, herausgegebenen Kommentars zum deutschen Tarifvertragsgesetz (TVG) liegt eines der Standardwerke zu diesem Rechtsbereich wieder grundlegend aktualisiert vor. Dies war nicht zuletzt deshalb erforderlich, da 2014 durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz nicht nur ein gesetzliches Mindestentgelt durch das Mindestlohngesetz (MiLoG) eingeführt, sondern flankierend dazu auch Maßnahmen getroffen wurden, die die Regulierungsmacht der Tarifvertragsparteien gestärkt haben. Dies betrifft insb die erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung in § 5 TVG (insb den Entfall des 50 %-Quorums, dh dass tarifgebundene AG nicht weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden AN beschäftigen) und die erleichterte Erstreckung von Mindestlohntarifverträgen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG).

Diese Regelungen zeigen plastisch, dass es wesentliche Unterschiede hinsichtlich des Kollektivvertragsrechts (in deutscher Diktion: des Tarifvertragsrechts) zwischen Deutschland und Österreich gibt. Dies betrifft auf AG-Seite das Fehlen gesetzlicher kollektivvertragsfähiger Interessenvertretungen mit Pflichtmitgliedschaft und auf AN-Seite das Fehlen der AußenseiterInnenwirkung, wie sie in § 12 ArbVG angeordnet ist. Daraus ergibt sich eine Kollektivvertragsunterworfenheit von 57 % in Deutschland (2015 laut WSI-Tarifarchiv), während diese in Österreich 98 % beträgt. Dies kann nicht in erster Linie durch den unterschiedlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad (laut European Trade Union Institute [ETUI] 2015 in Deutschland 18 % und in Österreich 28 %) zurückgeführt werden, sondern auf die unterschiedlichen rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Weitere wichtige Unterschiede sind, dass es in Deutschland kein formelles Zuerkennungsverfahren hinsichtlich der Tarifvertragsfähigkeit gibt und dass AG kraft Gesetzes auch einzeln tariffähig sind, was Firmenkollektivverträge ermöglicht. Diesen unterliegen immerhin 9 % der in Deutschland tätigen AN.

Hinsichtlich der Überarbeitungen des hier zu rezensierenden Kommentars ist besonders der ausgeweitete Anhang 1 zu § 5 TVG zu erwähnen, wo auf knapp 70 Seiten von Lakies auf die staatliche Vergütungskontrolle und insb auf das MiLoG eingegangen wird. Dieses ist bekanntlich eines der Kernstücke des Koalitionsübereinkommens zwischen CDU/CSU und SPD, womit auf den Rückgang der Tarifbindung und die Ausweitung des Niedriglohnsektors reagiert werden sollte. Aus österreichischer Sicht ist dieses Thema auch insofern interessant, weil das Anfang 2017 aktualisierte österreichische Regierungsübereinkommen auch ein ähnliches Projekt enthält. Im ersten Halbjahr 2017 soll ein gesetzlicher Vorschlag zur Umsetzung eines flächendeckenden Mindestlohnes von € 1.500,– vorbereitet werden, der im dritten Quartal 2017 in dem Fall beschlossen werden soll, dass sich keine gemeinsame Lösung mit den SozialpartnerInnen abzeichnet. Dabei wird wohl das deutsche MiLoG nicht unbeachtet bleiben; der TVG-Kommentar bietet auch in dieser Hinsicht einen guten Einstieg in die Materie.

Ein zweiter interessanter Aspekt, hinsichtlich dessen das TVG aus österreichischer Sicht Beachtung verdient, ist die in § 12a TVG vorgesehene Möglichkeit, dass Tarifverträge auch für arbeitnehmerInnenähnliche Personen abgeschlossen werden können. Dies ist in Österreich abseits der Gesamtverträge für ständig freie MitarbeiterInnen nach § 17 JournG nicht möglich, wurde aber immer wieder gefordert (so insb Mosler, Anwendung des kollektiven Arbeitsrechts auf arbeitnehmerähnlich beschäftigte Selbständige?DRdA 2012, 100; ders, Ist das ArbVG noch aktuell?DRdA 2014, 511 und Risak, Kollektive Rechtssetzung auch für Nicht-Arbeitnehmer?ZAS 2002, 16). Diese Forderung erscheint deshalb als aktuell, da im Gefolge der Digitalisierung mit einer weiteren Zunahme an Kleinstselbständigen zu rechnen ist und diese ähnlich AN wegen des bestehenden Machtungleichgewichts gegenüber ihren VertragspartnerInnen oft nicht in der Lage sein werden, angemessenes Entgelt und sonstige Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Es liegt daher nahe, diesen ebenfalls die Möglichkeit zu geben, sich zu solidarisieren und durch gemeinsames Auftreten und kollektive Verhandlungen diese Situation auszu-324gleichen. Das deutsche Beispiel zeigt jedoch, dass auch dort diese – seit mehr als 40 Jahren bestehende – Möglichkeit bislang nur wenig genützt wurde und von den 44 registrierten Tarifverträgen für arbeitnehmerInnenähnliche Personen 40 Firmentarifverträge in Rundfunk und Fernsehen sind. Nur vier weitere Tarifverträge sind klassische Verbandstarifverträge und zwar aus der Branche der GrafikdesignerInnen und aus der Branche der Zeitungsverlage (so Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Weissbuch Arbeiten 4.0 [2016] 174). Damit hat sich eigentlich lediglich im Medienbereich der Tarifvertrag als Mittel zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen arbeitnehmerInnenähnlicher Personen durchgesetzt (so auch Reinecke/Rachor in ihrer Kommentierung zu § 12a Rz 9 ff). Europarechtlich ist diese Regelung wohl nicht ganz unproblematisch, da ein Zusammenschluss von Selbständigen, die Absprachen treffen, nicht unter einem bestimmten Preis anzubieten, als „Preiskartell für Arbeit“ angesehen und im Widerstreit mit dem Kartellverbot in Art 101 AEUV gesehen werden könnte. Der EuGH hat dazu bekanntlich in der Rs FNV Kunsten (EuGH 4.12.2014, C-413/13, DRdA 2016/18 [Grillberger]) Stellung genommen, wobei die Reichweite der Entscheidung nicht ganz klar ist. Reinecke/Rachor (§ 12a Rz 14) gehören zu den zurückhaltenderen Stimmen, die den vom EuGH neu eingeführten Begriff der „Scheinselbständigen“ nicht mit dem der arbeitnehmerInnenähnlichen Person in § 12a TVG als deckungsgleich sehen bzw diesen jedenfalls als unionsrechtskonform einstufen.

Diese Beispiele haben gezeigt, dass eine Befassung mit dem deutschen TVG aus österreichischer Perspektive durchaus lohnenswert sein kann. Dabei kann der von Däubler herausgegebene Kommentar einen wirklich guten Einstieg bieten, da er nicht nur eine rechtsdogmatische Bearbeitung der einzelnen Bestimmungen des TVG (samt relevanten Nebengesetzen) bietet, sondern diese darüber hinaus – und das ist gerade für den Rechtsvergleich von besonderer Bedeutung – kontextualisiert und insb auch über Entstehungsgeschichte und Praxis informiert. Deshalb ist vor allem rechtsvergleichend tätigen österreichischen ArbeitsrechtlerInnen dieser Kommentar wärmstens zu empfehlen.