11Referenzlohnsystem des KVAÜ: Höhere Entlohnung überlassener Arbeitskräfte im Vergleich zu Stammarbeitnehmern des Beschäftigerbetriebs nicht ausgeschlossen
Referenzlohnsystem des KVAÜ: Höhere Entlohnung überlassener Arbeitskräfte im Vergleich zu Stammarbeitnehmern des Beschäftigerbetriebs nicht ausgeschlossen
Eine BV, mit der der Lohnverlust nach einer kollektivvertraglichen Anhebung der Normalarbeitszeit (bei gleichbleibendem Kollektivvertragslohn) ausgeglichen wird, stellt eine Vereinbarung über die „betriebsübliche Lohnhöhe“ iS von Abschnitt IX Pkt 3 KVAÜ dar, weil damit eine (schematische) Besserstellung der Stammbelegschaft gegenüber der kollektivvertraglichen Entlohnung erfolgt.
Durch die Referenzlohnregelung in Abschnitt IX/3 KVAÜ wird keine Gleichstellung mit den AN des konkreten Beschäftigerbetriebs erreicht, sondern nur eine pauschale Annäherung an die branchenüblichen Löhne. Dass es dabei zu Über- oder Unterschreitungen der Ist-Löhne im Beschäftigerbetrieb kommt, wurde von den Kollektivvertragsparteien in Kauf genommen.
Die beiden Kl sind bzw waren bei einem Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen beschäftigt, auf ihre Arbeitsverhältnisse sind die Bestimmungen des KollV für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ) anwendbar. Beim Beschäftigerbetrieb handelt es sich unstrittig um einen Betrieb, der einem der in Abschnitt IX/4 KVAÜ genannten Referenz-Verbänden angehört. Bei Überlassung in einen solchen Betrieb ist das ansonsten am kollektivvertraglichen Mindestlohn orientierte Überlassungsentgelt gem Abschnitt IX/3 KVAÜ durch einen sogenannten Referenzzuschlag zu erhöhen. Wird die betriebsübliche Lohnhöhe in einem solchen Betrieb durch BV oder sonstige schriftliche Vereinbarung zwischen Beschäftiger und Beschäftiger-BR geregelt, so kommen höhere Referenzzuschläge zur Anwendung.
Die Kl erhielten während ihrer Tätigkeit den nicht erhöhten Referenzzuschlag von 6 % für angelernte Arbeiterinnen. Ab 1.4.2012 wurde die wöchentliche Normalarbeitszeit in dem für den Beschäftigerbetrieb geltenden KollV bei gleichbleibendem Kollektivvertragslohn von 37 auf 38,5 Stunden angehoben. Um den damit verbundenen Lohnverlust auszugleichen, wurde im Beschäftigerbetrieb eine BV abgeschlossen, wonach die wöchentliche Mehrarbeitszeit von 1,5 Stunden mit dem gleichen Stundenlohn wie bisher abzugelten ist, sodass für die Arbeitszeiterhöhung im Ergebnis voller Lohnausgleich gewährt wird.
Unter Berufung auf Abschnitt IX/3 KVAÜ begehrten die Kl die Differenz zwischen dem bezahlten Referenzzuschlag von 6 % und dem erhöhten Referenzzuschlag von 11 %. Die Bekl bestritt einerseits das Vorliegen einer innerbetrieblichen Regelung über das Lohnschema, da die BV nur die Erhöhung der wöchentlichen Normalarbeitszeit von 37 auf 38,5 Stunden betreffe, und wendete andererseits ein, dass die Kl bereits durch den Referenzzuschlag von 6 % höher entlohnt würden als vergleichbare Stamm-AN des Beschäftigers. Ein Referenzzuschlag von 11 % würde zu einer sachlich nicht begründbaren Überzahlung der Leih-AN führen und sei verfassungs- und unionswidrig.17
Die Unterinstanzen gaben der Klage statt. Die Revision an den OGH wurde zugelassen, da der OGH zur Erhöhung des Referenzzuschlags nach Abschnitt IX/3 KVAÜ noch nicht Stellung genommen habe. Der OGH wies die Revision der Bekl ab.
„Die Revision verweist darauf, dass mit der verfahrensgegenständlichen Betriebsvereinbarung nur ein Ausgleich für den mit der kollektivvertraglichen Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 37 Stunden auf 38,5 Stunden verbundenen realen Verschlechterung in der Entlohnung der Stammbelegschaft erreicht werden sollte. Richtig haben aber die Vorinstanzen darauf hingewiesen, dass sich gerade aus dieser generellen, im Kollektivvertrag nicht vorgesehenen Abgeltung der Mehrarbeit eine (schematische) Erhöhung des Grundlohns gegenüber den kollektivverträglichen Löhnen ergibt. […]
Die Beklagte macht weiters geltend, dass schon durch den einfachen Referenzzuschlag die überlassenen Arbeitskräfte höher entlohnt werden als die Stammarbeiter und diese Differenz durch den erhöhten Referenzzuschlag weiter vergrößert wird.
Allerdings ist im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung grundsätzlich keine gänzliche Harmonisierung des Lohnniveaus zwischen Überlasser und Beschäftiger vorgesehen. Das im Beschäftigerbetrieb bestehende Lohnniveau (betriebliche Ist-Löhne) wird nicht geschützt. Für Hochlohnbranchen, in denen die Kollektivvertragslöhne in der betrieblichen Praxis (erheblich) überzahlt werden, erfolgt nach Abschnitt IX/3 des KVAÜ eine pauschale Annäherung an dieses branchenübliche Ist-Lohn-Niveau durch die Regelung über erhöhte Überlassungslöhne in Form prozentueller Referenzzuschläge (vgl 9 ObA 111/07z mwN). Unter Verweis auf Schindler (Arbeitskräfteüberlassungs-KollV) wurde in 9 ObA 130/04i dargelegt, dass mit Abschluss des KVAÜ der gesetzliche Anspruch auf angemessenes und ortsübliches Entgelt entfalle bzw konkretisiere der Kollektivvertrag diese Ansprüche, sodass jede gesonderte Prüfung entfalle. […]
Schindler (aaO 268) verweist darauf, dass es durchaus dazu kommen könne, dass überlassene Arbeitnehmer einen höheren Lohnanspruch haben als im innerbetrieblichen Lohnschema für die Stammarbeiter/-innen vorgesehen sei, ebenso gut könne aber das gegenteilige Ergebnis eintreten. Auch Schrattbauer (DRdA 2014/14) verweist darauf, dass eine völlige Gleichschaltung mit den Ansprüchen vergleichbarer Stammarbeitnehmer mit diesem System nicht beabsichtigt sei. Abweichungen vom Ist-Lohn-Niveau des Beschäftigerbetriebs seien sowohl nach unten als auch nach oben möglich. Die Anpassungsvereinbarung der Kollektivvertragsparteien für den Fall einer erheblichen Änderung des Überzahlungsniveaus unterstreiche diese pauschale Herangehensweise: Eine Änderung der Zuschläge sei nur dann vorgesehen, wenn sich das statistisch erhobene Überzahlungsniveau in den Hochlohnbranchen insgesamt um zumindest 0,5 % verändere. Geringfügigere Änderungen hätten ebensowenig Einfluss auf das zustehende Überlassungsentgelt wie ein Absinken/Ansteigen des tatsächlichen Entgeltniveaus nur in einzelnen Branchen bzw Betrieben.
Soweit Rothe (aaO, Rz 70) eine Auslegung für ,denkbar‘ hält, die eine pauschale Erhöhung der Referenzlöhne nur dort verlange, wo das betriebliche Lohnniveau des Beschäftigers über die einfachen Referenzlöhne hinausgehe, ist ihm nicht zu folgen.
Der Kollektivvertrag sieht eine pauschalierte Betrachtungsweise vor, für deren Begrenzung nur zu Gunsten der Arbeitgeber auch nach dem Sinn und Zweck der Erhöhungsregelung keine Veranlassung besteht. Durch die kollektivvertragliche Regelung wird gerade keine Gleichstellung mit den Arbeitnehmern des konkreten Beschäftigerbetriebs erreicht, sondern nur eine pauschale Annäherung an die branchenüblichen Löhne. Dass es dabei zu Über- oder Unterschreitungen der Ist-Löhne im Beschäftigerbetrieb kommt, wurde von den Kollektivvertragsparteien in Kauf genommen. Die zuvor genannte Bandbreite bei der überkollektivvertraglichen Entlohnung schließt auch eine im Einzelfall höhere Entlohnung gegenüber den Stammarbeitnehmern im Beschäftigerbetrieb nicht aus.
Soweit sich die Beklagte auf die Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit bezieht, ist für sie ebenfalls nichts zu gewinnen. Diese Richtlinie dient nach Art 2 dem Schutz von Leiharbeitnehmern. Im 14. Erwägungsgrund ist festgehalten, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leiharbeitnehmer mindestens denjenigen entsprechen sollen, die für diese Arbeitnehmer gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden. Art 5 Abs 3 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen können, Tarifverträge aufrecht zu erhalten oder abzuschließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen enthalten können. Daraus lässt sich aber nur ableiten, dass Leiharbeitnehmer nicht schlechter gestellt sein sollen als18die Stammbelegschaft. Eine Überzahlung ist dagegen nicht ausgeschlossen.“
Den Entgeltanspruch überlassener Arbeitskräfte regelt § 10 Abs 1 AÜG. Dieser sieht in Umsetzung der Vorgaben des Art 5 der Leiharbeits-RL (RL 2008/104/EG) für die Dauer der Überlassung zwar zunächst eine sehr umfassende Gleichstellung im Bereich des Entgelts vor, da nicht nur auf den vergleichbaren AN des Beschäftigerbetriebs zustehenden kollektivvertraglichen Mindestlohn, sondern auch auf betriebliche Entgeltregelungen abzustellen ist. Unterliegt allerdings der Überlasser einem KollV und ist zugleich auch das Entgelt im Beschäftigerbetrieb durch KollV, Verordnung oder Gesetz geregelt, so entfällt die Verpflichtung zur Berücksichtigung betrieblicher Entgeltregelungen und es bleibt, wie früher, bei der bloßen Orientierung am Mindestlohn des Beschäftiger-KollV. Der Gesetzgeber nützt hier die in Art 5 Abs 3 der Leiharbeits-RL eröffnete Möglichkeit, durch Tarifvertrag unter „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ vom umfassenden Gleichstellungsanspruch abzuweichen.
Da in Österreich über 98 % der Betriebe einem KollV unterliegen, ist daher für das Überlassungsentgelt im Regelfall weiterhin nur der kollektivvertragliche Mindestlohn, nicht aber das Ist-Lohn-Niveau des Beschäftigerbetriebs relevant. Somit kann es in Branchen, in denen der Ist-Lohn üblicherweise deutlich über dem kollektivvertraglichen Mindestlohn liegt, zu durchaus gravierenden Lohnunterschieden zwischen überlassenen AN und Stammarbeitskräften des Beschäftigerbetriebes kommen. Der für überlassene Arbeiter geltende KVAÜ schafft hier durch das System der Referenzzuschläge zumindest in typischen Hochlohnbranchen einen Ausgleich. Es bleibt zwar dabei, dass die konkreten Ist-Löhne im Beschäftigerbetrieb für die Bemessung des Überlassungsentgelts außer Betracht bleiben, doch wird die branchenübliche Überzahlung durch einen prozentuellen Aufschlag auf das kollektivvertragliche Mindestentgelt sozusagen pauschal berücksichtigt. Ein höherer Aufschlag steht dann zu, wenn in einem Referenzbetrieb die Lohnhöhe durch BV oder eine vergleichbare betriebliche Vereinbarung geregelt wird, da dies erfahrungsgemäß einen Hinweis auf eine besonders hohe Überzahlung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne darstellt (vgl Schindler, Arbeitskräfteüberlassungs-KV3 [2017], Abschnitt IX Rz 21).
Im vorliegenden Fall stellt der OGH nun klar, dass es für die Frage des Vorliegens einer solchen, den höheren Referenzzuschlag auslösenden betrieblichen Regelung zur Lohnhöhe nicht auf die Formulierung, sondern allein auf die Intention der Regelung ankommt, eine Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestentgelte herbeizuführen. Dies war bei der BV des Beschäftigerbetriebs, mit der ein im KollV nicht vorgesehener Lohnausgleich für die Erhöhung der kollektivvertraglichen Normalarbeitszeit geschaffen wurde, zweifellos der Fall.
Der konkrete Inhalt der betrieblichen Entgeltregelung, insb aber die Frage, ob mit ihr tatsächlich eine dem erhöhten Referenzzuschlag entsprechende Überzahlung im Beschäftigerbetrieb herbeigeführt wird, ist für die Bemessung des Überlassungsentgelts ohne Bedeutung. Mit der pauschalierenden Regelung des Abschnitt IX/3 KVAÜ werden von den Kollektivvertragsparteien sowohl Über- als auch Unterschreitungen des Ist-Lohnniveaus im Beschäftigerbetrieb in Kauf genommen. Dies entspricht – entgegen der Rechtsansicht der Bekl – durchaus den Vorgaben der Leiharbeits-RL, aus deren Regelungen sich an keiner Stelle die Unzulässigkeit einer Überzahlung von überlassenen Arbeitskräften im Vergleich zu Stamm-AN des Beschäftigerbetriebs ableiten lässt; das Referenzlohnsystem zeigt vielmehr auf vorbildhafte Weise, wie der „Gesamtschutz“ der Leiharbeitskräfte trotz kollektivvertraglicher Abweichung vom umfassenden Gleichstellungsanspruch gem Art 5 Abs 1 der Leiharbeits-RL tatsächlich gewahrt werden kann.