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Stehenlassen von Entgeltforderungen über längeren Zeitraum – keine Bedachtnahme auf hypothetischen Austritt aus dem Arbeitsverhältnis

MARGITMADER
§ 1 Abs 2 Z 1 IESG; § 879 ABGB; Art 3, 4 und 12 der Insolvenz-RL (2008/94/EG)

Ein AN, der trotz Nichtzahlung des Lohns über längere Zeit im Unternehmen tätig bleibt, ohne auch nur ernsthaft zu versuchen, die aushaftenden Beträge einzubringen, bewirkt damit, dass das insoweit atypisch gestaltete Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG fällt und die aus diesem Arbeitsverhältnis resultierenden Ansprüche in vollem Umfang ungesichert sind. Eine Bedachtnahme auf ein hypothetisches Verhalten des AN (nämlich auf einen tatsächlich nicht oder nicht binnen angemessener Frist erklärten Austritt), was zur Folge hätte, dass gerade die ältesten, am wenigsten mit der Sicherung des laufenden Lebensunterhalts zusammenhängenden Rückstände gesichert wären, kommt nicht in Betracht. Diese Überlegungen gelten auch für die beendigungsabhängigen Ansprüche.84

SACHVERHALT

Die Kl war seit 1995 AN einer GmbH. Geschäftsführer der GmbH war der Ehemann der Kl. Die Kl hielt einen Gesellschaftsanteil von 19 % und war zuletzt als einzelvertretungsbefugte Prokuristin im Firmenbuch eingetragen. Mit Beschluss vom 10.9.2012 wurde ein Sanierungsverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet, das nach rechtskräftiger Bestätigung des angenommenen Sanierungsplans am 8.1.2013 aufgehoben wurde. Die offenen Ansprüche der Kl wurden als Insolvenz- Entgelt von der bekl IEF-Service GmbH ausbezahlt. Nach Aufhebung des Sanierungsverfahrens erhielt die Kl ab März 2013 neuerlich kein Gehalt ausbezahlt. Im September 2013 stellte die Gebietskrankenkasse (GKK) einen weiteren Insolvenzantrag. Mit Beschluss vom 11.12.2013 wurde über das Vermögen der GmbH der Konkurs eröffnet. Am 16.12.2013 erklärte die Kl nach erfolgter Schließung des Unternehmens den Austritt aus dem Arbeitsverhältnis.

Die Kl hatte ihre offenen Forderungen davor nur mündlich bei ihrem Ehemann geltend gemacht. Sie hatte Kenntnis darüber, dass auch bei den anderen Mitarbeitern Entgelt aushaftete. Die Mitarbeiter waren laufend über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens informiert worden.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die offenen Ansprüche wurden im Konkursverfahren angemeldet sowie als Insolvenz-Entgelt beantragt und von der IEF-Service GmbH mit der Begründung, die Geltendmachung dieser Ansprüche stelle eine sittenwidrige Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Insolvenz-Entgelt- Fonds dar, zur Gänze abgewiesen.

Die Kl habe gewusst, dass die im August 2013 fällige Quote aus dem Sanierungsverfahren nicht bezahlt werden könne. Spätestens im September 2013 sei klar gewesen, dass eine neuerliche Insolvenz unabwendbar sei. Ein anderer DN hätte unter diesen Umständen schon zu einem früheren Zeitpunkt das Dienstverhältnis beendet. Es liege somit ein atypisches Arbeitsverhältnis vor. Die Geltendmachung der Ansprüche sei daher rechtsmissbräuchlich erfolgt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds sei unzulässig und sittenwidrig, wenn dem AN bewusst sein müsse, dass er sein Entgelt nicht von seinem AG, sondern vom Insolvenz-Entgelt-Fonds bekommen werde, und er deshalb weiterarbeite. Ob aus dem langen Stehenlassen von Entgelten ein bedingter Vorsatz in diesem Sinn erschlossen werden könne, sei im Rahmen des Fremdvergleichs zu beurteilen, bei dem zu prüfen sei, ob unter den konkreten Umständen auch ein unbeteiligter AN im Unternehmen verblieben wäre. Der festgestellte Sachverhalt halte einem solchen Fremdvergleich nicht stand. Die Kl, die jederzeit über die finanzielle Lage des Unternehmens Bescheid gewusst habe, habe damit gerechnet, ihre Ansprüche in dem von ihr ernstlich für möglich gehaltenen Insolvenzfall vom Insolvenz- Entgelt-Fonds zu erhalten, und habe dies billigend in Kauf genommen. Sie habe daher mit zumindest bedingtem Vorsatz versucht, das Finanzierungsrisiko auf den Fonds zu übertragen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl Folge, hob das Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Zwar ging auch das Berufungsgericht vom bedingten Vorsatz der Kl, das Finanzierungsrisiko des AG auf den Insolvenz- Entgelt-Fonds zu überwälzen, aus. Die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens stehe jedoch nicht im Einklang mit der E des EuGH vom 11.9.2003, C-201/01, Walcher. Nach dieser E dürfe ein Mitgliedstaat zur Vermeidung von Missbräuchen Maßnahmen ergreifen, durch die einem AN ein Garantieanspruch für Entgeltforderungen versagt werde, die nach dem Zeitpunkt entstanden seien, zu dem ein AN wegen Vorenthaltens des Entgelts aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre. Es dürfe nicht unterstellt werden, dass ein AN in der Regel aus diesem Grund aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre, bevor die nicht erfüllten Entgeltansprüche einen Zeitraum von drei Monaten erreichen. Das unbezahlte Arbeitsentgelt der Kl habe schon einen Zeitraum von sechs Monaten betroffen, als sie im September 2013 mit der ernsthaften Möglichkeit rechnen musste, dass sie dieses nicht mehr von ihrem AG erhalten werde. Der vom EuGH geforderte dreimonatige Zeitraum stehe daher der Annahme eines fiktiven Austritts eines unbeteiligten AN im September 2013 nicht entgegen. Es komme daher nur ein Entfall der Sicherung für jene Ansprüche in Betracht, die nach dem Zeitpunkt entstanden seien, zu dem ein unbeteiligter AN aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre. Es sei nicht gerechtfertigt, dem AN die Deckung seiner bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Ansprüche zur Gänze zu versagen, wenn er aus einem Arbeitsverhältnis, das nicht von Anfang an atypisch gestaltet war, verspätet ausgetreten sei. Zur Höhe der Beendigungsansprüche seien aber noch Erörterungen und Feststellungen erforderlich.

Der Rekurs an den OGH sei zulässig, weil diese Rechtsauffassung im Widerspruch zu dessen Rsp stehe, nach der bei Bejahung des (bedingten) Vorsatzes zur Risikoüberwälzung auf den Fonds das insoweit atypisch gestaltete Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG falle und eine Bedachtnahme auf ein hypothetisches Ver-85halten des AN (auf einen tatsächlich nicht binnen angemessener Frist erfolgten Austritt) nicht in Betracht komme.

Der OGH ist der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht gefolgt. Dem Rekurs der Bekl wurde stattgegeben.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. Seit Inkrafttreten der IESG-Novelle, BGBl I 142/2000, judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass regelmäßig allein aus der zeitlichen Komponente des ‚Stehenlassens‘ von Entgeltansprüchen nicht darauf geschlossen werden kann, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds überwälzen will (RIS-Justiz RS0119679; RS0116935). Allerdings wird auch für den Anwendungsbereich des § 3a Abs 1 IESG ausgesprochen, dass im Einzelfall dann, wenn zu dem ‚Stehenlassen‘ der Entgeltansprüche weitere Umstände hinzutreten, die konkret auf den Vorsatz des Arbeitnehmers schließen lassen, das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds zu überwälzen, trotzdem die Geltendmachung von Ansprüchen auf Insolvenz-Ausfallgeld missbräuchlich sein kann (RIS-Justiz RS0119679).

Ob aus dem langen Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des ‚Fremdvergleiches‘ zu beurteilen.

Dieser besteht im Wesentlichen darin, dass aus typischerweise bekannten Tatsachen anhand des einem ‚fremden‘ Arbeitnehmer (bei dem also der Interessengegensatz und das Bewusstsein des Risikos des Entgeltverlusts voll ausgeprägt ist) bei den konkreten Umständen zu unterstellenden Verhaltens auf den im Ergebnis relevanten ‚inneren‘ – zumindest bedingten – Vorsatz geschlossen wird. Ergibt sich aus dem Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des Arbeitnehmers widerlegt werden (RIS-Justiz RS0114470).

2. Hier ist das Berufungsgericht aufgrund des von ihm angestellten Fremdvergleichs vom bedingten Vorsatz der Klägerin ausgegangen, das Finanzierungsrisiko betreffend ihre Gehaltszahlungen auf die Beklagte zu überwälzen, weil sie unmittelbar nach dem Sanierungsverfahren und der Finanzierung ihrer damals offenen Gehaltsansprüche durch den Insolvenz-Entgelt-Fonds neuerlich ihre Gehaltsansprüche insgesamt neun Monate lang stehen ließ und weiterarbeitete, statt viel früher – nach Meinung des Berufungsgerichts spätestens im September 2013 – auszutreten. Die Klägerin hat gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts kein Rechtsmittel erhoben, sodass die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, es sei von einer missbräuchlichen Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds auszugehen, nicht mehr Gegenstand des Rekursverfahrens ist. Gegen die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung bestehen im Übrigen aus den schon vom Berufungsgericht angeführten Gründen auch inhaltlich keine Bedenken.

3. Dennoch hält das Berufungsgericht die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens durch das Erstgericht für unrichtig: Sie stehe mit der Richtlinie 80/987/EWG und deren Auslegung durch den EuGH in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 11.9.2003, C-201/01 (Walcher) nicht in Einklang. […] Das Berufungsgericht erkennt aber selbst, dass es mit dieser Rechtsauffassung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht.

4. Nach langjähriger ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat ein Arbeitnehmer, der sich entschließt, trotz Nichtzahlung des Lohns über längere Zeit im Unternehmen tätig zu bleiben, ohne auch nur ernsthaft zu versuchen, die aushaftenden Beträge einzubringen, damit bewirkt, dass das insoweit atypisch gestaltete Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG fällt und die aus diesem Arbeitsverhältnis resultierenden Ansprüche in vollem Umfang ungesichert sind. Eine Bedachtnahme auf ein hypothetisches Verhalten des Arbeitnehmers (nämlich auf einen tatsächlich nicht oder nicht binnen angemessener Frist erklärten Austritt), was zur Folge hätte, dass gerade die ältesten, am wenigsten mit der Sicherung des laufenden Lebensunterhalts zusammenhängenden Rückstände gesichert wären, kommt nicht in Betracht. Diese Überlegungen gelten auch für die beendigungsabhängigen Ansprüche (8 ObS 183/98i; 8 ObS 56/00v; 8 ObS 57/00s; 8 ObS 150/00t; 8 ObS 252/00t; 8 ObS 195/02g; 8 ObS 20/11s uva).

Die Entscheidung C-202/01, Walcher, hat den Obersten Gerichtshof nicht veranlasst, von seiner Rechtsauffassung abzugehen; sie steht der eben wiedergegebenen Rechtsprechung – wie erst vor kurzem zu 8 ObS 6/16i klargestellt wurde – nicht entgegen. In dieser Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof zur Frage Stellung genommen, wann eine missbräuchliche Verhaltensweise zu Lasten der Garantieeinrichtung vorliegt und welche Rechtsfolgen sich daran knüpfen. Auch in dieser Entscheidung ging es um die Problematik des sogenannten ‚Stehenlassens‘ (der Vorenthaltung) des Entgelts ohne Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer. Der Europäische Gerichtshof gelangte zum Ergebnis, dass die (ohne sachlichen Grund erfolgende) Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt hinaus, zu dem der Arbeitnehmer die finanzielle Krise der Gesellschaft erkennen konnte, eine missbräuchliche Verhaltensweise darstelle, die es dem Mitgliedstaat erlaube, eine Ausnahme von der Entgeltsicherung vorzusehen. Nach der Insolvenzrichtlinie (Art 4) könne die Fortsetzung des Ar-86beitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer aber nicht als ungewöhnlich angesehen werden, wenn das unbezahlte Arbeitsentgelt einen Zeitraum von weniger als drei Monaten betreffe.

Aus dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs folgt somit, dass die Ausnahme von der Entgeltsicherung für Missbrauchsfälle mit der Insolvenzrichtlinie und demnach mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl C-435/10, van Ardennen, Rn 38; C-311/13, Tümer, Rn 48; vgl allgemein auch C-126/10, Foggia, Rn 50). In einem Missbrauchsfall ist die Beklagte daher berechtigt, die geltend gemachten Ansprüche abzulehnen (vgl 8 ObS 2/11v; 8 ObS 3/16y). Hingegen ist der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und überhaupt dem Unionsrecht nicht zu entnehmen, dass trotz eines Missbrauchsfalls dem Arbeitnehmer die Mindestsicherung nach Art 3 der Insolvenzrichtlinie zusteht. Liegt ein Missbrauchsfall (im Sinn eines atypischen Arbeitsverhältnisses, das einem Fremdvergleich nicht standhält) vor, so führt dies zur Ablehnung der Ansprüche (näher 8 ObS 6/16i).

Ein Anspruch der Klägerin auf Insolvenz-Ausfallgeld besteht daher nicht.

5. Entgegen der in der Rekursbeantwortung vertretenen Auffassung stellt dieses Ergebnis keine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung der Klägerin im Verhältnis zu den anderen Arbeitnehmern dar: Dazu hat schon das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Beklagte in jedem einzelnen Verfahren die eingebrachten Anträge zu prüfen hat und dass es keineswegs unsachlich ist, zu berücksichtigen, dass der Informationsstand der anderen Arbeitnehmer nicht jenem der Klägerin als Mitgesellschafterin, Prokuristin und Ehegattin des Mehrheitsgesellschafters und Geschäftsführers entsprochen hat.“

ERLÄUTERUNG

Gem § 1 Abs 2 IESG sind Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis dann gesichert, wenn sie aufrecht, nicht verjährt und nicht ausgeschlossenen sind. Eine atypische Vertragsgestaltung kann jedoch nach ständiger Judikatur des OGH die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt sittenwidrig machen.

Dies steht im Einklang mit dem Unionsrecht, da nach Art 12 der Insolvenz-RL die Zahlungspflicht der Garantieeinrichtung im Fall einer Kollusion, der Mitinhaberschaft am Unternehmen, oder eines beträchtlichen Einflusses des AN auf das Unternehmen abgelehnt oder eingeschränkt werden kann.

Nach der stRsp des OGH liegt erst dann eine missbräuchliche Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt vor, wenn im Einzelfall zum Stehenlassen des Entgelts noch weitere Umstände hinzutreten, die konkret auf den Vorsatz des AN schließen lassen, das Finanzierungsrisiko zu überwälzen. Ergibt sich aus dem hier anzustellenden Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des AN widerlegt werden.

Die E des EuGH vom 11.9.2003 in der Rs C-201/01,Walcher, steht der Rsp des OGH – wie erst kürzlich zu OGH vom 27.4.2016, 8 ObS 6/16i, klargestellt wurde – nicht entgegen. In dieser E ging es um die Problematik des sogenannten „Stehenlassens“ des Entgelts durch den AN ohne Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Nach Ansicht des EuGH stellt die – ohne sachlichen Grund erfolgende – Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt, zu dem der AN die finanzielle Krise der Gesellschaft erkennen konnte, hinaus eine missbräuchliche Verhaltensweise dar, die es dem Mitgliedstaat erlaubt, eine Ausnahme von der Entgeltsicherung vorzusehen. Im Hinblick auf Art 4 der Insolvenz-RL könne die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch den AN aber nicht als ungewöhnlich angesehen werden, wenn das unbezahlte Arbeitsentgelt einen Zeitraum von weniger als drei Monaten betreffe. Aus der zitierten E ergibt sich somit, dass bei einem „Stehenlassen“ des Entgelts für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten grundsätzlich nicht von einem Missbrauchsfall auszugehen ist. Dies gilt freilich wiederum nicht für ein atypisches Arbeitsverhältnis, das einem Fremdvergleich nicht standhält und daher insgesamt als rechtsmissbräuchlich einzustufen ist. Die Ausnahme von Missbrauchsfällen von der Insolvenz- Entgeltsicherung steht somit im Einklang mit der Insolvenz-RL und entspricht auch der stRsp des EuGH.

Im Anlassfall erhielt die Kl schon ab dem zweiten Monat nach Aufhebung des Sanierungsverfahrens kein Entgelt ausbezahlt. Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstand ein Gehaltsrückstand von mehr als neun Monaten. Die Kl unternahm keinen ernsthaften Versuch, ihr ausständiges Entgelt einzufordern. Als Gesellschafterin der GmbH, Ehefrau des Geschäftsführers sowie auf Grund ihrer Tätigkeit als Prokuristin wusste sie jederzeit genau über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens Bescheid. Sie hoffte zwar, dass das Unternehmen durch den Abschluss eines größeren Geschäfts finanziell gerettet werden könne, ihr war aber bewusst, dass dieses Projekt auch scheitern könne. Aus der ersten Insolvenz ihrer AG wusste die Kl, dass offene Gehaltsansprüche im Fall des Konkurses bei der Bekl geltend gemacht werden können.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts hält das Verhalten der Kl dem in diesen Fällen anzustellenden Fremdvergleich nicht stand. Ein durchschnitt-87licher AN ohne Naheverhältnis zur insolventen Gesellschaft hätte auf Grund der offenen Entgeltrückstände das Arbeitsverhältnis jedenfalls früher beendet. Diese Feststellung konnte im Rekursverfahren vom OGH mangels Rechtsmittels der Kl nicht geprüft werden, wurde jedoch vom OGH ausdrücklich als inhaltlich zutreffend qualifiziert.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist jedoch nicht auf ein hypothetisches Verhalten der Kl – insb auf einen Austritt wegen Entgeltvorenthalt zu jenem Zeitpunkt, an dem ein durchschnittlicher AN seinen Austritt erklärt hätte – abzustellen. Entschließt sich ein AN trotz Nichtzahlung des Entgelts über einen längeren Zeitraum im Unternehmen weiterzuarbeiten, ohne ernsthaft zu versuchen, den Lohn einbringlich zu machen, bewirkt er damit, dass das Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG herausfällt und die Ansprüche zur Gänze nicht durch den Insolvenz- Entgelt-Fonds gesichert sind.