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Reisezeit von oder zu einem Ort abseits des gewöhnlichen Arbeitsortes

WALTERGAGAWCZUK
Art 2 AZ-RL (RL 2003/88/EG)
EFTA Gerichtshof 27.11.2017, E-19/16, Thorbjorn Selstad Thue

Die Reisezeit eines AN von oder zu einem Ort abseits seines gewöhnlichen Arbeitsortes ist Arbeitszeit iSd Arbeitszeit-RL.

SACHVERHALT

Ausgangspunkt der E war folgender und ähnliche Sachverhalte die Arbeitszeit eines Polizisten betreffend, der bei einer norwegischen Spezialeinheit der Exekutive beschäftigt ist. Die Aufgabe dieser Spezialeinheit ist ua der Begleitschutz für ausländische Staatsgäste und andere VIPs:

Der norwegische Gesundheitsminister sollte am Montagmorgen um 7 Uhr beim Flughafen abgeholt werden. Der Polizist verließ seine Wohnung am Sonntag um 17 Uhr und holte bei der nahegelegenen Polizeistation die Ausrüstung (kugelsichere Westen, Munition, Kommunikationsgeräte) und verständigte dann die Operationszentrale, dass er unterwegs zum Flughafen ist. Unterwegs holte er bei einer Polizeistation noch eine Waffe ab (seine eigene war beim Service), fuhr dann zu einer anderen Polizeistation, um einen Kollegen um 18:30 Uhr abzuholen.

Der AG bezahlte die Zeit ab 18:30 Uhr mit Überstundenzuschlag. Strittig war die Zeit von 17:00 bis 18:30 Uhr. Diese wurde nur als Reisezeit, aber nicht als Arbeitszeit gezählt. Für Reisezeit vor und nach der Arbeitszeit sieht der einschlägige norwegische KollV eine eigene Form der Abgeltung (Zeitausgleich oder Ausgleichszahlung) vor. Ähnlich verhielt es sich am nächsten Tag nach Ende des Escort-Dienstes.

ENTSCHEIDUNG

Der Gerichtshof stellte fest, dass der Begriff „Arbeitszeit“ iSd Arbeitszeit-RL drei Voraussetzung enthält. Der AN muss 1. seine Tätigkeit ausüben oder Aufgaben wahrnehmen, 2. dem AG zur Verfügung stehen und 3. arbeiten.

Im Zusammenhang mit der ersten Voraussetzung stellte der Gerichtshof fest, dass Reisen die von einem AN unternommen werden, um Tätigkeiten, die vom AG bestimmt wurden, an einem Ort abseits des festen oder gewöhnlichen Arbeitsortes auszuüben, notwendig sind, damit der AN seine Tätigkeiten ausüben kann. Für die zweite Voraussetzung ist die Intensität der geleisteten Arbeit nicht entscheidend. Im vorliegenden Fall stand der AN unter der Weisung des AG und ihm daher zur Verfügung. Zur dritten Voraussetzung stellte der Gerichtshof fest, dass es nebensächlich ist, wie oft der AG einen Einsatzort abseits des festen oder gewöhnlichen Arbeitsortes bestimmt, sofern dies nicht einen Wechsel des Anstellungsortes des AN bewirkt. Wenn ein AN, wie im gegenständlichen Fall, dazu verpflichtet ist, bestimmte Einsätze abseits seines festen oder gewöhnlichen Arbeitsortes durchzuführen, müssen daher auch die Reisen von und zu so einem Ort als ein wesentlicher Aspekt seiner Arbeit angesehen werden. Somit muss auch der AN während der erforderlichen Reisezeit als „arbeitend“ angesehen werden. Es ist nebensächlich, ob solche Reisen außerhalb der normalen Arbeitszeit des AN unternommen werden.

Demzufolge entschied der Gerichtshof, dass die erforderliche Reisezeit eines AN, außerhalb der normalen Arbeitszeit, von und/oder zu einem Ort abseits seines festen oder gewöhnlichen Arbeitsortes, um dort Tätigkeiten auszuüben oder Aufgaben wahrzunehmen, Arbeitszeit iS von Art 2 der Arbeitszeit-RL darstellt.

ANMERKUNG

Im Jahr 2015 hatte der EuGH in der Rs Tyco (EuGH 10.9.2015, C-266/14) ähnlich entschieden. Es gab96jedoch einen wesentlichen Unterschied zum vorliegenden Fall. In der durch den EuGH entschiedenen Fall hatte der im Außendienst tätige AN keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsplatz. Er war also täglich zwischen seinem Wohnort und dem Standort des ersten Kunden und des letzten von seinem AG vorgegebenen Kunden unterwegs. Diese Zeit stellt laut EuGH Arbeitszeit iSd Arbeitszeit- RL dar.

Der vorliegende Fall geht also insofern einen Schritt weiter, als die Reisezeit auch dann Arbeitszeit darstellt, wenn der AN einen festen oder gewöhnlichen Arbeitsplatz hat, aber verpflichtet ist, bestimmte Einsätze abseits dieses Arbeitsortes durchzuführen. Auch wenn es sich nicht um eine E des EuGH, sondern um eine solche des Gerichtshofs für den Europäischen Wirtschaftsraum handelt, kann davon ausgegangen werden, dass der EuGH gleich entscheiden würde. Im EWR-Abkommen (Art 105 ff) sind nämlich spezifische Mechanismen, wie insb ein gemeinsamer Ausschuss beider Gerichtshöfe, vorgesehen, die Divergenzen in der Judikatur vermeiden sollen.