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Keine Verjährung des Urlaubsanspruchs bei Scheinselbstständigkeit

WALTERGAGAWCZUK
Art 7 AZ-RL (RL 2003/88/EG); Art 31, 47 EU-GRC; § 2 UrlG

Ein AN, der jahrelang als Scheinselbstständiger tätig war, kann nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub ohne eine zeitliche Beschränkung durch Verjährungsfristen geltend machen.

SACHVERHALT

Der Kl (Herr King) war für das bekl Unternehmen (Sash WW) mehr als 13 Jahre formell als Selbstständiger tätig. Für genommenen Jahresurlaub erhielt er keine Bezahlung. Nach Beendigung der Beschäftigung verlangte der Kl für den gesamten Zeitraum seiner Tätigkeit die Bezahlung für den genommenen, aber nicht bezahlten und für den nicht genommenen Jahresurlaub. Strittig war zunächst, ob der Kl AN oder selbstständig erwerbtätig war. Nachdem diese Frage iSd AN-Eigenschaft entschieden wurde, blieb strittig, ob die Ansprüche auf Bezahlung des Urlaubs nach dem anwendbaren Recht des Vereinigten Königreichs verfristet ist oder das europäische Recht auf bezahlten Jahresurlaub die Verjährung verhindert. Der EuGH entschied gegen die Verjährung.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„38 Jedoch wäre, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen darlegt, ein Arbeitnehmer, der mit Umständen konfrontiert ist, die geeignet sind, während seines Jahresurlaubs Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auszulösen, nicht in der Lage, diesen Urlaub voll und ganz als Zeitraum für Entspannung und Freizeit gemäß Art 7 der Richtlinie 2003/88 zu genießen.

39 Solche Umstände können den Arbeitnehmer außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Insoweit ist festzustellen, dass auch jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt […].

59 Unter Umständen, wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, erscheint […] ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht zwingend notwendig und vermag daher ein Abweichen vom Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nicht zu rechtfertigen.

60 Es ist nämlich festzustellen, dass die Beurteilung des Anspruchs eines Arbeitnehmers, wie Herr King, auf bezahlten Jahresurlaub nicht mit einer Situation in Zusammenhang steht, in der sein Arbeitgeber mit Abwesenheitszeiten von Herrn King konfrontiert gewesen wäre, aus denen sich – wie bei einer Krankschreibung von langer Dauer – Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation ergeben hätten. Der Arbeitgeber konnte vielmehr bis zum Eintritt seines Arbeitnehmers in den Ruhestand davon profitieren, dass dieser seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen hat, um bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.

61 Zweitens ist der Umstand, dass Sash WW irrtümlich davon ausging, dass Herr King keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub habe, selbst dann unerheblich, wenn er erwiesen wäre. Es obliegt nämlich dem Arbeitgeber, sich umfassend über seine Verpflichtungen in diesem Bereich zu informieren.

62 Wie sich aus Rn 34 des vorliegenden Urteils ergibt, darf nicht bereits die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von irgendeiner Voraussetzung abhängig gemacht werden, da dieser Anspruch dem Arbeitnehmer unmittelbar durch die Richtlinie 2003/88 verliehen wird. Somit ist es, was das Ausgangsverfahren betrifft, irrelevant, ob Herr King im Laufe der Jahre bezahlten Jahresurlaub beantragt hat oder nicht […].

63 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die97Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat.

64 [Es] darf unter solchen Umständen, wenn es keine nationale gesetzliche oder vertragliche Vorschrift gibt, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts vorsieht […], die in der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung nicht restriktiv ausgelegt werden. Ließe man unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde man damit nämlich im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft.“

ERLÄUTERUNG

Nach der Veröffentlichung des Urteils kolportierten manche Tageszeitungen, dass offene Urlaubsansprüche nicht mehr verjähren können. So weitgehend ist die E jedoch nicht. Die nationalen Verjährungsbestimmungen bleiben in Kraft. Für Österreich, also insb § 2 Abs 5 UrlG, wonach der Urlaub grundsätzlich nach Ablauf von zwei Jahren ab dem Ende des Urlaubsjahres verjährt, in dem er entstanden ist. Es gibt jedoch Fälle, wo die europarechtlichen Vorgaben, nämlich Art 7 der Arbeitszeit-RL und Art 31 Abs 2 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) iVm Art 47 dieser Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verankert, die Verjährung ausschließen. Ein Beispiel dafür ist der konkrete Fall. Der AN war auf Basis eines „Selbstständigen-Vertrags“ beschäftigt. Als Selbstständiger hätte er keinen Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub gehabt. Tatsächlich war er aber ein Scheinselbstständiger, also AN. Dies wurde im Zuge des Gerichtsverfahrens in Großbritannien auch festgestellt. Während der Zeit seiner Beschäftigung war dies für Herrn King aber nicht mit Sicherheit vorhersehbar. Diese Unsicherheit war geeignet, ihn davon abzuhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen (Rn 39); und weiters hätte diese Unsicherheit auch bewirkt, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, den Urlaub voll und ganz als Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu genießen (Rn 38). Wäre der Urlaub verjährt gewesen, dann hätte der AG von der Scheinselbstständigkeit profitiert (Rn 60), obwohl es ihm obliegt, sich umfassend über seine Verpflichtungen in Zusammenhang mit der Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs für seine Beschäftigten zu informieren (Rn 61). Ein Erlöschen des Anspruchs würde im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des AG führt und dem eigentlichen Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des AN zu schützen, zuwiderläuft (Rn 64).

Eine Verjährung des Urlaubsanspruchs ist also dann ausgeschlossen, wenn es, wie im Fall einer Scheinselbstständigkeit, Unsicherheiten darüber gibt, ob der Anspruch besteht. Gleiches wird dann gelten, wenn der AG die Inanspruchnahme des Anspruchs auf bezahlten Urlaub verweigert oder wesentlich erschwert bzw eingrenzt, sodass der Erholungswert verloren geht (zB der AG ist nur bereit, den Urlaub für die Zeit kurz vor Ablauf der Verjährung zu vereinbaren).

Manche Landesarbeitsgerichte in Deutschland vertreten die Ansicht, dass der AG verpflichtet ist, den Urlaub von sich aus anzubieten, auch wenn kein Urlaubsverlangen des AN vorliegt. Kommt der AG dieser Verpflichtung nicht nach, dann kommt es zu keiner Verjährung (siehe Bayreuther, NZA 1/2018, 24 ff). Aus der gegenständlichen E lässt sich dies nicht schließen. Wie der EuGH diese Fälle beurteilt, wird also noch abzuwarten sein. Ein Verfahren dazu ist anhängig (Rs C-619/16).

Auf die einschlägige Rsp des EuGH zur Ansammlung von Urlaubsansprüchen im Falle krankheitsbedingter Abwesenheit, wonach eine Begrenzung der Übertragung des Urlaubsanspruchs auf das neue Urlaubsjahr grundsätzlich zulässig ist (siehe EuGH 22.11.2011, C-214/10, KHS; EuGH 3.5.2012, C-337/10, Neidel), sei hingewiesen.