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Keine Bestimmung des „Wohnortes“ iSd der VO (EG) 883/2004 durch Gegenüberstellung der zeitlichen Dauer des Aufenthaltes im Verlauf der Woche in Österreich und Polen

REGINAZECHNER
Art 1 lit j, 65 Abs 2 VO (EG) 883/2004

Ein arbeitsloser deutscher Staatsbürger hielt sich während seiner Beschäftigung in Österreich im Zeitraum 9.9.2008 bis 31.12.2013 jedes Wochenende bei seiner Ehegattin in Polen auf. Während der Arbeitswoche wohnte er bei seinem in Österreich lebenden Sohn und dessen Familie. Auch während des an die Beschäftigung anschließenden Krankenstandes hielt er sich in Polen auf und wurde dort behandelt. Nach Ende des Krankenstandes bezog er vom 3.12.2014 bis 16.8.2015 und vom 19.8.2015 bis 29.2.2016 Arbeitslosengeld.

Mit Bescheid vom 15.3.2016 widerrief das Arbeitsmarktservice die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes und verpflichtete den Arbeitslosen zum Rückersatz der Leistung. Die Beschwerdevorentscheidung vom 26.8.2016 bestätigte den Bescheid und wies die Beschwerde ab. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass der Arbeitslose „echter Grenzgänger“ iSd Art 65 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gewesen sei, da er regelmäßig jedes Wochenende nach Polen gefahren sei. Er hätte sich daher nach Ende der Beschäftigung der Arbeitsmarktverwaltung in Polen zur Verfügung stellen müssen. Den Bezug der Leistung aus der AlV habe er durch die unwahre Angabe, lediglich viermal im Jahr nach Polen zurückzukehren, herbeigeführt.

Das BVwG gab der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde statt, hob den Bescheid auf und stellte fest, dass der „Mittelpunkt der Interessen“ und damit sein „Wohnort“ iSd Art 1 lit j der VO (EG) 883/2004 während der Beschäftigung und des Arbeitslosengeldbezuges Österreich gewesen sei, da „das Naheverhältnis des Beschwerdeführers zum in Österreich lebenden Sohn zumindest in quantitativer Hinsicht (Montag bis Freitag) jenes zu den Angehörigen in Polen (am Wochenende) überwiegt“. Auch die stationäre Behandlung in Polen und die anschließenden ärztlichen Behandlungen seien durch die Umstände bedingt gewesen und könne der erkennende Senat darin keine bewusste Rückverlegung des Lebensmittelpunktes erkennen. Österreich sei als Wohnort daher für die Leistungen der AlV zuständig.

Die vom AMS erhobene außerordentliche Revision wurde vom VwGH für zulässig erklärt und als berechtigt angesehen. Gem Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 unterliegt eine Person den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie eine Beschäftigung ausübt. Der für die Leistung bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat ist somit ebenfalls der Mitgliedstaat, in dem die letzte Beschäftigung ausgeübt wurde. Fällt jedoch der Wohnort (Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes) und der Ort der letzten Beschäftigung auseinander und kehrt die Person nach dem Ende der Beschäftigung nicht in ihren Wohnmitgliedstaat zurück, so kommt es gem Art 65 Abs 2 und 5 zu einem Statutenwechsel. Im vorliegenden Fall sei strittig, wo die arbeitslose Person während der letzten Beschäftigung ihren „Wohnort“ und „Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes“ gehabt habe und104ob diese daher „echter Grenzgänger“ oder „Nicht-Grenzgänger“ iSd der VO sei.

Nach der Rsp des EuGH ist der „Wohnort“ dadurch gekennzeichnet, dass es sich um den Ort handle, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen der betreffenden Person befindet. Zur Feststellung dieses Ortes sind neben den familiären Verhältnissen auch die Dauer und Kontinuität des Wohnortes bis zur Abwanderung des AN, die Dauer der Abwesenheit – unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls – und deren Zweck, die Art der in dem anderen Mitgliedstaat aufgenommenen Beschäftigung sowie die Absicht des AN, wie sie sich aus den gesamten Umständen ergibt, zu berücksichtigen (VwGH 28.1.2015, 2013/08/0056).

Allein aus der Gegenüberstellung der zeitlichen Dauer des Aufenthaltes im Verlauf der Woche in Polen und Österreich kann daher, entgegen den Ausführungen des BVwG, der „Wohnort“ gem Art 1 lit j VO (EG) 883/2004 nicht bestimmt werden. So sind ua genauere Feststellungen zur sozialen Integration, den familiären Verhältnissen sowie den Wohnverhältnissen in Polen und Österreich zu treffen.

Abschließend weist der VwGH darauf hin, dass eine „Beschäftigung“ laut Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation darstellt, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Daher sind nicht nur Zeiten der Arbeitsunfähigkeit im aufrechten Arbeitsverhältnis, sondern auch Zeiten des Bezuges von Krankengeld aufgrund eines Arbeitsverhältnisses gem §§ 138 ff ASVG (im gegenständlichen Fall vom 1.1.2014 bis 2.12.2014) – auch nach dessen Ende – als Ausübung einer Beschäftigung iSd VO anzusehen.

Da das BVwG festgestellt hat, dass sich die arbeitslose Person ab 29.9.2013 zunächst stationär und dann ambulant in Polen aufgehalten habe, kann sich daraus ergeben, dass sich der Wohnort ab diesem Zeitpunkt wieder in Polen befand. Dazu wären jedoch Feststellungen zu treffen gewesen, ob sich die arbeitslose Person freiwillig für eine Behandlung in Polen entschieden hat, oder ob sich diese durch zwingende äußere Umstände – zB einen akut aufgetretenen, einen Ortswechsel verhindernden Krankheitszustand während eines (vorübergehenden) Aufenthaltes – ergeben hat.

Da das BVwG somit bei Beurteilung des Wohnortes iSd Art 1 lit j der VO (EG) 883/2004 die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erk wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.