BeckerAutomatisierung und Ausbeutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?

Promedia Verlag, Wien 2017, 240 Seiten, € 19,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Das zu besprechende Werk verspricht Antworten auf die ganz große Frage, was aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus wird. Diese Thematik beherrscht die arbeitspolitischen, soziologischen, ökonomischen und rechtspolitischen Diskurse der letzten Jahre. Das Buch reiht sich in eine Flut von Publikationen ein, von denen uns die meisten ratlos zurücklassen. Hilft uns Beckers Untersuchung weiter?

Den Leser erwartet ein breit gestreutes Panorama von Phänomenen, Fallbeispielen und Szenarien, in deren Mittelpunkt neue und wirkungsmächtige Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse stehen, vor allem solche, deren Fundament die digitalen Technologien sind. Das Buch dreht sich daher maßgeblich um Schlagworte wie Industrie 4.0, Crowdwork, künstliche Intelligenz, neue Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, Gig-Economy, Plattformen, Sharing Economy, neue Kontrolltechnologien uä.

Wie der Titel nahelegt, bildet das Thema der Ausbeutung der Arbeitskraft in ihren neuen Ausprägungen den roten Faden des Buches. Anliegen des Autors ist es aber nicht, theoretische Grundlagen und Ableitungen zu entwickeln. Vielmehr schildert er die konkreten Phänomene an Hand instruktiver Fallbeispiele, eingebettet in etwas wahllos eingestreute historische Exkurse, sozialphilosophische Anmerkungen und gelegentliche Hinweise auf die Entstehungsbedingungen der beschriebenen empirischen Phänomene. Dieser Stil fördert die Verständlichkeit und verschafft dem Leser nützliche Einblicke in die Vorgänge an den Fronten der heutigen Arbeitswelt. Es ist ein langer Trip durch Szenen der Arbeitswelt von heute. Auf Systematik und Rückkoppelungen zu Theorie und Systemdynamiken wird allerdings wenig Wert gelegt. Die Denkweisen der VollstreckerInnen der Marktkräfte, ob Unternehmens eliten, TechnikerInnen oder Personalverantwortliche, werden hingegen ausführlich freigelegt und kritisch beleuchtet.

Immer wieder wird deutlich, wie schnell die Entwicklung ist. So wird das „autonome Fahren“ von Automobilen und LKW nur als ferne Möglichkeit angedeutet. Becker zitiert dabei den Informatiker Tschentscher, der auf absehbare Zeit keine praktischen Einsatzmöglichkeiten im Straßenverkehr sieht. Heute, zwei Jahre später, stehen wir aber schon vor der „Markteinführung“. Der Autor meint dazu verallgemeinernd, die schlauen Algorithmen seien gleichzeitig furchtbar dumm. Diese Aussage steht exemplarisch für einen nicht unproblematischen Hang des Verfassers, die extremen Gefahren und Herausforderungen sowie die zT radikale Neuartigkeit der technischen Entwicklungen klein zu reden und die Sprengkraft, die mittel- und langfristig außerordentliche, in keiner Epoche der Menschheitsgeschichte bisher anzutreffende umwälzende Gewalt und Stärke die der kapitalistisch getriebenen technischen Revolution zu unterschätzen. Das ist schon deswegen eine (ungewollt) problematische politische Position, da sie Wegbereiterin eines letztlich wirkungslosen „Reformismus“ sein kann. Wer wirkliche Veränderungen will, der muss auch bereit dazu sein, die Dramatik der Situation in ihrer vollen Tragweite anzuerkennen.

Becker kritisiert an den AkteurInnen der Entwicklung einen gewissen „Technikfetischismus“. Der Autor selbst unterliegt aber einer einseitigen Fokussierung auf die Technik und deren Auswirkungen auf die Arbeitsprozesse. Die beschriebenen Anwendungen sind ja nicht einer technizistischen Denkweise geschuldet, sondern Resultat einer intakten, ja massiv radikalisierten Bewegungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften. Sicherlich gibt es auch Fehleinschätzungen der AkteurInnen der Kapitalverwertung, und vielleicht gehören das autonome Fahren oder die Landwirtschaft 4.0. (ein sehr lesenswertes Kapitel des Buches) dazu. Dass es letztlich aber keine „humane Nutzung“ der technischen Potenziale gibt, ist schlicht der ökonomischen Logik kapitalistischer Produktionsverhältnisse geschuldet, nicht einer schlechten Entscheidungspraxis, die grundsätzlich systemimmanent verbesserbar wäre. Symptomatisch sei dazu der Satz hervorgehoben: „Moderne Roboter können ein Bier einschenken, sofern ihnen jemand das Glas richtig hinstellt.“ Damit wird suggeriert, es würde schon alles nicht so schlimm werden, denn die Versprechungen der Technologie könnten ohnehin nicht eingelöst werden.

Ersichtlich wird daran: Es hätte der Arbeit gut getan, wenn begleitend zur eindrucksvollen Beschreibung der Einzelphänomene eine Klärung dessen erfolgt wäre, was im Untertitel „digitaler Kapitalismus“ genannt wird.

Die schwach ausgeprägte theoretische Grundierung der vorliegenden Monographie wirkt sich gerade dort nachteilig aus, wo es darum geht, die Phänomene mit der Wirkungsdynamik des neuen Kapitalismus zu verknüpfen. Wichtige grundsätzliche Aussagen dazu finden sich allenfalls beiläufig eingestreut. So kennzeichnet etwa der Autor die digitale Revolution dahingehend, dass bislang nicht ausgeschöpfte Ressourcen und Einsparmöglichkeiten der existierenden Produktionsformen identifiziert und mobilisiert werden. Hauptfunktion der Digitalisierung sei274es, zu ermöglichen, dass alles beim Alten bleiben kann. Damit wird die von Marx so überzeugend freigelegte Systemtendenz bestätigt, dass der Kapitalismus insofern höchst innovativ ist, als im Zuge krisenhafter Entwicklungen neue, eben auch neue technische, Grundlagen geschaffen werden, um sich selbst für eine weitere Phase der Akkumulation zu regenerieren.

Zusammenfassend: Das Buch ist flott geschrieben und erlaubt einen kurzweiligen Rundgang durch wichtige Bereiche der heutigen Arbeitswelt. Es ergibt sich ein gutes Gesamtbild, wie Ausbeutung heute – vorwiegend auf der Mikroebene – funktioniert. Der Autor vermeidet leider Überlegungen, ob und welche Möglichkeiten bestehen, die Entwicklung zu beeinflussen bzw welche Konsequenzen sich für die künftige Gestaltung des Arbeitsrechts und des Sozialsystems daraus ergeben. Das Versprechen des Untertitels „Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?“ wird auch deswegen nicht ausreichend eingelöst. Dazu hätten nicht nur die technisch-betriebswirtschaftlichen Phänomene auf ihre Ursachen zurückgeführt werden müssen, es wäre vor allem das Wechselspiel zwischen dem „blinden Wüten“ der Märkte und den politischen (einschließlich der gewerkschaftlichen) Gestaltungspotenzialen zu untersuchen gewesen. Ausgeblendet bleibt iS einer Analyse der treibenden Kräfte, dass man in die Wirkungsweisen des neuen Kapitalismus des ersten Drittels des 21. Jahrhunderts auch die Menschen als KonsumentInnen und NachfragerInnen von Unterhaltung etc („Erlebniskapitalismus“) miteinbeziehen müss te. Sie sind zum integrierenden Teil eines hegemonialen Systems geworden und diese Rolle konterkariert letztlich eine wirkungsvolle Systemtransformation, in der die Wirtschaft den arbeitenden Menschen und den Konsumenten dient. Ein „Ende der Ausbeutung“, um den Titel nochmals heranzuziehen, ist keine Frage einer alternativen Technikgestaltung, sondern einer grundlegenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse.

Das Buch vermittelt eine gute Beschreibung vor allem der Widersprüche an der Mensch-Maschine- Schnittstelle und der konkreten Wirkungen ausgewählter Technologien auf die Arbeit, angereichert mit klugen und lesenswerten Exkursen. Wer über die „vorderste Front der Automatisierung“ informiert sein will, wird in Beckers Werk umfassend und detailreich informiert. Wie es im digitalen Kapitalismus mit der Arbeit weitergeht und welche Gestaltungsspielräume bestehen, muss der Leser selbst beantworten.