Sieben Thesen zum Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz* – Statement zu „Selbständig oder unselbständig: Neuregelung der Zuordnung von Sozialversicherten“

THOMASNEUMANN (WIEN)
Das Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz (SV-ZG) versucht, verfahrensrechtlich die Problematik der Abgrenzung der selbständigen zur unselbständigen Erwerbstätigkeit in den Griff zu bekommen. Die ersten Erfahrungen aus der Praxis belegen, dass dies nur zum Teil gelungen ist. Nach den verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Ausführungen von Univ.-Prof. Dr. Benjamin Kneihs sollen die Erfahrungen aus der Praxis in sieben Thesen zusammengefasst werden.
  1. Im Sozialversicherungsrecht gibt es ein Rechtsschutzdefizit

  2. Die sozialversicherungsrechtliche Zuordnung im Rahmen der Vorabprüfung ist meistens denkunmöglich oder administrativ undurchführbar

  3. Ein Verfahren außerhalb des SV-ZG ist hinsichtlich der Versicherungszuordnung rechtswidrig

  4. ASVG und GSVG bzw BSVG sind grundsätzlich gleichrangig

  5. Die Bindungswirkung muss materiell-rechtlich umfassend interpretiert werden

  6. Das Verhältnis zwischen Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht bleibt unverändert ungeklärt

  7. Bringt das SV-ZG mehr Rechtssicherheit?

1.
Im Sozialversicherungsrecht gibt es ein Rechtsschutzdefizit

Trotz der hohen Regelungsdichte fehlen dem Sozialversicherungsrecht in weiten Teilen – im Gegensatz etwa zum Steuerrecht – die notwendigen ausgestaltenden Normen auf Verordnungsebene. Dies ist jedoch keine rechtliche Problematik, sondern eine auf Vollzugsebene. Die fehlenden Richtlinien, die gem § 31 Abs 5 Z 34 ASVG einmal jährlich – nach Anhörung der gesetzlichen Interessenvertretungen – zu erlassen wären, führen ua dazu, das Sozialversicherungsrecht als „Geheimwissenschaft“ erscheinen zu lassen. Die Publikation der zudem auch nicht vollständigen Ergebnisse des Melde-, Versicherungs- und Beitragswesens (MVB) als unverbindliche Empfehlungen aus dem MVB-Arbeitskreis kompensiert dieses Defizit nicht und schafft daher auch, bezogen auf das Thema der sozialversicherungsrechtlichen Zuordnung, keinen Erkenntnisgewinn.*

2.
Die sozialversicherungsrechtliche Zuordnung im Rahmen der Vorabprüfung ist meistens denkunmöglich oder administrativ undurchführbar

Zum Zeitpunkt der Vorabprüfung befindet sich das Unternehmen oder der Selbständige als Ein-Personen-Unternehmen (EPU) in der Gründungsphase. In der Regel gibt es noch keine oder nur wenige Aufträge; die diesbezüglichen Vertragsverhältnisse liegen meist noch nicht vor und die betriebliche Struktur wird gerade aufgebaut.

Was soll daher zu diesem Zeitpunkt geprüft werden? Für welchen Sachverhalt soll Rechtsverbindlichkeit iSd SV-ZG erzeugt werden?

Die betroffenen Sozialversicherungsträger lösen diese vom Gesetzgeber gestellte Herausforderung pragmatisch: Die vorhandenen Angaben des Versicherten werden auf Plausibilität überprüft, diese und deren AuftraggeberInnen werden von den203Gebietskrankenkassen befragt, und es wird auf eine auf den einzelnen Auftrag oder das einzelne Vertragsverhältnis bezogene Prüfung verzichtet.

3.
Ein Verfahren außerhalb des SV-ZG ist hinsichtlich der Versicherungszuordnung rechtswidrig

§ 412b ASVG normiert Folgendes:

„Stellt der Krankenversicherungsträger oder das Finanzamt bei der Prüfung nach § 41a dieses Bundesgesetzes oder nach § 86 EStG 1988 für eine im geprüften Zeitraum nach dem GSVG bzw nach dem BSVG versicherte Person einen Sachverhalt fest, der zu weiteren Erhebungen über eine rückwirkende Feststellung der Pflichtversicherung nach diesem Bundesgesetz (Neuzuordnung) Anlass gibt, so hat der Krankenversicherungsträger oder das Finanzamt die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft bzw die Sozialversicherungsanstalt der Bauern ohne unnötigen Aufschub von dieser Prüfung zu verständigen.“

Unstrittig ist, dass damit jedenfalls die GPLA-Prüfung* gem § 41a Abs 3 ASVG umfasst ist. Entdeckt nun die Gebietskrankenkasse (GKK) außerhalb der GPLA-Prüfung (zB durch eine Mitteilung der Finanzpolizei) einen Sachverhalt, der zu einer Neuzuordnung führen könnte, so ist die These, das SV-ZG sei nicht anwendbar.*Dem widerspreche ich ausdrücklich und nachdrücklich.

In diesem Zusammenhang muss man zunächst § 41a ASVG in seiner Gesamtheit und in seiner Entstehungsgeschichte betrachten. Dies würde ein eigenes Vortragsthema eröffnen, sodass ich kurz zusammenfasse:

Ob nun lex posterior und/oder lex specialis als Interpretationsregel angeführt wird, es ist vor allem das eindeutige Ziel und der eindeutige Zweck des SV-ZG gewesen, jegliche Umqualifizierung durch die Gebietskrankenkassen dem neuen Verfahrensrecht zu unterwerfen. Eine andere Interpretation wäre ja die bewusste Konterkarierung des Kernproblems durch den Gesetzgeber. Genau diese Zielsetzung wurde auch von den Sozialpartnern nach knapp zehnjährigen Verhandlungen im August 2016 vereinbart.*

4.
ASVG und GSVG bzw BSVG sind grundsätzlich gleichrangig

Die Subsidiaritätsklausel des § 1 GSVG bezieht sich ausschließlich auf die versicherungsrechtlichen Tatbestände der Erwerbstätigkeit als Gesellschafter-GeschäftsführerIn und als Neuer Selbständiger* (§ 2 Abs 1 Z 3 und Z 4 GSVG) und eben nicht auf die gesamten Versicherungstatbestände des GSVG. Dies hat schon überzeugend Auer-Mayer nachgewiesen.*

Es stellt sich nun aber die Frage, ob das SV-ZG im konkreten Verhältnis zwischen § 4 Abs 2 ASVG zu § 2 Abs 1 Z 1 und 2 GSVG bzw § 2 Abs 1 Z 1 letzter Satz BSVG iVm Pkt 6 oder 7 der Anlage 2 zum BSVG einen Vorrang des Dienstverhältnisses normiert.

Die Verpflichtung der GKK, abweichende Vorbringen der SVA im Bescheid zu berücksichtigen,* der vorgesehene Instanzenzug und das Beschwerderecht der SVA/SVB sprechen wohl dagegen. Dafür spricht das weggefallene Bescheidrecht der SVA/SVB und damit wurde das Entscheidungsmonopol der Gebietskrankenkassen in erster Instanz gefestigt. Eine weitere Vertiefung nehme ich aus Zeitgründen nicht vor bzw verweise ich bezüglich der verfassungsrechtlichen Verankerung der Trägerautonomie auf die Ausführungen von Prof. Kneihs.*

5.
Die Bindungswirkung muss materiell-rechtlich umfassend interpretiert werden

Für diese Beurteilung ist wesentlich, ob sich die Merkmale, welche den Ausschlag für eine unselbständige oder für eine selbständige Erwerbsform gegeben haben, maßgeblich verändert haben, sodass sich nun bei Betrachtung des neuen Sachverhalts eine andere rechtliche Beurteilung ergeben würde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Prüfpraxis der Gebietskrankenkassen wieder auf den Wortlaut des § 4 Abs 2 ASVG fokussiert: Es zählt das Überwiegen der Merkmale!

Keine maßgebliche Änderung des Sachverhalts liegt beispielsweise vor, wenn der Auftraggeber bei gleicher Tätigkeit und vergleichbaren rechtlichen Rahmenbedingungen wechselt, ein neuer hinzutritt oder ein anderer wegfällt. Ebenso gilt dies für die Änderung des Prüfzeitraumes, einer Änderung der Abgabenart iSd § 148 BAO (zB § 22 oder § 23 EStG) oder einer neuen Vertragsgestaltung, sofern damit keine materiell-rechtlichen Änderungen verbunden sind (ein Werkvertrag mutiert beispielsweise zu einem echten Dienstvertrag). Eine Änderung des Sachverhalts liegt hingegen dann vor, wenn204die Merkmale einer selbständigen Tätigkeit wie Weisungsungebundenheit, Vertretungsrecht, Unternehmerrisiko und die Verwendung wesentlicher eigener Betriebsmittel kumulativ wegfallen.*

Dazwischen liegt viel und was nun exakt dazu führt, dass sich das Gewicht in die eine oder andere Richtung neigt, muss der zukünftigen Judikatur bzw Verwaltungspraxis entnommen werden.

6.
Das Verhältnis zwischen Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht bleibt unverändert ungeklärt

Liegt ein rechtskräftiger Feststellungsbescheid nach § 412c ASVG oder § 194b GSVG oder § 182a BSVG vor, so ist die Versicherungszuordnung auch für die Qualifikation der Einkünfte nach § 2 Abs 3 EStG bindend.* Umgekehrt gibt es in den versicherungsrechtlichen Tatbeständen des DN oder des neuen Selbständigen Bindungswirkungen des Sozialversicherungsrechts an das Steuerrecht.

Werden diese nun durch die Regelung im § 86 EStG ausgehebelt?

7.
Bringt das SV-ZG mehr Rechtssicherheit?

Das bis zum SV-ZG geltende Verfahrensrecht hat dem materiellen Recht bei der Abgrenzung selbständige/unselbständige Erwerbstätigkeit nicht zum Durchbruch verhelfen können. Die Spielregeln aus den Stammfassungen des ASVG und der Parallelgesetze haben mit der zunehmenden materiell-rechtlichen Differenzierung zwischen den verschiedenen Erwerbsformen und der dynamischen Wirtschaftsentwicklung nicht mehr Schritt halten können.

Aus den bisher von mir vorgetragenen Thesen könnte man nun leicht zu der resignierenden Schlussfolgerung kommen, es sei zumindest nicht mehr Rechtssicherheit entstanden.* Lassen Sie mich aber versöhnlich aus den Erfahrungen der Praxis schließen: Alle mir bisher bekannten Entscheidungen im Rahmen des SV-ZG – das bezieht sich allerdings nur auf die Vorabprüfungen* – waren transparent, nachvollziehbar und schlüssig. Aus diesem Grund bin ich auch optimistisch, dass wir in einigen Jahren – ob das nun die neun Gebietskrankenkassen oder der ÖKV* bzw die SVA und SVB oder SVS* sein werden – mehr Fragen beantworten können und damit durch die Judikatur und Verwaltungspraxis (hoffentlich dann durch Richtlinien offengelegt) diese Frage mit einem eindeutigem „Ja“ beantworten können.205