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Kinderbetreuungsgeld für Drittstaatsangehörige, die aus der „Kernbestandsdoktrin“ des EuGH ein Aufenthaltsrecht ableiten können

JOHANNESPEYRL (WIEN)
  1. Drittstaatsangehörigen Eltern von UnionsbürgerInnen kommt ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, wenn sonst die UnionsbürgerInnen selbst gezwungen wären, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Das gilt auch für UnionsbürgerInnen im eigenen Mitgliedstaat („Kernbestandsdoktrin“).

  2. Im Fall von minderjährigen Kindern wird dabei ein anderer Maßstab angelegt als bei EhegattInnen.

  3. Wenn Drittstaatsangehörige aus der Kernbestandsdoktrin ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht ableiten können, sind sie auch wie UnionsbürgerInnen zum Bezug von sozialen Leistungen (hier: Kinderbetreuungsgeld) berechtigt.

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) hat mit Urteil vom 10.5.2017, C-133/15, Chavez-Vilchez ua, über die ihm vom Centrale Raad van Beroep (Niederlande) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art 20 AEUV, denen auch für das vorliegende Verfahren Bedeutung zukommt, entschieden. Das im Hinblick auf dieses Vorabentscheidungsersuchen unterbrochene Revisionsverfahren war daher mit Beschluss von Amts wegen fortzusetzen.

II. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob – neben den sonst unstrittig erfüllten – Anspruchsvoraussetzungen für den von der Kl geltend gemachten Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld auch jene eines rechtmäßigen Aufenthalts der Kl im Inland iSd §§ 8 oder 9 des Niederlassungsund Aufenthaltsgesetzes (BGBl I 2005/100, NAG) für den Zeitraum 6.5.2014 bis 16.3.2015 gem § 2 Abs 1 Z 5 KBGG in der seit dem BGBl I 2014/35 geltenden Fassung (§ 50 Abs 11 KBGG) vorliegt.232

Die Tochter der Kl wurde am 17.4.2012 in Thailand geboren. Die Kl ist thailändische Staatsbürgerin. Ihre Tochter und der Vater des Kindes, der Lebensgefährte der Kl, sind österreichische Staatsbürger.

Die Kl reiste am 1.9.2013 nach Österreich ein. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt über ein Visum D für den Zeitraum von 30.8.2013 bis 28.2.2014. [...] Am 2.3.2015 wurde der Kl ein Aufenthaltstitel „Angehöriger“ für den Zeitraum von 16.2.2015 bis 16.2.2016 erteilt. [...]

Die Kl beantragte am 6.11.2014 Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30 + 6 für ihr Kind für den Zeitraum ab 6.5.2014 (bis 16.3.2015).

Mit Bescheid vom 7.4.2015 wies die bekl Wiener Gebietskrankenkasse diesen Antrag ab.

Mit ihrer fristgerecht gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Kl die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß für den Zeitraum von 6.5.2014 bis 16.3.2015. [...]

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Kl habe im hier zu beurteilenden Zeitraum ihre 2-jährige Tochter betreut, während der Vater des Kindes für den gemeinsamen Unterhalt gesorgt habe. Wäre der Kl der Aufenthalt in Österreich verweigert worden, hätte dies faktisch dazu geführt, dass ihre Tochter mit der Mutter das Unionsgebiet verlassen hätte müssen. Die Tochter der Kl wäre damit im Kernbestand ihres Rechts der Unionsbürgerschaft beeinträchtigt worden. Aus der Unionsbürgerschaft ihrer Tochter leite sich unionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht der Kl ab. Dieses bestehe aufgrund Art 20 AEUV ex lege und hänge nicht von einer Dokumentation iSd § 9 NAG ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. [...]

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

1.2 Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld hat gem § 2 Abs 1 Z 5 KBGG ua ein Elternteil, sofern er und das Kind sich nach §§ 8, 9 NAG rechtmäßig in Österreich aufhält. Die Kl fällt unstrittig unter keine der in § 2 Abs 1 Z 5 lit a bis c KBGG genannten Ausnahmegruppen [...]. Dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, vom Erfordernis eines rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat abhängig gemacht wird, widerspricht nicht dem Unionsrecht (EuGHC-308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich, Rn 68 mwH; kritisch Felten, DRdA 2017/9, 97 [100]).

2. Die Kl beruft sich jedoch auch in der Revision auf ein von ihrer Tochter abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht. [...] Dem kommt im Ergebnis im konkreten Fall Berechtigung zu.

3.1 Die Rsp des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) lässt sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen zusammenfassen:

3.2 Die Tochter der Kl kann sich als österreichische Staatsbürgerin gegenüber Österreich als Mitgliedstaat der Europäischen Union auf die mit ihrem Unionsbürgerstatus gem Art 20 AEUV verbundenen Rechte berufen (EuGHC-434/09, McCarthy, Rn 48 uva). Art 20 AEUV steht nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen entgegen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (EuGHC-34/09, Ruiz Zambrano, Rn 42; C-356/11 und 357/11, O und S, Rn 45).

3.3 Die Kl kann sich hingegen als Drittstaatsangehörige nicht auf eigenständige Rechte aus den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft berufen. Sie kann etwaige Rechte nur aus der Unionsbürgerschaft ihrer Tochter ableiten: Zweck und Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insb in seiner Freizügigkeit (Art 21 AEUV) beeinträchtigen könnten (EuGHC-165/14, Rendón Marín, Rn 72, 73 ua).

3.4 Es gibt ganz besondere Sachverhalte, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, weil sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (EuGHC-256/11, Dereci ua, Rn 66 und 67; C-165/14, Rendón Marín, Rn 74 ua). [...]

In der Rs C-165/14, Rendón Marín, übte der drittstaatsangehörige Vater zweier Kinder mit Staatsbürgerschaften von Unionsmitgliedstaaten die rechtliche und tatsächliche Obsorge über die in Spanien wohnhaften Kinder aus. Der Wohnsitz der Mutter, einer polnischen Staatsangehörigen, war unbekannt. Herr Rendón Marín war jedoch in Spanien vorbestraft. Der Gerichtshof sprach in diesem Zusammenhang ua aus, dass das Vorliegen von Vorstrafen allein noch nicht automatisch die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis rechtfertige. Dazu seien die Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht zu prüfen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Wohl des Kindes (Art 24 Abs 2 GRC) und die Grundrechte (Achtung des Privat- und Familienlebens, Art 7 Abs 2 GRC) zu beachten seien (C-165/14, Rn 81 ff).

3.6 In der Rs C-256/11, Dereci ua, hielt der EuGH hingegen fest, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Unionsbürger aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich drittstaatsangehörige Familienangehörige mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (ebenso EuGHC-87/12, Ymeraga, Rn 38 und 39). [...]

5. In Österreich sprach der VwGH unter Berufung insb auf die E des EuGHC-256/11, Dereci ua, aus, dass die Kinder einer Beschwerdeführerin auch bei233Versagung einer Aufenthaltsberechtigung für sie nicht gezwungen seien, das Bundesgebiet zu verlassen, weil der Vater der Kinder österreichischer Staatsbürger sei (VwGH Zl 2012/09/0003). [...]

7.1 In der jüngst ergangenen E C-133/15, Chavez Vilchez ua, hatte sich der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) mit den Anträgen von drittstaatsangehörigen Müttern von minderjährigen Kindern, die niederländische Staatsangehörige sind, und für die sie die tägliche und elterliche Sorge wahrnehmen, auf Zuerkennung von Sozialhilfe und Kindergeld nach niederländischem Recht auseinanderzusetzen. In allen Fällen hatten die Kinder mit niederländischer Staatsangehörigkeit einen Vater, der ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Alle Kinder sind von ihren Vätern anerkannt worden, leben aber hauptsächlich bei ihren drittstaatsangehörigen Müttern.

7.2 Der Gerichtshof entwickelte seine oben dargestellte Rsp weiter und setzte sich insb mit dem Umstand auseinander, dass in den ihm vorgelegten Sachverhalten die Väter der Kinder über eine Unionsbürgerschaft verfügten und die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für die Kinder zumindest wahrnehmen konnten bzw teilweise auch (mehr oder weniger vollständig) wahrnahmen (zB im Fall der Antragstellerin Enowassam, C-133/15, Rn 27).

7.3 [...] In diesem Zusammenhang sei in jedem der fraglichen Fälle zu ermitteln, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind durch den Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ausgeübt wird, und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Dabei seien die Grundrechte der Achtung des Familienlebens (Art 7 GRC) und des Kindeswohls (Art 24 Abs 2 GRC) zu beachten (C-133/15, Rn 68 und 70).

7.4 Der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet für diese Beurteilung zwar einen Gesichtspunkt von Bedeutung. Dieser Gesichtspunkt allein genügt jedoch nicht für die Feststellung des dargestellten Abhängigkeitsverhältnisses des Kindes zum drittstaatsangehörigen Elternteil (C-133/15, Rn 71). Dazu sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zu prüfen [...].

9.2 Entgegen der von der Bekl in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht war die Kl sehr wohl gezwungen, nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des ihr erteilten Einreisevisums D das Bundesgebiet zu verlassen [...].

9.3 Nach den Feststellungen betreute die Kl ihre Tochter im hier zu beurteilenden Zeitraum, während dessen der Vater des Kindes weit überwiegend vollzeitbeschäftigt war, tatsächlich und täglich und übte insofern die nach der Rsp des Gerichtshofs maßgebliche tatsächliche Sorge („rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge“) für die Tochter aus.

9.4 Der Umstand, dass der Vater der Tochter nach den Feststellungen in der Lage und bereit war, die finanzielle Sorge für die Tochter zu tragen, bildet wie ausgeführt lediglich einen Gesichtspunkt von Bedeutung, der aber für sich allein noch nicht die Verneinung eines Abhängigkeitsverhältnisses der Tochter zur Kl im dargestellten Sinn rechtfertigen kann (C-133/15, Rn 71). Dazu sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls (Art 24 Abs 2 GRC; C-133/15, Rn 70, 71) zu berücksichtigen.

9.5 Im hier eröffneten Anwendungsbereich des Unionsrechts ist zu beachten, dass das unionsrechtliche Grundrecht des Kindeswohls gem Art 24 Abs 2 GRC bei allen das Kind betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen immer eine vorrangige Erwägung sein muss. [...]

9.6 Zutreffend hat das Erstgericht hervorgehoben, dass die Tochter der Kl im hier zu beurteilenden Zeitraum erst zwei Jahre alt war, und dass der Vater wegen seiner Vollzeitbeschäftigung – auch unter Berücksichtigung der kurzen Unterbrechungen der Arbeitstätigkeit – nicht in der Lage war, das Kind täglich und tatsächlich zu betreuen. Unter Beachtung des gem Art 24 Abs 2 GRC grundrechtlich gesicherten Kindeswohls ist daher nach den hier getroffenen Feststellungen mit dem Erstgericht – einzelfallbezogen – davon auszugehen, dass die Tochter der Kl im hier zu beurteilenden Zeitraum als (damals noch) Kleinkind besonders auf den Verbleib der sie tatsächlich betreuenden Kl im Unionsgebiet angewiesen war, und daher bei der für die Kl erforderlichen Ausreise aus dem Unionsgebiet de facto (also: tatsächlich) gezwungen gewesen wäre, sie zu begleiten. [...]

10. Vor diesem Hintergrund ist im konkreten Fall zur Wahrung der aus Art 20 AEUV resultierenden Rechte aus der Unionsbürgerschaft der Tochter der Kl für den hier zu beurteilenden Zeitraum 6.5.2014 bis 16.3.2015 ein daraus unionsrechtlich abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Kl zu bejahen. [...]

Der Revision war daher Folge zu geben und das klagestattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

ANMERKUNG

Der Bezug von Kinderbetreuungsgeld setzt gem § 2 Abs 1 Z 5 KBGG idR voraus, dass Elternteil und Kind entweder ÖsterreicherInnen sind oder Elternteil und Kind sich nach §§ 8 und 9 NAG rechtmäßig in Österreich aufhalten. Im vorliegenden Sachverhalt ist die Mutter des österreichischen Kindes thailändische Staatsbürgerin, ihr wurde weder ein (konstitutiv wirkender) Aufenthaltstitel gem § 8 NAG erteilt noch eine Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts gem § 9 NAG ausgestellt (eine solche ist lediglich deklarativer Natur).

Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht kann aber auch vorliegen, wenn keine Dokumentation ausgestellt wurde. Liegt ein solches vor, greift das Prinzip der Nichtdiskriminierung (Art 24 Abs 1 RL 2004/38/EG bzw Art 7 VO 492/2011, allenfalls „entsprechend“). In diesem Fall haben die betreffenden Personen, selbst wenn sie selbst Drittstaatsangehörige sind, Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld. Die entscheidende Frage ist daher, ob ein aus234dem Unionsrecht begründbares Aufenthaltsrecht im konkreten Fall vorliegt.

1.
Die Kernbestandsdoktrin des EuGH

Grundsätzlich muss ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen, um Unionsrecht (hier: die Bestimmungen über UnionsbürgerInnenschaft gem Art 20 AEUV) zur Anwendung zu bringen. Im Urteil Ruiz Zambrano (EuGH 8.3.2011, C-34/09) ist der Gerichtshof erstmals von dieser bis dahin universell geltenden Regel abgegangen und hat das Vorliegen eines aus dem Unionsrecht ableitbaren Aufenthaltsrechts von (nach innerstaatlichem Recht unrechtmäßig aufhältigen) drittstaatsangehörigen Eltern von minderjährigen UnionsbürgerInnen bejaht, die selbst keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt verwirklicht hatten. Der EuGH betont in stRsp, dass der UnionsbürgerInnenstatus dazu bestimmt ist, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“ (zuerst: EuGH 20.9.2001, C-184/99, Grzelczyk, Rz 31; siehe weiters anstatt vieler EuGH 2.3.2010, C-135/08, Rottmann, Rz 43). Im Urteil Ruiz Zambrano hat der EuGH die sogenannte Kernbestandsdoktrin entwickelt und ausgesprochen, dass Art 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegenstehen würde, die bewirken würden, dass „den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt“ würde. Das wäre dann der Fall, wenn den Eltern ein Aufenthaltsrecht verweigert würde, da in diesem Fall die genannten Kinder (UnionsbürgerInnen) gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten (EuGH Rs Ruiz Zambrano, Rz 42 und 44). Der Gerichtshof stellt weiters fest, dass die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte verleihen würden, sondern nur aus den Rechten der UnionsbürgerInnen abgeleitet werden könnten, diese also in ihrer Freizügigkeit beeinträchtigen könnte. Nur in „ganz besonderen Sachverhalten“ sei es möglich, dass Drittstaatsangehörigen dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden müsse, da sonst die UnionsbürgerInnenschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde (EuGH 13.9.2016, C-165/14, Rendon Martin, Rz 73).

In der Literatur wurde insb die knappe Begründung kritisiert: So besteht die Begründung im Wesentlichen aus fünf Randziffern, der EuGH befasst sich nicht mit den entgegengesetzten Ansichten der Europäischen Kommission und der Regierungen und „schafft es, die Grundrechte nicht behandeln zu müssen“ (Feik, Das [neue] Aufenthaltsrecht der Eltern von [minderjährigen] Unionsbürgern, Fabl 1/2011-II, 5). Der EuGH befasst sich in diesem Urteil auch nicht mit seiner früheren Rsp zum Freizügigkeitsrecht.

2.
Die Grenzen der Kernbestandsdoktrin

In den darauffolgenden Urteilen hat der EuGH die Kernbestandsdoktrin bestätigt und verfeinert, sodass diese mittlerweile zur gefestigten Rsp gezählt werden kann (so explizit EuGH 10.5.2017, C-133/15, Chavez-Vilchez, Rz 60; siehe auch Rihs, Unionsbürgerschaft; Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind [...], migraLex 2012, 30). Zunächst aber hat der EuGH insb im Urteil Dereci eine sehr zurückhaltende Linie zu der – von ihm selbst begründeten – Kernbestandsdoktrin vertreten: Der Wirkungsbereich wird deutlich enger gezogen als dies nach dem Urteil Ruiz Zambrano zu vermuten gewesen wäre (es scheint, „als ob der EuGH den Mut verloren hätte“, Doblhoff- Dier, Von der Unionsbürger_innenschaft und ihrem winzigen Kernbestand, juridikum 2012, 145). Die Kernbestandsdoktrin betrifft daher vorrangig Ausnahmesituationen, in denen es um „Sein oder Nichtsein“ geht, also um wirkliche existenzielle Beeinträchtigungen (Rihs, aaO). Anders als noch im Urteil Ruiz Zambano verweist der EuGH in den Urteilen Rendon Martin und CS (EuGH 13.9.2016, C-304/14) ausdrücklich auf Art 7 und 24 GRC (Achtung des Privat- und Familienlebens sowie Wohl des Kindes). Damit ist auch klargestellt, dass in die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch Überlegungen, die ausschließlich das Kindeswohl (dh das Wohl der minderjährigen UnionsbürgerInnen) betreffen, einzubeziehen sind (EuGH Rs Rendon Martin, Rz 81).

Im hier einschlägigen Urteil Chavez-Vilchez hatte der EuGH die Frage zu klären, ob minderjährige Kinder auch dann gezwungen wären, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, wenn der Vater dieses Kindes zwar im betreffenden Mitgliedstaat (im Anlassfall: Niederlande) lebt, ihm aber kein Sorgerecht zukommt. Der EuGH führt aus, dass zur Beurteilung des Risikos, dass sich das betroffene Kind (das die UnionsbürgerInnenschaft besitzt) gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn seinem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein Aufenthaltsrecht im fraglichen Mitgliedstaat verweigert würde, zu ermitteln sei, welcher Elternteil tatsächlich die Obsorge für das Kind wahrnehmen würde und ob ein tatsächliches (dh nicht ausschließlich bzw notwendigerweise rechtliches!) Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit bestehen würde. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis könne nicht deshalb verneint werden, weil der Vater (der auch Unionsbürger ist) tatsächlich im selben Mitgliedstaat leben würde (EuGH Rs Chavez-Vilchezz, Rz 70).

3.
Weitere Auslegung des „Kernbestandes“ für minderjährige Kinder

Die Verknüpfung von unionsrechtlichem Aufenthaltsrecht und Sozialrecht wurde bislang primär unter dem Gesichtspunkt eines Bezuges von Bedarfsorientierter Mindestsicherung bzw einer Ausgleichszulage von ökonomisch inaktiven UnionsbürgerInnen diskutiert (vgl insb EuGH 19.9.2013, C-140/12, Brey; EuGH 11.11.2014, C-333/2013, Dano; EuGH 15.9.2015, C-67/14, Alimanovic).235

Die Frage des Bezuges von sozialen Transferleistungen für Drittstaatsangehörige, die unter die Kernbestandsdoktrin fallen, wurde hingegen noch nicht gestellt.

Der OGH hat zu diesem Zweck die gesamte Judikatur des EuGH zum Kernbestand an Rechten abgearbeitet (siehe oben Urteil Pkt 3.2 ff) und die jeweils wesentlichen Aussagen herausgearbeitet. Die entscheidende Frage ist, wie aus diesen Urteilen die Lösung für die vorliegende Rechtsfrage gefiltert werden kann.

Der Schlüssel liegt mE in der Beziehung zwischen den beiden Urteilen Dereci und Chavez-Vilchez (und einer „Beimengung“ des Urteils Rendon Marin). Im Urteil Dereci hat der EuGH in einer restriktiven Auslegung seiner Kernbestandsdoktrin ausgesprochen, ein bloß „wünschenswerter“ EhegattInnennachzug sei nicht ausreichend für die Annahme, dass die UnionsbürgerInnen (= EhegattInnen) das Gebiet der Union als Ganzes verlassen müssten. Dabei ging es aber um EhegattInnen von UnionsbürgerInnen, also Personen, deren Ausgangslage hinsichtlich Selbsterhaltungsfähigkeit idR naturgemäß eine andere ist als im Fall von minderjährigen Kindern. Das Urteil Chavez-Vilchez betraf hingegen nicht erwachsene EhegattInnen, sondern minderjährige Kinder. Für Kinder – die ja von Obsorgeberechtigten abhängig sind – gilt anderes als für erwachsene EhegattInnen: In diesen Fällen liegt die Messlatte, wann diese Kinder de facto gezwungen wären, gemeinsam mit den drittstaatsangehörigen Eltern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, deutlich tiefer: Maßgeblich ist die Frage, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Ob der andere Elternteil in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet zwar einen Gesichtspunkt von Bedeutung, ist aber für sich allein nicht entscheidend (EuGH Rs Chavez-Vilchez, Rz 70). Es ist nämlich auch das Kindeswohl maßgebend zu berücksichtigen (vgl EuGH Rs Rendon Marin, Rz 66).

Somit bleibt nur die Frage zu klären (deren Lösung der OGH offenbar voraussetzt), ob bzw auf welcher Grundlage solche Drittstaatsangehörige, die über ein unmittelbar aus Art 20 AEUV ableitbares Aufenthaltsrecht verfügen, beim Bezug von sozialen Leistungen nicht diskriminiert werden dürfen. Zwar zitiert der OGH die EuGH-Judikatur, wonach es unionsrechtskonform ist, den Bezug von Sozialleistungen von UnionsbürgerInnen vom Vorliegen eines rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen (EuGH 14.6.2016, C-308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich), im vorliegenden Fall geht es aber um Rechte von Drittstaatsangehörigen, die aufgrund der Kernbestandsdoktrin unionsrechtlich aufenthaltsberechtigt sind. In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EuGH die RL 2004/38/EG nicht anwendbar (EuGH Rs Ruiz Zambrano, Rz 39; vgl auch EuGH 10.5.2017, C-133/15, Chavez-Vilchez, Rz 22). Auch das Recht, Kinderbetreuungsgeld zu beziehen und damit die Existenz der UnionsbürgerInnen in deren Kernbereich zu sichern, ergibt sich daher unmittelbar aus dem Primärrecht (Art 20 AEUV); Art 24 Abs 1 RL 2004/38/EG und Art 7 VO 492/2011, die sekundärrechtlich die Nichtdiskriminierung von UnionsbürgerInnen und deren Familienangehörigen regeln, können daher nur entsprechend angewendet werden. Es ist dabei sowohl denkbar, hinsichtlich der Voraussetzung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts gem § 9 NAG Anwendungsvorrang anzunehmen oder § 2 Abs 1 Z 5 KBGG iVm § 9 NAG unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass diese Voraussetzung auch dann erfüllt ist, wenn ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht vorliegt, selbst wenn (noch) keine Dokumentation ausgestellt wurde.

4.
Fazit

Das Urteil Chavez-Vilchez stellt insofern eine Weiterentwicklung der Kernbestandsdoktrin dar, als klargestellt wird, dass diese für minderjährige Kinder deutlich weiter reicht als für EhegattInnen. Die vorangegangene E des OGH, das Verfahren bis zum Urteil des EuGH in dieser Rechtssache auszusetzen (OGH 21.3.2017, 10 ObS 147/16i) hat sich als richtig erwiesen, da der EuGH die zur Klärung der vorliegenden Frage maßgeblichen Rechtsfragen tatsächlich geklärt hat. Sehr stringent leitet der OGH aus diesem Urteil und der Vorjudikatur ab, dass der Kl Rechte aus der Kernbestandsdoktrin ableiten kann. Die Tragweite des vorliegenden Urteils geht daher über den Einzelfall hinaus und leistet einen Beitrag zur Rechtssicherheit.236