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Kollektivvertrag für Nahrungs- und Genussmittelindustrie: Aliquoter Urlaubszuschuss bei zur Fälligkeit bereits vereinbarter einvernehmlicher Lösung

MANFREDTINHOF
§ 15 KollV für Arbeiter in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie

Nach dem Rahmen-KollV für Arbeiter in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie hat der AN im Falle der Vereinbarung einer einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses vor dem innerbetrieblich für alle AN festgelegten Auszahlungszeitpunkt des Urlaubszuschusses Anspruch auf den aliquoten, also entsprechend der zurückgelegten Dienstzeit im Kalenderjahr berechneten Anteil des Urlaubszuschusses, auch wenn das Arbeitsverhältnis erst nach diesem Auszahlungszeitpunkt endet.

SACHVERHALT

Das Arbeitsverhältnis einer AN wurde am 19.5.2016 zum 30.9.2016 einvernehmlich aufgelöst. Sie sollte vereinbarungsgemäß ihren anteiligen Gebührenurlaub bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses konsumieren. Entsprechend der Ermächtigung durch den anzuwendenden Rahmen- KollV für Arbeiter in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (kurz: KollV) wird im Betrieb der AG der Urlaubszuschuss jeweils einheitlich zum 30.6. des Jahres ausbezahlt. Mit der Juniabrechnung 2016 erhielt die AN den anteiligen Urlaubszuschuss für den Zeitraum 1.1. bis 30.9.2016 ausbezahlt. Mit der vorliegenden Klage begehrte die AN einen Urlaubszuschuss für weitere drei Monate (1.10. bis 31.12.2016). Sie machte geltend, dass nach dem KollV im Falle einer einvernehmlichen Auflösung eine anteilige Rückzahlungsverpflichtung nicht bestehe, sodass mit der Juniabrechnung der gesamte Urlaubszuschuss und nicht bloß der aliquote Teil fällig gewesen sei. Die bekl AG hielt dem entgegen, dass der KollV ausdrücklich eine Aliquotierung des Urlaubszuschusses für die AN- und AG-Kündigung bei Auszahlung vor Urlaubsantritt bzw vor Fälligkeit des Urlaubszuschusses normiere. Das müsse auch für den hier vorliegenden Fall der einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses gelten.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Der OGH ging von der Zulässigkeit der Revision aus, weil der Auslegung von Kollektivverträgen regelmäßig eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zukommt. Die Revision der Kl war jedoch nach Ansicht des Höchstgerichts nicht berechtigt. Der auf den restlichen Teil des Kalenderjahres entfallende Urlaubszuschuss wurde ihr somit nicht zugesprochen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Eine Gesamtschau des § 15 Abschnitt A KollV ergibt nach dem erkennbaren Zweck dieser Bestimmungen und ihrem Zusammenhang für den Fall der vor Auszahlung des Urlaubszuschusses vereinbarten einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses somit folgendes Bild:

Mit den in § 15 Abschnitt A KollV enthaltenen Regelungen verfolgen die Kollektivvertragsparteien ua den Zweck, den Urlaubszuschuss grundsätzlich nur aliquot, also entsprechend der zurückgelegten Dienstzeit im Kalenderjahr zu gewähren. Steht bereits vor dem innerbetrieblich für alle Arbeitnehmer festgelegten Zeitpunkt fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht das ganze Kalenderjahr andauern wird, haben Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis durch eine verpönte Beendigungsart endet, im Gegensatz zu Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis durch eine ‚neutrale‘ Beendigungsart endet, keinen Anspruch durch den Urlaubszuschuss, der der Dauer des Arbeitsverhältnisses entsprechen würde. Die Auslegung dieser Bestimmungen, wie sie von der Klägerin vorgenommen wird, dahin, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch einvernehmliche Auflösung gegenüber den ‚neutralen‘ Beendigungsarten von den Kollektivvertragsparteien mit der Gewährung des gesamten Urlaubszuschusses privilegiert werden soll, ist mit dem Zweck der Urlaubszuschussregelungen nicht vereinbar. Es liegt daher eine Lücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit vor, die durch Analogie zu schließen ist.

Die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses ist unzweifelhaft nicht mit einer der in § 15 Abschnitt A Abs 7 KollV erwähnten verpönten Beendigungsarten vergleichbar. Vielmehr hat eine zwischen den Arbeitsvertragsparteien vereinbarte einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses den Charakter einer ‚neutralen‘ Be-164endigungsart iSd § 15 Abschnitt A Abs 6 KollV. Die Lückenschließung hat daher schon zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch einvernehmliche Auflösung einerseits und durch Kündigung des Arbeitnehmers bzw Arbeitgebers (§ 15 Abschnitt A Abs 6 lit a) KollV) andererseits so zu erfolgen, dass auch im Falle der Vereinbarung der einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses vor Auszahlung des Urlaubszuschusses zum innerbetrieblich für alle Arbeitnehmer vereinbarten Auszahlungszeitpunkt die Rechtswirkungen des § 15 Abschnitt A Abs 6 KollV eintreten, der Urlaubszuschuss also nur entsprechend der bereits bekannten Dauer des Arbeitsverhältnisses im Kalenderjahr gewährt wird.“

ERLÄUTERUNG

Der Anspruch auf Sonderzahlungen, also auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, ist grundsätzlich nicht durch Gesetz, sondern durch KollV normiert. Der hier anzuwendende KollV für Arbeiter in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie enthält diesbezüglich aber eine – wie es der OGH bezeichnet – „Lücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit“: In seinem § 15 Abschnitt A Abs 9 regelt der KollV zwar den Entfall der anteiligen Rückzahlungsverpflichtung des bereits voll ausgezahlten Urlaubszuschusses bei einvernehmlicher Lösung, enthält aber keine Bestimmung darüber, was passieren soll, wenn bereits vor Fälligkeit des Urlaubszuschusses eine einvernehmliche Lösung vereinbart wurde. Um diese Lücke durch Analogie zu schließen, unterscheidet der OGH zunächst zwischen „neutralen“ und „verpönten“ Beendigungsarten und deren Rechtsfolgen auf den Anspruch auf Sonderzahlungen: Die „neutralen“ Beendigungsarten „AG-Kündigung“ und „AN-Kündigung“ sehen einen der Dienstzeit im Berechnungszeitraum entsprechenden anteiligen Anspruch auf den Urlaubszuschuss vor, während bei den „verpönten“ Beendigungsarten „unberechtigter Austritt“ und „berechtigte Entlassung“ gar kein Urlaubszuschuss vorgesehen ist. Dies gilt auch dann, wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits vor dem Auszahlungszeitpunkt des Urlaubszuschusses feststeht, aber erst nach diesem Zeitpunkt wirksam wird. Damit sind die im KollV geregelten „neutralen“ Beendigungsarten vergleichbar mit der Situation im vorliegenden Fall. Der OGH sieht in der einvernehmlichen Lösung ebenfalls eine „neutrale“ Beendigungsart. Sie ist unzweifelhaft nicht mit den „verpönten“ Beendigungsarten zu vergleichen. Wenn man der AN aber den Urlaubszuschuss auch für das restliche Jahr zuspräche, käme es zu einer Besserstellung der einvernehmlichen Lösung gegenüber den beiden anderen „neutralen“ Beendigungsarten, bei deren Vorliegen der Anspruch ja nur aliquot besteht. Da die Kollektivvertragsparteien dies aber nicht bezweckt hätten, steht auch bei einvernehmlicher Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubszuschuss lediglich anteilig zu.