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Stark einschränkende „Rufbereitschaft“ von Feuerwehrleuten ist Arbeitszeit

GERDAHEILEGGER
Art 2, 15, 17 Abs 3 Buchst c Z iii der RL 2003/88/EG

Bereitschaftszeit, die ein AN zu Hause verbringt und während der er der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des AG zum Einsatz innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, wodurch die Möglichkeit, anderen Tätigkeiten nachzugehen, erheblich eingeschränkt ist, ist als Arbeitszeit anzusehen.

Für die Frage der AN-Eigenschaft iSd RL 2003/88 ist es ohne Bedeutung, ob der Feuerwehrmann nach nationalem Recht den Status eines Berufsfeuerwehrmanns oder eines freiwilligen Feuerwehrmanns hat.

SACHVERHALT

Herr Matzak trat am 1.8.1980 in den Dienst der belgischen Stadt Nivelles ein und wurde ein Jahr später freiwilliger Feuerwehrmann. Berufsfeuerwehrleute und freiwillige Feuerwehrleute von Nivelles sind verpflichtet, ihren Wohnsitz an einem Ort zu haben, von dem aus die Feuerwehrkaserne bei normalem Verkehrsfluss und unter Einhaltung der Straßenverkehrsordnung in höchstens acht Minuten erreicht werden kann. Dementsprechend hatte er während Rufbereitschaftszeiten jederzeit an seinem Wohnsitz erreichbar und im Einsatzfall in maximal acht Minuten in der Feuerwehrkaserne zu sein.

Am 16.12.2009 strengte Herr Matzak ein Gerichtsverfahren mit dem Ziel an, von der Stadt Nivelles Schadenersatz dafür zu bekommen, dass ihm in seinen Dienstjahren kein Arbeitsentgelt für seine Leistungen als freiwilliger Feuerwehrmann, insb für seinen Bereitschaftsdienst zu Hause bezahlt worden wäre. Er machte im Wesentlichen geltend, dass es sich bei den Bereitschaftszeiten in Wirklichkeit um Arbeitszeit handle. Das zuständige belgische Gericht legt daher dem EuGH die Frage vor, ob solche Bereitschaftsdienste im Hinblick auf das Arbeitsentgelt unter die Definition der Arbeitszeit iSd RL 2003/88 fallen.165

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„28 [… ] Der Arbeitnehmerbegriff für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 kann nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden, sondern hat eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung (Urteil vom 14.10.2010, Union syndicale Solidaires Isère, C-428/09, EU:C:2010:612, Rn 28). Nach einschlägiger ständiger Rechtsprechung ist als ‚Arbeitnehmer‘ jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal, das ein Arbeitsverhältnis definiert, bleibt, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (Urteil vom 26.3.2015, Fenoll, C-316/13, EU:C:2015:200, Rn 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Ferner hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Rechtsnatur eines Arbeitsverhältnisses nach nationalem Recht keine Bedeutung für die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben kann (Urteil vom 20.9.2007, Kiiski, C-116/06, EU:C:2007:536, Rn 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Somit ist es in Bezug auf das Ausgangsverfahren für die Einordnung von Herrn Matzak als ‚Arbeitnehmer‘ im Sinne der Richtlinie 2003/88 ohne Bedeutung, dass er nach nationalem Recht nicht den Status eines Berufsfeuerwehrmanns, sondern eines freiwilligen Feuerwehrmanns hat. […]

34 […] Art 2 der Richtlinie 2003/88 gehört nicht zu den Bestimmungen der Richtlinie, von denen abgewichen werden darf (Beschluss vom 4.3.2011, Grigore, C-258/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:122, Rn 45).

35 Nach dem Wortlaut von Art 17 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten nämlich von den Art 3 bis 6, 8 und 16 der Richtlinie abweichen, und Art 17 Abs 3 der Richtlinie stellt klar, dass für die darin genannten Dienste, darunter die der Feuerwehr, Abweichungen von den Art 3, 4, 5, 8 und 16 der Richtlinie zulässig sind. […]

37 Zudem gibt es […] keinen Raum für eine weite Auslegung von Art 17 der Richtlinie, die über den ausdrücklichen Wortlaut der darin gestatteten Ausnahmen hinausgehen könnte. […]

45 […] Die Richtlinie soll auf den Gebieten, die ihrem Geltungsbereich unterfallen, einen Mindestschutz sicherstellen, der für alle Arbeitnehmer in der Union gilt. Zu diesem Zweck und um die volle Wirksamkeit der Richtlinie sicherzustellen, dürfen die Definitionen in ihrem Art 2 nicht abhängig vom nationalen Recht unterschiedlich ausgelegt werden, sondern haben, wie in Rn 28 des vorliegenden Urteils für den Begriff ‚Arbeitnehmer‘ klargestellt, eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung (vgl in diesem Sinne Urteil vom 1.12.2005, Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

46 In diesem Kontext ist jedoch klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten zwar nicht das Recht haben, die Definition der ‚Arbeitszeit‘ im Sinne von Art 2 der Richtlinie 2003/88 zu ändern, ihnen aber […] freisteht, in ihrem jeweiligen nationalen Recht Regelungen zu treffen, die günstigere Arbeits- und Ruhezeiten für Arbeitnehmer vorsehen als die in der Richtlinie festgelegten. […]

49 […] Die Richtlinie 2003/88 regelt nicht die Frage des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer, da dieser Aspekt nach Art 153 Abs 5 AEUV außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt.

50 Somit haben die Mitgliedstaaten zwar das Recht, das Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer im Geltungsbereich der Richtlinie 2003/88 entsprechend den Definitionen der Begriffe ‚Arbeitszeit‘ und ‚Ruhezeit‘ in Art 2 der Richtlinie festzulegen, verpflichtet sind sie dazu aber nicht.

51 Die Mitgliedstaaten können somit in ihrem nationalen Recht bestimmen, dass das Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers für die ‚Arbeitszeit‘ von dem für die ‚Ruhezeit‘ abweicht, und dies sogar so weit, dass für letztere Zeiten gar kein Arbeitsentgelt gewährt wird. […]

59 […] Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für die Einordnung als ‚Arbeitszeit‘ im Sinne der Richtlinie 2003/88 entscheidend, dass sich der Arbeitnehmer an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können. Diese Verpflichtungen, aufgrund deren der betroffene Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort während der Bereitschaftszeiten nicht frei bestimmen kann, sind als Bestandteil der Wahrnehmung seiner Aufgaben anzusehen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 9.9.2003, Jaeger, C-151/02, EU:C:2003:437, Rn 63, sowie Beschluss vom 4.3.2011, Grigore, C-258/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:122, Rn 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]

63 Die Verpflichtung, persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend zu sein, sowie die Einschränkung, die sich aus geografischer und zeitlicher Sicht aus dem Erfordernis ergibt, sich innerhalb von acht Minuten am Arbeitsplatz einzufinden, können objektiv die Möglichkeiten eines Arbeitnehmers in Herrn Matzaks Lage einschränken, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen.

64 Angesichts dieser Einschränkungen unterscheidet sich die Situation von Herrn Matzak von der eines Arbeitnehmers, der während seines Bereitschaftsdienstes einfach nur für seinen Arbeitgeber erreichbar sein muss.

65 Unter diesen Umständen ist der Begriff ‚Arbeitszeit‘ in Art 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass eine Situation darunter fällt, in der ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, die Zeit des Bereitschaftsdienstes zu Hause zu verbringen, für seinen Arbeitgeber verfügbar zu sein und sich in-166nerhalb von acht Minuten an seinem Arbeitsplatz einfinden zu können.“

ERLÄUTERUNG

Im vorliegenden Fall hatte sich der EuGH wieder einmal mit der arbeitszeitrechtlichen Einordnung von Bereitschaftszeiten zu beschäftigen. Grundsätzlich zählen Tätigkeiten von AN entweder zur Arbeitszeit oder zur Ruhezeit iS eines „entweder – oder“; es gibt nichts dazwischen.

Nach stRsp des EuGH gehört Arbeitsbereitschaft zur Arbeitszeit und unterliegt damit grundsätzlich auch deren Beschränkungen. Dasselbe gilt nach österreichischem Recht mit gewissen Erweiterungen wie zB §§ 5 iVm 9 AZG die Höchstgrenzen der Arbeitszeit betreffend. Durch eine solche Verlängerung der Arbeitszeit bei Arbeitsbereitschaft dürfen die Grenzen der Arbeitszeit-RL natürlich nicht gesprengt werden, was durch die absoluten Höchstgrenzen des § 9 Abs 4 AZG sicherstellt wird.

Dass die Intensität der Arbeitsleistung am Arbeitsplatz für die Qualifikation als Arbeitszeit keine Rolle spielt, hat der EuGH mehrfach ausgesprochen. Die persönliche Anwesenheit und die Verfügbarkeit des AN am Arbeitsort während seines Bereitschaftsdienstes ist als Bestandteil der Wahrnehmung seiner Aufgaben anzusehen und führt damit zur Qualifikation als Arbeitszeit (vgl in diesem Sinne EuGH 3.10.2000, C-303/98, Simap).

Bei der Rufbereitschaft kann der AN typischerweise seinen Aufenthaltsort wie auch seine Tätigkeiten (weitgehend) selbst bestimmen. Klar ist, dass Arbeitszeit vorliegt, sobald der AN aus der Arbeitsbereitschaft „zum Dienst gerufen“ wird und in weiterer Folge tatsächlich Arbeitstätigkeiten verrichtet. Aber auch solange er sich noch in Rufbereitschaft befindet, ist der AN natürlich Beschränkungen ausgesetzt: Er sollte Orte meiden, an denen er keinen Empfang hat, keinen Anruf überhören (also zB nicht tief schlafen), keinen Alkohol trinken, generell nichts tun, was einem plötzlichen Arbeitsantritt entgegen stünde. Auch sein Aufenthaltsort unterliegt Einschränkungen, wenn er innerhalb bestimmter Zeit die Arbeit antreten soll und die Entfernung in dieser Zeit bewältigbar sein muss.

Rufbereitschaft zählt trotz dieser Einschränkungen zwar nicht zur Arbeitszeit, allerdings beschränken § 20a AZG und § 6a ARG die Zulässigkeit deren Vereinbarung auf ein monatliches Höchstausmaß, um eine zermürbende Dauerbereitschaft zu verhindern.

Je mehr Restriktionen der AN während der Rufbereitschaft hinnehmen muss, desto mehr rückt nach Ansicht des OGH der Sachverhalt weg von der Ruhezeit in Richtung Arbeitsbereitschaft und damit Arbeitszeit. Im konkreten Fall liegen mehrere derartige Komponenten vor: Der AN durfte seinen Aufenthaltsort während der Bereitschaft nicht selbst wählen, sondern musste sich an seinem Wohnort aufhalten. Ebenso war die Zeit vom Ruf bis zum Arbeitsantritt mit acht Minuten extrem kurz. In diesem Sinne entschied auch der EuGH folgerichtig, dass keine Rufbereitschaft, sondern Arbeitsbereitschaft vorliegt, die zur Arbeitszeit zählt.