Arbeitszeitrechtliche Wertung von Bereitschaftszeiten: Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft vor EuGH und OGH

GERDAHEILEGGER

Dass Bereitschaftsdienste, die AN am Arbeitsplatz leisten, zur Arbeitszeit zu zählen sind, ist mittlerweile seit etwa zwei Jahrzehnten* stRsp des EuGH. In der E vom 21.2.2018, C-518/15, Matzak,* hat sich der EuGH nunmehr explizit zur rechtlichen Qualifikation von Bereitschaftszeiten geäußert, die der AN nicht an der Arbeitsstätte, sondern zu Hause verbrachte. Im Folgenden wird die Judikatur zu Bereitschaftszeiten kurz dargestellt und versucht, Kriterien herauszuarbeiten, wann Bereitschaftszeiten zur Arbeitszeit zählen und damit auch deren Beschränkungen unterliegen und wann sie als Rufbereitschaft zur Ruhezeit zählen.

1.
Arbeitszeit und Ruhezeit iSd europäischen ArbeitszeitRL

Als Arbeitszeit definiert die ArbeitszeitRL 2003/88/EG in Art 2 Z 1 jede Zeitspanne, während der ein AN gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem AG zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Ruhezeit ist gem Art 2 Z 2 der RL 2003/88 jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.

Aus diesen beiden Definitionen geht klar hervor, dass es sich entweder um Arbeitszeit oder um Ruhezeit handelt, es gibt keine Zwischenkategorie.* Auch Bereitschaftszeiten, die gefühlsmäßig je nach der konkreten Beanspruchung „irgendwo dazwischen“ liegen, sind demnach strikt entweder als Arbeitszeit oder als Ruhezeit zu qualifizieren. Auf die Intensität der Arbeitsleistung kommt es nicht an.

Diese in Art 2 normierten Definitionen von Arbeitszeit und Ruhezeit iSd RL 2003/88 stellen gemeinschaftsrechtliche Begriffe dar, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zweckes der RL zu bestimmen sind. Regelungszweck der RL – sowohl der jetzigen ArbeitszeitRL 2003/88 wie auch der VorgängerRL 93/104* – ist es, Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung der AN aufzustellen.*

Nur eine solche autonome Auslegung kann die volle Wirksamkeit der ArbeitszeitRL und eine einheitliche Anwendung der genannten Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherstellen.* Die Mitgliedstaaten dürfen daher die Bedeutung der in Art 2 enthaltenen Begriffe nicht einseitig festlegen. Jede andere Auslegung würde der ArbeitszeitRL ihre praktische Wirksamkeit nehmen.*

Sind Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit iSd Art 2 Z 1 der RL 2003/88 zu qualifizieren, so unterliegen sie damit auch der Beschränkung des Art 6: Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit darf 48 Stunden (einschließlich der Überstunden) nicht überschreiten.259

Andererseits dürfen natürlich auch nur (Bereitschafts-)Zeiten, die nicht als Arbeitszeit zu qualifizieren sind, zur Ruhezeit gezählt werden, die gem Art 3 der RL 2003/88 pro 24-Stunden-Zeitraum mindestens elf zusammenhängende Stunden betragen muss. Somit ist die Einordnung von Bereitschaftszeiten in das System der ArbeitszeitRL von großer Bedeutung für die Zulässigkeit solcher Bereitschaftsdienste.

2.
EuGH zu Arbeitsbereitschaft

In den EuGH-Entscheidungen Rs Simap, Rs Sergas,* Rs Jäger sowie Rs Vorel ging es im Wesentlichen um Ärzte, die zusätzlich zu ihren regulären (aktiven) Arbeitszeiten noch Bereitschaftsdienste vor Ort (in der jeweiligen Gesundheitseinrichtung) abzuleisten hatten. In den verbundenen Rs Pfeiffer ua handelte es sich um Rettungsassistenten, die auch Bereitschaftsdienst auf der Rettungswache leisten, während im Fall Dellas ein Erzieher in Einrichtungen für behinderte Jugendliche dort oft die Nacht in Bereitschaft verbrachte. In den Fällen Rs Feuerwehr Hamburg* und Fuß* ging es um Feuerwehrleute, die Bereitschaftsdienst auf der Feuerwache abzuleisten hatten. In all diesen Fällen wurde durch die Kombination von aktiven Arbeitszeiten mit Bereitschaftszeiten in Summe die gem Art 6 maximal zulässigen durchschnittlich 48 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit überschritten.

Der EuGH stellte in allen genannten Fällen fest, dass die Verpflichtung der AN, sich zur Erbringung ihrer beruflichen Leistungen am Arbeitsplatz aufzuhalten und verfügbar zu sein, als Bestandteil der Wahrnehmung ihrer Aufgaben iSd Art 2 Z 1 der ArbeitszeitRL anzusehen und damit in vollem Umfang als Arbeitszeit zu qualifizieren ist. Dass der Bereitschaftsdienst Zeiten der Inaktivität umfasst, ist in diesem Kontext unerheblich.* Auch der Umstand, dass der AG dem AN einen Ruheraum zur Verfügung stellt, in dem sich dieser aufhalten kann, solange keine beruflichen Leistungen von ihm verlangt werden, ändert nichts an diesem Ergebnis.*

Als entscheidende Merkmale für die Qualifizierung von Bereitschaftszeit als Arbeitszeit führt der EuGH* an: die Verpflichtung des AN,

– sich an einem vom AG bestimmten Ort aufzuhalten und

– sich zur Verfügung des AG zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können.*

Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel der ArbeitszeitRL, die Sicherheit und Gesundheit der AN zu gewährleisten, indem ihnen Mindestruhezeiten sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. Dieses Ziel würde ernsthaft gefährdet, wenn der Bereitschaftsdienst in Form persönlicher Anwesenheit nicht unter den Begriff der Arbeitszeit fiele.*

3.
EuGH zu Rufbereitschaft

Anderes soll nach Ansicht des EuGH* allerdings dann gelten, wenn AN Bereitschaftsdienst in der Weise leisten, dass sie ständig erreichbar sind, ohne jedoch zur Anwesenheit in der Gesundheitseinrichtung verpflichtet zu sein (Rufbereitschaft). Denn selbst wenn AN ihrem AG in dem Sinne zur Verfügung stehen, dass sie erreichbar sein müssen, können die AN in dieser Situation freier über ihre Zeit verfügen und eigenen Interessen nachgehen, sodass nur die Zeit, in der sie tatsächlich Arbeitsleistungen erbringen, als „Arbeitszeit“ iSd ArbeitszeitRL anzusehen ist.

Interessant war in diesem Zusammenhang die neue EuGH-E Matzak, in der es um einen Feuerwehrmann ging, der seinen Bereitschaftsdienst nicht in der Feuerwehrkaserne, sondern zu Hause zubrachte. Während man deshalb auf den ersten Blick hätte Rufbereitschaft vermuten können, zeigt eine nähere Betrachtung des Sachverhalts, dass die Einschränkungen dafür viel zu massiv waren: Der AN hatte nicht die freie Wahl seines Aufenthaltsortes, sondern war verpflichtet, sich an seinem Wohnsitz aufzuhalten. Dieser musste an einem Ort sein, von dem aus die Feuerwehrkaserne bei normalem Verkehrsfluss und unter Einhaltung der Straßenverkehrsordnung in höchstens acht Minuten erreichbar war. Dementsprechend hatte der AN während Rufbereitschaftszeiten jederzeit an seinem Wohnsitz erreichbar und im Einsatzfall in maximal acht Minuten in der Feuerwehrkaserne zu sein.

Somit waren sämtliche Kriterien des EuGH für das Vorliegen von Arbeitsbereitschaft, die zur Arbeitszeit zu zählen ist, erfüllt: Der AN durfte seinen Aufenthaltsort während der Bereitschaftszeiten nicht frei bestimmen und musste überdies gegebenenfalls binnen extrem kurzer Zeit – acht Minuten – vor Ort sein und seine Arbeitsleistung erbringen. Dies schränkte objektiv die Möglichkeiten des AN, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen widmen zu können, zu sehr ein.* In diesem Sinne entschied der EuGH folgerichtig, dass es sich bei diesem Bereitschaftsdienst um260 die Wahrnehmung der Aufgaben des AN und damit in vollem Umfang um Arbeitszeit handle.*

4.
Arbeitsbereitschaft nach österreichischem Recht

Auch im österreichischem Recht gibt es weder eine Legaldefinition der Rufbereitschaft noch der Arbeitsbereitschaft. Die von der Rsp entwickelten Definitionen gleichen allerdings weitgehend der oben geschilderten ständigen Spruchpraxis des EuGH.

Arbeitsbereitschaft liegt vor, wenn der AN nicht Arbeiten ieS verrichtet, sondern sich an einem vom AG bestimmten Ort für die jederzeit mögliche Arbeitsaufnahme bereithält.* Dass Arbeitsbereitschaft auch nach dem AZG grundsätzlich zur Arbeitszeit zählt und damit auch deren Beschränkungen unterliegt, ergibt sich schon zwingend aus der Regelung des § 5 AZG, die unter gewissen Voraussetzungen eine Verlängerung der Normalarbeitszeit bei Arbeitsbereitschaft zulässt. Würde Arbeitsbereitschaft nicht grundsätzlich zur Arbeitszeit zählen, wäre eine solche Regelung überflüssig. § 5 Abs 1 AZG lässt bei regelmäßigem Vorliegen von Arbeitsbereitschaft in erheblichem Umfang* eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zwölf Stunden und eine wöchentliche Normalarbeitszeit von bis zu 60 Stunden durch KollV oder BV zu. Diese Zulassung ist gem § 9 Abs 5 AZG von der in § 9 Abs 4 enthaltenen Beschränkung auf das EU-rechtlich zulässige Ausmaß der wöchentlichen Arbeitszeit ausgenommen und damit EU-rechtswidrig.

5.
Rufbereitschaft nach österreichischem Recht

Rufbereitschaft liegt auch nach österreichischer Judikatur vor, wenn der AN an einem von ihm selbst gewählten Ort erreichbar sein muss, um gegebenenfalls vom AG zum Arbeitsantritt in zumutbarer Zeit aufgefordert werden zu können. Demnach ist der AN in der Wahl seines Aufenthaltsortes nicht vollkommen frei, denn es muss ihm möglich sein, im Falle eines Arbeitseinsatzes in angemessener Zeit am Arbeitsplatz zu erscheinen.

Zu knappe Zeitvorgaben für den Dienstantritt, die den AN in der Wahl seines Aufenthaltsortes zu sehr einschränken, schließen somit eine Rufbereitschaft aus. Nach Ansicht des OGH läuft allein die Vorgabe, dass ein AN innerhalb von 30 Minuten an der Arbeitsstätte eintreffen muss, regelmäßig noch nicht auf einen Zwang zum Aufenthalt an der Arbeitsstätte hinaus.* Auch wenn AN mit einem weiter entfernten Wohnort für die Zeiten ihrer Ruferreichbarkeit ein kostenloses Dienstzimmer nahe der Arbeitsstätte zur Verfügung gestellt wird, liegt dennoch Ruferreichbarkeit und keine Anwesenheitspflicht vor, wenn es den AN überlassen bleibt, in welchem Umfang sie von dieser Aufenthaltsmöglichkeit Gebrauch machen.* Allerdings wird davon auszugehen sein, dass noch kürzere Zeiten als eine halbe Stunde bis zum Arbeitsantritt schon allein auf Grund der kurzen Reaktionszeit nicht mehr zur Rufbereitschaft zählen, sondern als Arbeitsbereitschaft zu werten sind.

Eine zusätzliche Einschränkung ergibt sich aus der Häufigkeit der Einsätze während der Rufbereitschaft.* Muss ein AN damit rechnen, während seiner Rufbereitschaft wiederholt zur Arbeit gerufen zu werden, so ist die Bereitschaftszeit als Arbeitsbereitschaft zu werten und nicht als Rufbereitschaft.

Rufbereitschaft zählt grundsätzlich nicht zur Arbeitszeit, sondern nur allfällige Arbeitseinsätze während der Rufbereitschaft. Ungeklärt ist, ob Wegzeiten beim Ruf zum Arbeitseinsatz während der Rufbereitschaft zur Arbeitszeit zählen. Dafür spricht, dass der AN von dem Arbeitseinsatz überrascht wird, es zu mehrfachen Einsätzen kommen kann, er keine Besorgungen am Weg oä einplanen kann und sich auf kürzestem Wege zur Arbeitsstätte begeben muss. Der Arbeitsweg ist somit zu einem Gutteil der privaten Verfügung des AN entzogen und eine Zurechnung zur Arbeitszeit erscheint somit durchaus schlüssig.

Da aber auch Rufbereitschaft den AN in seiner freien Entfaltung beschränkt (er muss erreichbar sein, arbeitsfähig sein usw), ist ihre Zulässigkeit (außerhalb der Arbeitszeit; während der Arbeitszeit ist die Verpflichtung, erreichbar zu sein, ja nicht weiter problematisch) durch § 20a AZG auf zehn Tage pro Monat (bzw mittels KollV auf 30 Tage in drei Monaten) beschränkt. § 6a ARG lässt die Vereinbarung von Rufbereitschaft nur während zwei wöchentlicher Ruhezeiten pro Monat zu.

6.
Abgeltung von Bereitschaftszeiten

Zeiten der Arbeitsbereitschaft sind, da es sich dabei ja um Arbeitszeit handelt, grundsätzlich wie Vollarbeitszeit zu entlohnen. Allerdings können Kollektivverträge für Zeiten der Arbeitsbereitschaft geringere Stundenentgelte oder etwa261 auch den Entfall des Überstundenzuschlags vorsehen.* Das vereinbarte Entgelt für die Normalarbeitszeit darf natürlich bei Arbeitsbereitschaft während der Normalarbeitszeit nicht geschmälert werden. Dies wäre schon wegen unzulässiger Überwälzung des Unternehmerrisikos unzulässig.

Leistet ein AN Rufbereitschaft außerhalb der Arbeitszeit, so gebührt ihm dafür Entgelt, das allerdings geringer sein kann als das Entgelt für die Arbeitsleistung selbst. Bestimmen weder KollV noch Einzelvereinbarung das für Rufbereitschaft zustehende Entgelt, so gilt gem § 1152 ABGB ein angemessenes Entgelt als bedungen. Im Zuge der Angemessenheitsprüfung wird auch die Ortsüblichkeit, Branchenüblichkeit und die Qualifikation des AN zu berücksichtigen sein. Rufbereitschaftsentgelte in ähnlichen Kollektivverträgen stellen eine gute Quelle für die Ermittlung des angemessenen Rufbereitschaftsentgelts dar.

Die europäische ArbeitszeitRL beschränkt sich im Wesentlichen darauf, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der AN findet.* Somit steht die ArbeitszeitRL der Anwendung einer Regelung durch einen Mitgliedstaat nicht entgegen, die bei der Vergütung des AN für Bereitschaftsdienst an seinem Arbeitsplatz die Zeitspannen, während deren die Arbeitsleistungen tatsächlich erbracht werden, und diejenigen, während deren keine tatsächliche Arbeit erbracht wird, unterschiedlich berücksichtigt, soweit eine solche Regelung uneingeschränkt die praktische Wirksamkeit der den AN durch diese RL gewährten Rechte in Hinblick auf einen wirksamen Schutz der Gesundheit und der Sicherheit gewährleistet.*

7.
Conclusio

Die Behandlung von Bereitschaftszeiten auf europäischer und auf innerstaatlich österreichischer Ebene ist im Ergebnis erstaunlich kongruent. Es gibt keine Legaldefinitionen, aber die Rsp von EuGH und OGH hat ein sehr ähnliches Verständnis von Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft hervorgebracht. Die (zu) weitgehende Möglichkeit der Verlängerung der Arbeitszeit bei Arbeitsbereitschaft gem § 5 AZG ist allerdings durch die EuGH-Judikatur (siehe Pkt 2.) überholt und nicht mehr zulässig. Die ArbeitszeitRL trifft grundsätzlich keine entgeltrechtlichen Regelungen und steht demnach innerstaatlichen Konstruktionen, die für Arbeitsbereitschaft geringere Entlohnung als für Vollarbeitszeit vorsehen, nicht im Wege, sofern nur die arbeitszeitschutzrechtliche Seite gewahrt bleibt.