Selbstständig oder unselbstständig: Neuregelung der Zuordnung von Sozialversicherten* – Einige Thesen aus der Sicht eines Praktikers
Selbstständig oder unselbstständig: Neuregelung der Zuordnung von Sozialversicherten* – Einige Thesen aus der Sicht eines Praktikers
Eine der wesentlichsten Grundsatzentscheidungen unserer sozialen Marktwirtschaft ist die Frage, ob die Erwerbsarbeit von Wirtschaftssubjekten in selbständiger oder unselbständiger Form erfolgt. Diese Unterscheidung trifft unsere Rechtsordnung vorrangig im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht. Die Auswirkungen reichen aber weit über diese Rechtsgebiete hinaus, letztlich bis ins Organisationsrecht der gesetzlichen Interessenvertretungen: die Mitgliedschaft bei Arbeiter- und Wirtschaftskammern.
Das Grundproblem ist materiell-rechtlicher Natur und spiegelt sich in der Abgrenzung echter262 Dienstvertrag – freier Dienstvertrag – Werkvertrag wider. Die sozialversicherungsrechtliche Rsp stellt dafür nur einen Kriterienkatalog zur Verfügung, letztlich handelt es sich um Einzelfallentscheidungen, teilweise mit bemerkenswerten Ausreißern.* Die Auslegungs- und Vollziehungspraxis ist in den Randbereichen uneinheitlich. Die daraus resultierenden Umqualifizierungen stellten bisher zwar kein zahlenmäßiges Massenphänomen dar,* die Diskussion wurde vielmehr überwiegend anhand spektakulärer Einzelfälle geführt (bis hin zu Insolvenzfällen). Aber letztlich kam es für Auftraggeber und Auftragnehmer doch zu einem beträchtlichen Gefühl der Unsicherheit. Diese Thematik hat durchaus eine beachtliche Breite: Die WKO verzeichnete mit Stand 31.12.2016 (letzte verfügbare Zahlen) insgesamt 305.603 Ein-Personen-Unternehmen als Mitglieder. Bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) waren 51.024 Neue Selbständige gem § 2 Abs 1 Z 4 GSVG versichert.*
Die bisher für diese Abgrenzung zur Verfügung stehenden Instrumente brachten nur dürftige Ergebnisse. Die inhaltlich an das Verfahren des § 194a GSVG angelehnte Zweifelsfallprüfung und die mit Beschluss der Trägerkonferenz vom 5.6.2012 eingeführte Schlichtungsstelle konnten nicht überzeugen.* Das nunmehr in Kraft getretene SV-ZG basiert auf einer politischen Einigung der Sozialpartner im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach im Sommer 2016. Die legistische Umsetzung erfolgte mit dem am 1.7.2017 in Kraft getretenen Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz (SV-ZG).* Das SV-ZG stellt lediglich Verfahrensrecht (formelles Recht) dar. Das grundlegende materiell-rechtliche Problem wurde nicht gelöst.
Zentrales Ziel des SV-ZG ist mehr Rechtssicherheit für Auftraggeber und Auftragnehmer im Hinblick auf die sozialversicherungsrechtliche Zuordnung ihres Vertragsverhältnisses. Dem Gesetz lassen sich aber noch einige zusätzliche Zielsetzungen entnehmen:
– Der Informationsaustausch und die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Sozialversicherungsträgern untereinander und mit der Finanz.*
– Die Minimierung der Gefahr, dass aufgrund von nachträglichen Umqualifizierungen erhebliche finanzielle Belastungen auf den Auftraggeber zukommen.
– Die Kongruenz von Klassifizierungs- und Kontrollorgan: Damit ist gemeint, dass derjenige, dem später die Überprüfung der korrekten Qualifikation eines Beschäftigungsverhältnisses obliegt, nämlich dem Sozialversicherungsträger, auch am Beginn der Tätigkeit die Einordnung vornimmt. Diese Aufgabe wird nicht wie bisher erst einmal an Beteiligte außerhalb der SV (DG, Steuerberater, Rechtsanwälte etc) abgetreten. Die durch das SV-ZG neu statuierte Vorgehensweise hat zentrale Bedeutung vor allem vor dem bekannten Hintergrund, dass die Judikatur zur heiklen Abgrenzungsmaterie sehr vielfältig und auch für den Experten (Steuerberater, Rechtsanwalt) nicht immer leicht zu überblicken ist. Wird die Klassifizierung gleich zu Beginn der Tätigkeit vom späteren Kontrollorgan vorgenommen, so kann die mögliche Fehlerquelle eines „Expertenirrtums“ ausgeschaltet werden. Vielmehr hat der Kontrolleur bereits vorab (ex ante) seine – insb in Zweifelsfällen relevante – Handschrift im Hinblick auf Gesetzesauslegung und Vollzug der höchstgerichtlichen Rsp hinterlassen.
Das SV-ZG kennt drei Verfahrensarten, nämlich die Versicherungszuordnung aufgrund der Anmeldung zur Pflichtversicherung (Vorabprüfung gem § 412d ASVG), die Versicherungszuordnung aufgrund einer amtswegigen Sachverhaltsfeststellung (Neuzuordnung gem § 412b ASVG) sowie die Versicherungszuordnung auf Antrag gem § 412e ASVG. Mengenmäßig dominiert das Verfahren der Vorabprüfung. Im Zeitraum 1.7.2017 bis 28.2.2018 wurden in der SV insgesamt ca 5.700 Zuordnungsverfahren eingeleitet, darunter über 95 % Vorabprüfungen. Dabei ergeben sich drei Fallkonstellationen:
1. SVA/Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB) und Gebietskrankenkasse (GKK) sind sich263 einig – Prüfung ergibt GSVG-/BSVG-Pflichtversicherung (Konsens GSVG/BSVG): Es bleibt bei der angemeldeten Pflichtversicherung nach GSVG/ BSVG und der Zuständigkeit der SVA/SVB. Die Pflichtversicherung nach GSVG/BSVG ist von der SVA/SVB mittels Bescheid festzustellen (§ 194b GSVG; § 182a BSVG; § 412c Abs 1 Z 2 ASVG).
2. SVA/SVB und GKK sind sich einig – Prüfung ergibt ASVG-Pflichtversicherung (Konsens ASVG): Es kommt zu einer Neuzuordnung zum ASVG. Die Pflichtversicherung nach ASVG muss von der GKK grundsätzlich nicht mittels Bescheid festgestellt werden, es sei denn, Versicherter oder DG verlangen dies (§ 410 Abs 1 Z 7 ASVG).
3. SVA/SVB und GKK sind sich uneinig – SVA/ SVB plädiert für eine Zugehörigkeit zum GSVG/ BSVG, hingegen plädiert die GKK für eine Zugehörigkeit zum ASVG (Dissens): Es kommt zu einer Neuzuordnung zum ASVG. Die Pflichtversicherung nach ASVG ist von der GKK mittels Bescheid festzustellen (§ 412c Abs 2 ASVG). Im Bescheid hat sich die GKK im Rahmen der rechtlichen Beurteilung mit dem abweichenden Vorbringen der SVA/SVB auseinanderzusetzen (§ 412c Abs 3 ASVG), widrigenfalls ein Verfahrensmangel zu Tage tritt. Der Bescheid ist nicht nur dem Versicherten und dem DG zuzustellen, sondern auch der SVA/SVB sowie dem sachlich und örtlich zuständigen Finanzamt (§ 412c Abs 4 ASVG). In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage findet sich der Passus, dass aufgrund der rechtswissenschaftlichen Literatur davon auszugehen sein wird, dass der SVA/SVB ein Beschwerderecht zukommt (Parteistellung).*
Die Versicherungszuordnung auf Antrag (§ 412e ASVG) und die Versicherungszuordnung aufgrund amtswegiger Sachverhaltsfeststellung (§ 412b ASVG) führen praktisch derzeit zu keinen nennenswerten Fallzahlen.
Die für die Praxis relevantesten Rechtsfolgen des SV-ZG sind die Bindungswirkung für SV und Finanz sowie die Anrechnung der vom ehemaligen Selbständigen an SVA/SVB bezahlten Beiträge bei der Nachverrechnung durch die GKK. Die Bindungswirkung des § 412c ASVG bewirkt, dass eine vom zuständigen Versicherungsträger durchgeführte Versicherungszuordnung sämtliche Träger/ Behörden (GKK, SVA/SVB, Finanzamt) bei einer späteren Prüfung hinsichtlich der getroffenen Beurteilung bindet (§ 412c Abs 1–2 ASVG). Das soll verhindern, dass eine einmal getroffene Einstufung später wieder revidiert wird oder gar zwei Versicherungsträger gegensätzliche Entscheidungen treffen.* Die Bindungswirkung tritt nicht nur in jenen Fällen ein, in denen ein Bescheid erlassen wurde (Fallkonstellationen 1 und 3), sondern auch dann, wenn eine bescheidmäßige Feststellung unterblieb, weil sie nicht erforderlich war (Fallkonstellation 2). In Bezug auf die Frage der Anrechnung von Sozialversicherungsbeiträgen ist festzuhalten, dass im Falle einer Umqualifizierung eines vermeintlich Selbstständigen in einen echten bzw freien DN bislang der DG (vormals Auftraggeber) sowohl die ASVG-DG-Beiträge als auch die ASVG-DN-Beiträge zur Gänze zu tragen hatte,* und zwar für die vergangenen drei bis maximal fünf Jahre (§ 68 Abs 1 ASVG). Die vom vermeintlich Selbstständigen ungebührlich entrichteten GSVG-/BSVG-Beiträge konnte sich dieser auf Antrag von der SVA/SVB rückerstatten lassen, sofern keine Leistungen in Anspruch genommen wurden.* Die neuen Regelungen des SV-ZG (§ 41 Abs 3 GSVG; § 40 Abs 3 BSVG) sehen nunmehr vor, dass im Rahmen der beitragsrechtlichen Rückabwicklung im Falle einer nachträglichen Umqualifizierung die GSVG-/BSVG-Beiträge des ehemals Selbständigen von der SVA/SVB direkt an den für die Beitragseinhebung zuständigen Krankenversicherungsträger überwiesen werden. Beitragsschuldner bleibt auch nach neuer Rechtslage der DG (vormals Auftraggeber), jedoch müssen die bereits an die SVA/SVB geleisteten Beiträge auf die Nachforderung der ASVG-DG-Beiträge sowie ASVG-DN-Beiträge seitens des Krankenversicherungsträgers angerechnet werden.* Übersteigt der überwiesene Betrag die geschuldeten Beiträge, so hat der Krankenversicherungsträger den Überschuss von Amts wegen an die versicherte Person (DN) rückzuerstatten (§ 41 Abs 3 GSVG; § 40 Abs 3 BSVG).
Für den Praktiker ergeben sich einige praktische und rechtliche Fragen.
Nur so kann Rechtssicherheit (rechtzeitig) gewährleistet werden. Hier scheint sich ein Rechtsschutzdefizit aufzutun: Im Falle eines Antrages auf Versicherungszuordnung (§ 412e ASVG) sowie im Falle eines Bescheidantrages in der Fallkonstellation 2 (Konsens SVA/SVB und GKK auf ASVG) besteht jedenfalls die Möglichkeit einer Säumnisbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In den anderen Fällen, zB im Rahmen der Vorabprü-264fung, steht das Rechtsmittel der Säumnisbeschwerde nicht zu, da es sich lediglich um ein amtswegig einzuleitendes Verfahren handelt.* Die SV wird hier für eine verfahrensökonomische und rasche Entscheidungsfindung sorgen.
So ist zB bei der Vorabprüfung der erfasste Personenkreis auf Neue Selbstständige, Betreiber der freien Gewerbe laut Liste sowie Ausübende von land- und forstwirtschaftlichen Nebentätigkeiten beschränkt. Es existiert aber daneben noch eine Vielzahl von anderen Gewerben.
Das Verfahren der amtswegigen Neuzuordnung gem § 412b ASVG setzt eine Versicherung nach GSVG/BSVG voraus, diese fehlt zB bei freien DN oder ausländischen Auftragnehmern.
Beim Verfahren der amtswegigen Neuzuordnung wird im Gesetzestext auf § 41a ASVG (Sozialversicherungsprüfung) bzw § 86 EStG (Lohnsteuerprüfung) verwiesen. Praktisch gibt es aber auch noch eine nicht unerhebliche Anzahl an Umqualifizierungen aufgrund von sonstigen versicherungsrechtlichen Erhebungen (zB ausgelöst durch Anzeigen der Finanzpolizei). Die Reichweite dieser Bestimmung ist derzeit noch in Diskussion. Während der Wortlaut des § 412b Abs 1 ASVG für eine enge Interpretation spricht, gelangt man im Rahmen einer historischen Auslegung, welche sich an Willen und Zielsetzung der damaligen Gesetzesverhandler (Gesetzesverfasser) orientiert, zu einem weiten Anwendungsbereich dieser Gesetzesbestimmung.*,* Letzterer findet im Übrigen auch Deckung in den EB.*
Die Anwendung des SV-ZG auch auf am 1.7.2017 schon laufende GPLA wurde vom Hauptverband mit Information vom 18.10.2017 klargestellt.*
Keine Bindungswirkung besteht für allfällige arbeitsrechtliche Ansprüche des AN gegenüber seinem AG (zB Lohn- und Gehaltsansprüche gem KollV, Entgeltfortzahlung im Krankenstand). Das Verfahren vor dem Arbeits- und Sozialgericht ist nicht Regelungsgegenstand des SV-ZG. Divergierende Entscheidungen sind möglich.
Keine Bindungswirkung besteht auch dann, wenn eine Änderung des seinerzeit der Beurteilung zugrunde gelegten maßgeblichen Sachverhaltes eingetreten ist (§ 412c Abs 5 ASVG). Dabei sind nur substanzielle (!) Änderungen des maßgeblichen Sachverhaltes relevant (Wesentlichkeitsschwelle).* Die der Wirtschaft per se innewohnende Dynamik verbietet hier eine enge Auslegung.
Das EStG (§ 86 Abs 1a) verneint die Bindungswirkung zusätzlich bei Vorliegen „falscher Angaben“. Diese Formulierung findet sich auch in der Sozialpartnereinigung. Der Praktiker geht davon aus, dass im Ergebnis falsche Angaben auch im Bereich des ASVG zum Entfall der Bindungswirkung führen (planwidrige Lücke).
Wird im Zuge einer GPLA ein Verfahren nach SVZG eingeleitet, so ist vor Abschluss der GPLA der SVA/SVB die Möglichkeit der Stellungnahme einzuräumen. Eine Ausklammerung erfolgt nicht, die GPLA wird inklusive SV-ZG-Fall beendet. So auch die EB.* Das SV-ZG-Verfahren wird dann durch Bescheid oder faktische Zuordnung abgeschlossen.
Das Gesetz ist schwer lesbar, aber letztlich vollziehbar. Die wesentlichen Fragen sind geregelt. Rechtstechnisch wurde seitens des Gesetzgebers vom Hauptanwendungsfall „GPLA“ gem § 412b ASVG ausgegangen – in der Praxis ist die überwiegende Mehrzahl der Fälle jedoch im Bereich der Vorabprüfung gem § 412d ASVG angesiedelt. Die Rechtssicherheit für Auftraggeber und Auftragnehmer konnte wesentlich verbessert werden. Die involvierten Sozialversicherungsträger und die Finanz sind zu enger Kooperation angehalten. Besonders positiv ist die Kongruenz von Klassifizierungs- und Kontrollorgan hervorzuheben. Zudem spielt der Servicegedanke für die Bürger eine wesentliche Rolle. Und letztlich kommt es auch zu einer Verrechtlichung des bisher bloß faktischen Verwaltungshandelns samt Rechtsschutzinstrumentarium sowie zu einer Angleichung der Praxis. Auch darf die Bewusstseinsbildung bei den betroffenen Auftraggebern und Auftragnehmern nicht geringgeschätzt werden. Die Vorabprüfung ist ein Instrument zur Prävention von Scheinselbstständigkeit.*
Dem gegenüber stehen ein ganz erheblicher Verwaltungsaufwand sowie die Rechtsunsicherheit in einigen Bereichen. Und das Bewusstsein, dass die eigentliche Grundfrage, jene der Abgrenzung echter Dienstvertrag – freier Dienstvertrag –265 Werkvertrag, (wieder einmal) nicht gelöst wurde; ebenso wenig die unterschiedlichen Beurteilungskriterien in den verschiedenen Gesetzen.
Zum Schluss ein paar Tipps für die betriebliche Praxis:
a) Betroffenen Auftraggebern und Auftragnehmern ist weiterhin zu raten, bereits vor Aufnahme der Vertragsbeziehung das Gespräch mit der SV und anderen fachkundigen Beratern zu suchen.
b) Besondere Sorgfalt ist beim Ausfüllen des Fragebogens geboten (Korrektheit, Vollständigkeit). Eine Ausfüllhilfe erscheint ratsam.
Es ist darauf zu achten, im Fragebogen nicht nur den intendierten Sachverhalt darzustellen, sondern vielmehr jenen Sachverhalt, wie er sich realistischerweise in Zukunft präsentieren wird.*
c) Auftraggeber tun gut daran, sich von ihren Auftragnehmern Dokumente vorlegen zu lassen, die eine gute „Risikoeinschätzung“ ermöglichen (zB Gewerbeschein, Bescheid über die Versicherungszuordnung zu GSVG/BSVG, Kopie des Fragebogens).*
d) Während laufender Zusammenarbeit ist es Auftraggebern anzuraten, den Status ihrer Auftragnehmer in regelmäßigen Abständen dahingehend abzufragen, ob sich im Hinblick auf die relevanten Abgrenzungskriterien etwas geändert hat (zB Gewerbeberechtigung nicht mehr vorhanden bzw ruhend gemeldet, nur mehr ein einziger Auftraggeber). Es empfiehlt sich, in den Verträgen eine Informationspflicht gegenüber dem Vertragspartner im Falle solcher Veränderungen zu vereinbaren.266