202Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen betreffend die Anwendung von Vorschriften der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates
Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen betreffend die Anwendung von Vorschriften der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates
Eine aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung ist nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich.
Eine aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung ist, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass diese Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.
Eine aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung ist auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der Staat, in dem die Tätigkeit ausgeübt wurde, festgestellt hat, dass der betreffende AN nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.
Es widerspricht dem in Art 12 Abs 1 der VO 883/04 enthaltenen Ablöseverbot, wenn ein von einem AG zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter AN einen anderen von einem anderen AG entsandten AN ablöst. Dabei spielt es keine Rolle, ob die AG der beiden betreffenden AN ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen VwGH an den EuGH über die Auslegung des in der Entsenderegelung des Art 12 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 (künftig VO 883/04) enthaltenen Ablöseverbots sowie der in Art 5 Abs 1 und Art 19 Abs 2 der VO (EG) 987/2009 (künftig VO 987/09) geregelten Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Salzburger Gebietskrankenkasse (SGKK) und dem österreichischen Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz einerseits sowie einem österreichischen und zwei ungarischen Unternehmen andererseits über die Frage, ob auf nach Österreich entsandte AN das österreichische Sozialversicherungsrecht anwendbar ist.
Die Firma Alpenrind betreibt seit dem Jahr 1997 in Salzburg einen gepachteten Schlachthof.
Im Lauf des Jahres 2007 schloss Alpenrind, vormals S GmbH, einen Vertrag mit der in Ungarn ansässigen Martin Meat, in dem sich diese zu Fleischzerlegungs- und Verpackungsarbeiten im Ausmaß von 25 Rinderhälften pro Woche verpflichtete. Die Arbeiten führten nach Österreich entsandte Mitarbeiter in den Räumlichkeiten von Alpenrind aus. Zum 31.1.2012 gab Martin Meat den Bereich der Fleischzerlegung auf und führte fortan Schlachtungen für Alpenrind durch.
Im Jänner 2012 schloss Alpenrind mit der ebenfalls in Ungarn ansässigen Martimpex einen Vertrag, in dem diese sich verpflichtete, im Zeitraum vom 1.2.2012 bis 31.1.2014 für Alpenrind 55.000 Tonnen Rinderhälften zu zerlegen. Die Arbeiten führten nach Österreich entsandte Mitarbeiter in den Räumlichkeiten von Alpenrind aus. Die Fleischteile wurden von Martimpex übernommen und sodann von ihren Mitarbeitern zerlegt und verpackt.
Ab Februar 2014 beauftragte Alpenrind wiederum Martin Meat, die Fleischzerlegungsarbeiten in den genannten Einrichtungen durchzuführen.
Für die im streitgegenständlichen Zeitraum von Martimpex beschäftigten mehr als 250 Mitarbeiter stellte der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger, teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen die SGKK bereits festgestellt hatte, dass der betreffende AN nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert sei, A1-Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit […] aus. In all diesen Bescheinigungen ist Alpenrind als AG an dem Ort, an dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, genannt.
Die SGKK stellte fest, dass die genannten AN während des streitgegenständlichen Zeitraums aufgrund ihrer abhängigen entgeltlichen Tätigkeit für einen gemeinsamen Betrieb von Alpenrind, Martin Meat und Martimpex der österreichischen SV unterliegen. Das BVwG hob den Bescheid der SGKK363wegen Unzuständigkeit der österreichischen Sozialversicherungsträger auf. Zur Begründung führte es ua aus, für jede der österreichischen Pflichtversicherung unterworfene Person habe der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger eine A1-Bescheinigung ausgestellt, wonach die jeweilige Person ein ab einem bestimmten Zeitpunkt in Ungarn beschäftigter und pflichtversicherter AN von Martimpex sei und zu Alpenrind nach Österreich entsandt werde. In der Revision an den VwGH wenden sich die SGKK und der Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz gegen die absolute Bindungswirkung der A1-Bescheinigungen. Sie sind der Auffassung, die Bindungswirkung beruhe auf der Einhaltung des in Art 4 Abs 3 EUV verankerten Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Diesen Grundsatz habe der ungarische Sozialversicherungsträger verletzt. Der Bundesminister legte auch Dokumente vor, aus denen sich ergebe, dass die Verwaltungskommission am 20./21.6.2016 zu der Auffassung gelangt sei, dass Ungarn sich zu Unrecht für die betroffenen AN für zuständig erklärt habe und daher die A1-Bescheinigungen zurückziehen sollte.
Da beim VwGH Zweifel über die Bindungswirkung der ausgestellten A1-Bescheinigungen und dem in der Entsenderegelung enthaltenen Ablöseverbot bestanden, legte er dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Mit der ersten und der zweiten Frage wird der Gerichtshof um Klarstellung der Wirkungen einer nach Art 5 Abs 1 und Art 19 Abs 2 der VO 987/09 ausgestellten A1-Bescheinigung ersucht. Mit seiner ersten Frage möchte der VwGH wissen, ob eine A1-Bescheinigung auch für ein Gericht (iSd Art 267 AEUV) des Aufnahmemitgliedstaats bindend ist. Bejahendenfalls möchte er mit seiner zweiten Frage wissen, ob die A1-Bescheinigung auch dann Bindungswirkung hat, wenn die Verwaltungskommission zu dem Ergebnis gelangt ist, das die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte, der ausstellende Träger es aber nicht widerrufen hat. Zudem fragt der VwGH nach der Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung, wenn diese erst nach dem Anschluss des betreffenden AN an das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellt wird sowie nach einer etwaigen Rückwirkung einer ausgestellten A1-Bescheinigung.
Die dritte Frage betrifft die Auslegung des in Art 12 Abs 1 der VO 883/04 enthaltenen Ablöseverbots. Der VwGH möchte wissen, ob das Ablöseverbot auch dann verletzt wird, wenn die Ablösung nicht in Form einer Entsendung durch denselben AG, sondern durch einen anderen AG erfolgte. Weiters, ob es in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, ob die beiden AG ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle und/oder organisatorische Verflechtungen bestehen.
Mit dem vorliegenden Urteil werden die ersten beiden Fragen zur Bindungswirkung einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten A1-Bescheinigung vom EuGH bejaht. Ebenso die dritte Frage. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser DG im selben Mitgliedstaat wie der erste DG seinen Sitz hat oder ob zwischen dem ersten und dem zweiten entsendenden DG personelle und/oder organisatorische Verflechtungen bestehen.
„Zur ersten Frage
35 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist. […]
38 Wie das vorlegende Gericht ausführt, heißt es in dieser Bestimmung zwar, dass die dort genannten Dokumente des Ausstellungsmitgliedstaats für die ‚Träger‘ der anderen Mitgliedstaaten verbindlich sind, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf deren Gerichte.
39 Die genannte Bestimmung sieht aber auch vor, dass solche Dokumente ‚so lange verbindlich [sind], wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden‘, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich nur die Behörden und Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats die A1-Bescheinigungen gegebenenfalls widerrufen oder für ungültig erklären können. […]
45 Im Übrigen behalten […] die der Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 zugrunde liegenden Erwägungen im Rahmen der Verordnungen 883/04 und 987/09 ihre volle Gültigkeit. Insbesondere wird u. a. im sechsten Erwägungsgrund der VO 987/09 der Grundsatz der Rechtssicherheit angeführt, und im 15. Erwägungsgrund sowie in Art. 11 Abs. 1 der VO 883/04 wird der Grundsatz der Eingliederung der Arbeitnehmer in ein einziges System der sozialen Sicherheit genannt, während die Bedeutung des Prinzips der vertrauensvollen Zusammenarbeit sowohl aus Art. 76 der VO 883/04 als auch aus dem zweiten Erwägungsgrund und aus Art. 20 der VO 987/09 hervorgeht.
46 Könnte der zuständige nationale Träger, abgesehen von Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs, eine A1-Bescheinigung von einem Gericht des Aufnahmemitgliedstaats des betreffenden Arbeitnehmers für ungültig erklären lassen, wäre daher das auf der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitglied-364staaten beruhende System gefährdet (vgl. in diesem Sinne, zu den Bescheinigungen E 101, Urteile vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C 2/05, EU:C:2006:69, Rn. 30, vom 27. April 2017, A Rosa Flussschiff, C 620/15, EU:C:2017:309, Rn. 47, sowie vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C 359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54, 55, 60 und 61).
47 Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.
Zur zweiten Frage […]
48 Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte. […]
61 Wie der Gerichtshof bereits hinsichtlich der VO 1408/71 entschieden hat, steht es in einem Fall, in dem es der Verwaltungskommission nicht gelingt, zwischen den Standpunkten der zuständigen Träger in Bezug auf das anwendbare Recht zu vermitteln, dem Mitgliedstaat, in dem der betreffende Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt – unbeschadet einer im Mitgliedstaat des ausstellenden Trägers etwa möglichen Klage –, zumindest frei, gemäß Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, damit der Gerichtshof die Frage des auf diesen Arbeitnehmer anwendbaren Rechts und damit die Richtigkeit der Angaben in der Bescheinigung E 101 prüfen kann (Urteil vom 27. April 2017, A Rosa Flussschiff, C 620/15, EU:C:2017:309, Rn. 46).
62 Somit beschränkt sich die Rolle der Verwaltungskommission im Rahmen des in Art. 5 Abs. 2 bis 4 der VO 987/09 vorgesehenen Verfahrens auf eine Annäherung der Standpunkte der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die sie angerufen haben. […]
64 Folglich ist auf den ersten Teil der zweiten Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte. […]
65 Mit dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist. […]
70 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die im Einklang mit Art. 11a der VO 574/72 ausgestellte Bescheinigung E 101 Rückwirkung haben kann. Insbesondere kann eine solche Bescheinigung, auch wenn ihre Ausstellung besser vor Beginn des betreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeitraums und sogar nach dessen Ablauf ausgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. März 2000, Banks u. a., C 178/97, EU:C:2000:169, Rn. 52 bis 57).
71 Der aus den Verordnungen 883/04 und 987/09 bestehenden Unionsregelung lässt sich kein Hinderungsgrund für eine entsprechende Handhabung auch bei den A1-Bescheinigungen entnehmen. […]
75 Folglich kann unter diesen besonderen Umständen nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bescheid wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit dem der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, entscheidet, dass die betreffenden Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert sind, ein Dokument darstellt, in dem der Status der betreffenden Person im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 ‚bescheinigt‘ wird. […]
77 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf den zweiten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung365erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.
Zur dritten Frage
78 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 dahin auszulegen ist, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung ‚eine andere Person ablöst‘, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Ferner möchte es wissen, ob dabei eine Rolle spielt, dass die Arbeitgeber der beiden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder dass zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen. […]
83 Wie die österreichische und die deutsche Regierung sowie die Kommission im Wesentlichen geltend machen, betrifft die dritte Frage, da sie auf die Tragweite der in Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 vorgesehenen Bedingung abzielt, wonach die entsandte Person nur dann weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann, wenn sie ‚nicht eine andere Person ablöst‘ (im Folgenden: Ablöseverbot), den eigentlichen Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. […]
86 Im Ausgangsverfahren wurden die Arbeitnehmer von Martin Meat offenbar in den Jahren 2007 bis 2012 nach Österreich entsandt, um in den Räumlichkeiten von Alpenrind Fleischzerlegungsarbeiten auszuführen. Vom 1. Februar 2012 bis zum 31. Januar 2014, also auch im streitgegenständlichen Zeitraum, wurden Arbeitnehmer von Martimpex zur Ausführung derselben Arbeiten nach Österreich entsandt. Ab 1. Februar 2014 wurden diese Arbeiten erneut von Arbeitnehmern von Martin Meat in denselben Räumlichkeiten ausgeführt.
87 Somit ist zu prüfen, ob das Ablöseverbot in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens während des streitgegenständlichen Zeitraums eingehalten wird sowie ob und inwieweit es dabei eine Rolle spielt, wo sich der Sitz der betreffenden Arbeitgeber befindet und ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen. […]
90 Aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 und insbesondere aus dem Wort ‚sofern‘ geht dabei hervor, dass ein entsandter Arbeitnehmer schon deshalb, weil er eine andere Person ablöst, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann und dass das Ablöseverbot kumulativ neben der ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzung in Bezug auf die Höchstdauer der betreffenden Arbeit anwendbar ist.
91 Darüber hinaus deutet das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den Sitz der jeweiligen Arbeitgeber oder auf etwaige personelle oder organisatorische Verflechtungen zwischen ihnen im Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass solche Umstände für ihre Auslegung nicht relevant sind. […]
97 Zudem könnte eine je nach dem jeweiligen Sitz der betreffenden Arbeitgeber oder dem Vorliegen personeller oder organisatorischer Verflechtungen zwischen ihnen differierende Auslegung von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel gefährden, dass ein Arbeitnehmer grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen soll, in dem er seine Tätigkeit ausübt. […]
99 Aus den in den Rn. 89 bis 98 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen folgt, dass der wiederholte Rückgriff auf entsandte Arbeitnehmer zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes, auch wenn verschiedene Arbeitgeber die Entsendungen vornehmen, weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 vereinbar ist und auch nicht mit dem Kontext dieser Bestimmung im Einklang steht, so dass eine entsandte Person die dort vorgesehene Sonderregel nicht in Anspruch nehmen kann, wenn sie einen anderen Arbeitnehmer ablöst.
100 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 dahin auszulegen ist, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung ‚eine andere Person ablöst‘, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 […] ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der VO 987/09 […] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 […] ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.
2. Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 […] ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der VO 987/09 [...] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 […] ausgestellte A1-Bescheinigung, so-366lange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.
Art. 5 Abs. 1 der VO 987/09 […] ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der VO 987/09 […] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 […] ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.
3. Art. 12 Abs. 1 der VO 883/04 [...] ist dahin auszulegen, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung ‚eine andere Person ablöst‘, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.“
Im gegenständlichen Vorabentscheidungsverfahren wurde der EuGH, soweit überschaubar, erstmals mit der Frage konfrontiert, ob eine im Anwendungsbereich der VO 883/04 und 987/09 ausgestellte A1-Bescheinigung auch die Gerichte des Aufnahmestaates bindet. In der noch die VO 1408/71 betreffenden Rs C-359/16 hat der EuGH am 6.2.2018 ausgesprochen, dass eine betrügerisch erwirkte E 101-Bescheinigung das nationale Gericht des Beschäftigungsstaates diese Bescheinigung außer Acht lassen kann, wenn der ausstellende Träger es unterlassen hat, vorliegende Beweise für das betrügerische Vorgehen zu berücksichtigen.
Unter Berufung auf den ausdrücklichen Wortlaut des Art 5 Abs 1 der VO 987/09 stellt der EuGH nun klar, dass die Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung bis zum Zeitpunkt des Widerrufs bzw der Ungültigkeitserklärung durch den ausstellenden Sozialversicherungsträger nicht nur die Sozialversicherungsträger, sondern auch die Gerichte des Aufnahmestaates bindet. Dies selbst dann, wenn die zuständigen Behörden des Aufnahmestaates bereits die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zum Ergebnis gelangte, das die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.
Anknüpfend an die bisherige ergangene Rsp zu den E 101-Bescheinigungen bestätigt der EuGH, dass eine A1-Bescheinigung auch rückwirkend ausgestellt werden kann. Und zwar auch dann, wenn zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung bereits ein anderer Sozialversicherungsträger die Pflichtversicherung der betreffenden AN festgestellt hat. In diesem Zusammenhang weist der EuGH darauf hin, dass ein von der SGKK ausgestellter Bescheid, mit dem die Pflichtversicherung in Österreich für die entsandten AN festgestellt wurde, kein Dokument iS von Art 5 Abs 1 VO 987/09 darstellt und dem Bescheid daher nicht die Wirkungen einer A1-Bescheinigung zukommt.
Mit der vorliegenden E wird erstmals zum in Art 12 Abs 1 der VO 883/04 enthaltenen „Ablöseverbot“ klargestellt, dass es für die Frage des Ablöseverbots nicht darauf ankommt, ob die betroffenen AN für den gleichen AG tätig sind. Es kommt auch nicht darauf an, ob die jeweiligen AG ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat haben oder ob es zwischen ihnen eine personelle oder organisatorische Verflechtung gibt. Entscheidend ist nur, ob der entsandte AN einen anderen entsandten AN ablöst oder nicht – unabhängig davon, für welchen AG er arbeitet.
Im Ergebnis bedeutet das für das Ausgangsverfahren, dass die bestehenden ungarischen A1-Bescheinigungen solange weitergelten, bis sie vom ungarischen Sozialversicherungsträger widerrufen oder für ungültig erklärt worden sind.
Der VwGH hat sein Verfahren nun fortzusetzen und eine Entscheidung unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils zu treffen.367