204Unbeachtlichkeit der konkreten Arbeitsmarktchancen für die Frage der Invalidität iSd § 8 Abs 1 AlVG iVm § 255 Abs 3 ASVG
Unbeachtlichkeit der konkreten Arbeitsmarktchancen für die Frage der Invalidität iSd § 8 Abs 1 AlVG iVm § 255 Abs 3 ASVG
Mit Bescheid vom 4.3.2015 stellte das Arbeitsmarktservice (AMS) gem § 7, § 8 Abs 1 und § 24 Abs 1 iVm § 38 AlVG die Notstandshilfe ein, da Arbeitsfähigkeit laut einem Gutachten des Kompetenzzentrums368Begutachtung der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) nicht vorliegen würde. Der Leistungsbezieher erhob Beschwerde und brachte darin vor, dass im Gesamtgutachten keine die Arbeitsfähigkeit ausschließenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen festgestellt worden seien, sondern im Gegenteil festgestellt worden sei, dass es sich beim Leistungsbezieher um einen agilen 67-Jährigen handeln würde. Tätigkeiten laut Leistungskalkül seien zumutbar. Die dem ärztlichen Gesamtgutachten widersprechende chefärztliche Stellungnahme sei daher rechtswidrig.
In der Verhandlung vor dem BVwG führte der Chefarzt dazu aus, dass die leistungsphysiologischen und psychischen Belastungen des Revisionswerbers nicht korrekt eingeschätzt worden seien. Letztendlich sei die Entscheidung, dass das Gesamtleistungskalkül für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr ausreichend sei, auch auf Basis einer möglichen Einsetzbarkeit und Vermittelbarkeit „in Realitas“ erfolgt. Ein 67-jähriger Versicherter müsse, um am allgemeinen Arbeitsmarkt reüssieren zu können, überdurchschnittliches geistiges Leistungsvermögen und eine überdurchschnittliche psychische Belastbarkeit aufweisen; da beim Revisionswerber beides nicht der Fall sei, sei „nur so zu entscheiden“ gewesen. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seinen körperlichen Zustand besser dargestellt habe, als er tatsächlich sei; man spreche in diesen Fällen von einer „Dissimulation“. Der Chefarzt hat den Beschwerdeführer nicht persönlich untersucht, sondern „vom Papier weg“ entschieden. Da der Chefarzt – trotz der Divergenzen zwischen dem medizinischen Gesamtgutachten und seiner chefärztlichen Stellungnahme – aus Sicht des BVwG schlüssig erläutert habe, wie er zu dem Schluss gekommen sei, dass dauernde Invalidität gegeben sei, wies das BVwG die Beschwerde ab und erklärte die Revision für unzulässig. Auf Grund der Ergänzungen in der mündlichen Verhandlung liege ein schlüssiges Gutachten vor, das nach Ansicht des BVwG zur Beurteilung herangezogen werden könne. Die Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens erscheine im vorliegenden Fall auch auf Grund des Alters des Beschwerdeführers, der das Regelpensionsalter vor dem Untersuchungszeitpunkt schon seit mehreren Jahren überschritten hätte, seiner Berufshistorie und seiner Arbeitsmarktferne nicht erforderlich.
Der Beschwerdeführer erhob außerordentliche Revision und begründete deren Zulässigkeit damit, dass das BVwG ein eigenes gerichtliches Sachverständigengutachten – auch in berufskundlicher Hinsicht – einholen hätte müssen. Außerdem sei die konkrete Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt für die Beurteilung der Invalidität iSd § 255 ASVG unerheblich.
Der VwGH erklärte die Revision für zulässig und berechtigt. Gem § 7 Abs 1 AlVG hat Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe, wer (ua) arbeitsfähig ist. Gem § 8 Abs 1 AlVG ist arbeitsfähig, wer nicht invalid oder berufsunfähig iSd des ASVG ist. Als invalid gilt der Versicherte gemäß dem – auf ungelernte Arbeiter wie den Beschwerdeführer anwendbaren – § 255 Abs 3 ASVG, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Gem § 8 Abs 3 AlVG sind (ua) Gutachten des Kompetenzzentrums Begutachtung der PVA zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vom AMS anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zu Grunde zu legen. Ergeben sich jedoch Unschlüssigkeiten oder weise das Gutachten Unvollständigkeiten auf, so ist zur Schaffung einer einwandfreien Entscheidungsgrundlage eine Ergänzung bzw ein weiteres Gutachten einzuholen (VwGH 14.3.2013, 2012/08/0311). Zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist erforderlichenfalls auch ein berufskundlicher Sachverständiger zu befassen, woran die Anordnung des § 8 Abs 3 AlVG ebenfalls nichts zu ändern vermag (VwGH 24.11.2016, Ra 2016/08/0142). Dass die Gutachten der Ärzte der PVA für das AMS „bindend“ sind, lässt sich der Regelung nicht entnehmen und kann schon wegen der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Gutachten aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angenommen werden.
Die vom VwGH festgelegten Mindestanforderungen an ein Gutachten hinsichtlich Befundaufnahme, Diagnosestellung und der sachverständigen Schlussfolgerungen (VwGH 24.11.2016, Ra 2016/08/0142) sind beim gegenständlichen Gutachten jedoch nicht erfüllt. Zu bemängeln ist daran, dass in der als Schlussfolgerung zu qualifizierenden chefärztlichen Stellungnahme ohne jeden persönlichen Kontakt mit dem Beschwerdeführer von einem Leistungskalkül ausgegangen wurde, welches von jenem abwich, das im „ärztlichen Gesamtgutachten“ aufgrund einer ärztlichen Untersuchung festgestellt worden war. Der Chefarzt erklärte das mit einer dem Beschwerdeführer unterstellten „Dissimulation“, was aber ebenfalls einen persönlichen Eindruck vorausgesetzt hätte.
Weiters war es rechtlich verfehlt, dass der Chefarzt die konkreten Arbeitsmarktchancen in seine Beurteilung miteinbezogen und davon ausgehend die dauernde Invalidität bejaht hat. Es ist Aufgabe der ärztlichen Begutachtung nach § 8 Abs 2 AlVG nur, den Befund und die Diagnose zu erstellen, um zu beurteilen, welche Verrichtungen der körperlichen und geistigen Verfassung des Arbeitslosen entsprechen. Die Wertung dieses Sachverständigenbeweises ist – innerhalb der Grenzen der freien Beweiswürdigung – der Behörde bzw dem Verwaltungsgericht anheimgestellt. Auch die Beurteilung, ob – ausgehend vom Gutachten des Sachverständigen – Arbeitsfähigkeit gegeben ist, obliegt (als Rechtsfrage) der Behörde bzw dem Verwaltungsgericht. Der ärztliche Sachverständige hätte also nur den Leidenszustand des Ar-369beitslosen, das bei ihm bestehende Leistungskalkül sowie die daraus resultierende Fähigkeit, Arbeitstätigkeiten auszuüben, zu beurteilen gehabt. Ob daraus dauernde Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG abzuleiten ist, ist eine Rechtsfrage, deren Beantwortung der Behörde bzw dem Verwaltungsgericht vorbehalten ist.
Außerdem sind die konkreten Chancen am Arbeitsmarkt in einem Verweisungsberuf für die Beurteilung der Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG unbeachtlich. Nach der stRsp des OGH genügt es vielmehr, dass für die auf Grund des Leistungskalküls in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten Arbeitsplätze in nicht ganz unbedeutender Zahl vorhanden sind; es muss der versicherten Person zumindest abstrakt möglich sein, sich durch die Verweisungsmöglichkeit ein Erwerbseinkommen zu verschaffen. Darauf, ob sie auf Grund der konkreten Arbeitsmarktsituation im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird, kommt es hingegen nicht an.
Da das BVwG dem § 255 Abs 3 ASVG einen unrichtigen Inhalt unterstellt hat, hat es das angefochtene Erk mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit und wegen der unterlassenen Einholung eines ärztlichen, sowie allenfalls ergänzend eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Das Erk war daher aufzuheben.