206Gravierender Verfahrensmangel wegen Nichtanberaumung einer Tagsatzung: Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit
Gravierender Verfahrensmangel wegen Nichtanberaumung einer Tagsatzung: Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit
Gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen gehört es zu den Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem Unmittelbarkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen und sich in einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Zeugen und Parteien zu verschaffen.
Bei einer Kontrolle durch Organe des Finanzamts (Finanzpolizei) am 22.11.2013 wurde um 21:20 Uhr in einem vom Mitbeteiligten in S betriebenen Gastlokal dessen Lebensgefährtin N C bei Kellnertätigkeiten angetroffen, ohne dass diese zur SV angemeldet war. Die nachträgliche Anmeldung erfolgte noch am Tag der Kontrolle um 22:39 Uhr rückwirkend ab dem 21.11.2013. Am 27.11.2013 fand eine Änderungsmeldung statt, wonach das Dienstverhältnis am 22.11.2013 begonnen habe. Am 28.2.2014 erfolgte eine neuerliche Änderungsmeldung, wonach das Dienstverhältnis erst am 25.11.2013 begonnen habe.
Die Gebietskrankenkasse (GKK) schrieb dem Mitbeteiligten wegen seiner Meldepflichtverletzung mit Bescheid vom 23.1.2014 einen Beitragszuschlag vor. Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Verwaltungsgericht. Im fortgesetzten Verfahren brachte der Mitbeteiligte ergänzend vor, das Dienstverhältnis mit seiner Lebensgefährtin sei erst mit 25.11.2013 begründet worden, davor habe sie als mithelfende Familienangehörige unentgeltlich mitgearbeitet. Ein Beschäftigungsverhältnis mit ihr sei daher im Zeitpunkt der Kontrolle (noch) nicht vorgelegen. Ein entsprechender Vertrag, datiert mit 18.11.2013, wurde vorgelegt. Die GKK erwiderte, der nunmehr vorgelegte Arbeiter-Dienstzettel erscheine lebensfremd und nachträglich angefertigt. Das Verwaltungsgericht gab der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den Bescheid vom 23.1.2014 dennoch statt und hob diesen ohne Durchführung einer (vom Mitbeteiligten mehrfach beantragten) mündlichen Verhandlung auf, da die Aktenlage hinreichend geklärt sei. Die dagegen erhobene Revision hielt der VwGH für zulässig und berechtigt, da es das Verwaltungsgericht verabsäumt hat, die erforderlichen Beweisaufnahmen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung durchzuführen.
„7. […] Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der Frage, ob ein Dienstverhältnis zwischen dem Mitbeteiligten und seiner Lebensgefährtin N C im Betretungszeitpunkt vorgelegen ist (und daher dem Mitbeteiligten wegen Verletzung seiner Meldepflichten ein Beitragszuschlag zu Recht vorgeschrieben wurde), die Rechtslage verkannt hat bzw von der Rsp abgewichen ist, indem es die ordnungsgemäße Ermittlung und Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalts verabsäumt hat. […]
9.3. Das Bestehen einer Lebensgemeinschaft schließt das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht aus […]. Von einem – auf eine ausdrückliche oder schlüssige dienstvertragliche Vereinbarung gegründeten – Beschäftigungsverhältnis im Rahmen einer Lebensgemeinschaft ist auszugehen, wenn der Lebensgefährte seine Mitarbeit im Betrieb des Partners – ähnlich einem fremden Dienstnehmer – in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit ausübt und wenn er für die Tätigkeit auch einen Entgeltanspruch hat.
10.1. Im Hinblick darauf wird das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren nach Durchführung der notwendigen Beweisaufnahmen die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben, um beurteilen zu können, ob einerseits ein Entgeltanspruch der N C für ihre Tätigkeit als Kellnerin im Betretungszeitpunkt am 22. November 2013 bestand und – sollte dies der Fall sein – ob andererseits N C ihre Mitarbeit im Betrieb des Mitbeteiligten auch in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit ausgeübt hat. […]
10.2. Das Verwaltungsgericht wird die im fortgesetzten Verfahren erforderlichen Beweisaufnahmen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung durchzuführen haben. Es gehört nämlich gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer – hier vom Mitbeteiligten auch ausdrücklich beantragten – mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Soweit sich […] das Verwaltungsgericht damit begnügte, seine Entscheidung auf die im gesonderten Verwaltungsstrafverfahren gewonnenen Beweisergebnisse zu gründen, ohne eine gebotene mündliche Ver-371handlung zur Beweisaufnahme durchzuführen, ist das angefochtene Erkenntnis mit einem gravierenden Mangel behaftet. […]
12. Insgesamt war daher – im Hinblick auf die erörterten Mängel – der Revision stattzugeben und das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.“
Der VwGH hat bereits mehrmals entschieden, dass die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahmen gem § 24 VwGVG zu den tragenden Grundsätzen eines mängelfreien Verfahrens gehört. Der Grundsatz der sachlichen Unmittelbarkeit besagt, dass der Richter nicht nur die größtmögliche Eigenwahrnehmung anzustreben, sondern auch – unter mehreren möglichen Beweismitteln – das beweiskräftigste auszuwählen hat. Es liegt auch dann ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz vor, wenn statt der möglichen Vernehmung eines unmittelbaren Zeugen Zeugenaussagen aus Vor-Akten zur Feststellung von Tatsachen zugelassen werden, die durch unmittelbare Beweisaufnahme erhoben werden könnten. Schriftliche Zeugenaussagen laufen sowohl dem Grundsatz der Unmittelbarkeit als auch dem Gebot der Mündlichkeit zuwider. Das erwähnenswerte an dieser E ist vor allem, dass das Verwaltungsgericht den Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht nur von Amts wegen nicht wahrgenommen hat, sondern sogar einem ausdrücklichen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht stattgegeben hat.
Wird jemand – wie im vorliegenden Fall – bei der Erbringung von Dienstleistungen angetroffen, die üblicherweise auf ein Dienstverhältnis hindeuten, kann die Behörde bzw das Gericht von einem Dienstverhältnis ausgehen, sofern nicht atypische Umstände dargelegt werden. Wenn die Vermutung in solchen Fällen für ein Dienstverhältnis spricht, muss die Partei ein ausreichend substanziiertes Vorbringen erstatten, aus dem man anderes ableiten kann. Im Hinblick auf die einander widersprechenden Aussagen, muss im Verfahren festgestellt werden, ob die Eröffnung des Lokals und damit die entgeltliche Tätigkeit der Lebensgefährtin bereits am 22.11.2013 begonnen hat.