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Verletzung der kollektivvertraglichen Pflicht zur Führung eines Zeitkontos für Zeitguthaben: Spätere Berufung auf Verfallskausel rechtsmissbräuchlich

MANFREDTINHOF
Pkte VIII A., XX A. und C. KollV für Handelsangestellte

Eine AN war von 1.6.2013 bis 31.8.2017 als Verkäuferin in einem Handelsbetrieb mit 24 Wochenstunden beschäftigt. Sie arbeitete auch während der „erweiterten Öffnungszeiten“ von Montag bis Freitag zwischen 18:30 Uhr und 20:00 Uhr sowie ab 20:00 Uhr und Samstag zwischen 13:00 Uhr und 18:00 Uhr, erhielt aber dafür niemals die ihr gemäß Handelsangestellten-KollV zustehenden Zeitgutschriften, obwohl sie die Abgeltung dieser Ansprüche spätestens ab Herbst 2016 urgierte. Die AG führte die Arbeitszeitaufzeichnungen anhand der Stechuhrzeiten. Zeitgutschriften für Arbeitszeiten während der „erweiterten Öffnungszeiten“ fanden sich darin aber nicht. Die AG gewährte ihren Teilzeitmitarbeiterinnen, daher auch der AN, grundsätzlich keinen Zeitausgleich.

Mit Schreiben vom 30.7.2017 und 18.9.2017 machte die AN das Entgelt inklusive Zuschläge für geleistete Arbeitsstunden im Rahmen der erweiterten Öffnungszeiten geltend, wobei noch Ansprüche aus den Jahren 2015 und 2016 revisionsgegenständlich waren. Die AG bestritt nicht, dass die AN auch Arbeitsleistungen erbracht hatte, für die sie ihr aufgrund deren zeitlicher Lage im Rahmen der erweiterten Öffnungszeiten nach Pkt VIII A. Z 1 Handelsangestellten-KollV Zeitgutschriften gewähren hätte müssen. Sie machte aber geltend, dass schon die Ansprüche der AN auf Zeitguthaben (und damit auch die daraus resultierenden Entgeltansprüche) verfallen seien, weil sie von der AN nicht innerhalb der sechsmonatigen Verfallsfrist des Pktes XX A. Handelsangestellten-KollV geltend gemacht worden seien.

Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt. Dem Verfallseinwand der AG wurde entgegnet, dass der Entgeltanspruch der AN für Zuschläge aufgrund von Arbeitsleistungen während der erweiterten Öffnungszeiten erst mit Beendigung des 21 Arbeitsverhältnisses fällig geworden sei, weil die AN während des laufenden Arbeitsverhältnisses ein Zeitausgleichsguthaben erworben habe, ihr die AG dafür aber keinen Zeitausgleich gewährt habe. Diesen klagsgegenständlichen Entgeltanspruch habe die AN daher rechtzeitig geltend gemacht. Der OGH schloss sich dieser Ansicht an und wies die Revision der AG zurück.

Der OGH hielt fest, dass die AG entgegen ihrer Verpflichtung nach Pkt XX C. Handelsangestellten-KollV kein Zeitkonto für das von der AN laufend erworbene Zeitguthaben führte. Das streitgegenständlich erworbene Zeitguthaben der AN fand auch in den von der AG geführten und der AN monatlich vorgelegten Arbeitszeitaufzeichnungen keinen Niederschlag. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, es könne daher hier nicht davon ausgegangen werden, dass die AN die Richtigkeit eines „Null-Zeitstands“ für erweiterte Öffnungszeiten auf einem Zeitkonto iSd Handelsangestellten-KollV anerkannt habe, begegnet aufgrund der konkreten Umstände des Falls keinen Bedenken. Die AN habe nur ihre aufgelisteten tatsächlichen Arbeitszeiten bestätigt.

Soweit die AG aber damit argumentiert, dass die AN schon ihren (Grund-)Anspruch auf Zeitguthaben (die Zeitgutschrift nach Pkt VIII A. Z 1 und 2 des Handelsangestellten-KollV) nicht rechtzeitig schriftlich geltend gemacht habe, kommt der Erwiderung der AN, dieser Verfallseinwand verstoße gegen Treu und Glauben, nach der Lage des Falls Berechtigung zu. Ein Verfallseinwand des AG kann nämlich gegen Treu und Glauben verstoßen und daher sittenwidrig sein, wenn dem AN durch das kollektivvertragswidrige Verhalten des AG die Geltendmachung seiner Ansprüche erschwert wird. Dies ist hier der Fall.

Zum einen hat die AG entgegen ihrer Verpflichtung kein Zeitkonto geführt, aus dem die AN das Ausmaß des ihr gebührenden Zeitguthabens ablesen hätte können. Zum anderen hat die AG schon vorab erklärt, dass sie den bei ihr Teilzeitbeschäftigten, daher auch der AN, grundsätzlich keinen Zeitausgleich gewährt, obwohl die der AN gebührende Zeitgutschrift für ihre Arbeitsleistungen im Rahmen der erweiterten Öffnungszeiten nach Pkt VIII A. Z 1 Handelsangestellten-KollV grundsätzlich in Freizeit zu verbrauchen ist. Auch nach Urgenz der AN sah sich die AG nicht veranlasst, ihr mehrfach kollektivvertragswidriges Verhalten zu korrigieren. Gesamt betrachtet hat sohin die AG mit ihrem Verhalten der AN die rechtzeitige Geltendmachung ihres Anspruchs in einer Art und Weise erschwert, die die spätere Berufung auf die Verfallsklausel als rechtsmissbräuchlich erscheinen lässt.