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Auswirkungen der rückwirkenden Änderung des Besoldungsrechts des Bundes auf laufende Verfahre

BIRGITSCHRATTBAUER

Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Diese Frage ist grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen.

Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten.

SACHVERHALT

Der Kl ist Lehrer an einem Bundesgymnasium. Auf sein Dienstverhältnis kommt das VBG zur Anwendung. Am 14.3.2008 wurde der Vorrückungsstichtag des Kl zunächst – unter Außerachtlassung von Vordienstzeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahres – mit 15.6.1993 festgesetzt. Dem Antrag des Kl vom 22.11.2010 auf Neufeststellung des Vorrückungsstichtags unter Berücksichtigung von vor Vollendung des 18. Lebensjahres erworbenen Vordienstzeiten wurde mit 16.3.2011 zwar stattgegeben, aufgrund der Neuregelung des Besoldungsrechts 27 durch die Novelle BGBl I 2010/82BGBl I 2010/82führte die Neufeststellung jedoch nicht zu einer Änderung der besoldungsrechtlichen Situation des Kl. Wäre die Regelung des § 19 Abs 1 zweiter Satz VBG idF des BGBl I 2010/82BGBl I 2010/82 über die Verlängerung des ersten Vorrückungszeitraums auf fünf Jahre nicht angewendet worden, hätte sich durch die Neufestsetzung eine besoldungsrechtliche Verbesserung ergeben. Zugunsten des Kl hätte sich in diesem Fall für den Zeitraum vom 1.7.2009 bis 30.6.2013 eine Differenz zum tatsächlich bezogenen Entgelt in Höhe des Klagsbetrags errechnet.

Der Kl begehrte die Nachzahlung dieser Entgeltdifferenz. Mit der Novelle BGBl I 2010/82BGBl I 2010/82 hätte nach dem Willen des Gesetzgebers eine vom EuGH festgestellte Altersdiskriminierung aufgrund der Nichtanrechnung der bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres erworbenen Vordienstzeiten beseitigt werden sollen. Dieses Ziel werde verfehlt, weil die Verlängerung des ersten Vorrückungszeitraums die unzulässige Diskriminierung prolongiere. Die Bekl wandte ein, spätestens mit der Neuregelung des Besoldungsrechts in BGBl I 2015/32BGBl I 2015/32 sei die Vordienstzeitenanrechnung unabhängig vom Lebensalter und damit diskriminierungsfrei geregelt worden. Diese Rechtslage sei aufgrund der Übergangsbestimmungen auf das Dienstverhältnis des Kl rückwirkend anzuwenden, womit seinem Zahlungsbegehren die Grundlage entzogen sei.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Inkrafttretens- und Übergangsbestimmungen des BGBl I 2015/32BGBl I 2015/32 seien unionsrechtskonform dahin zu reduzieren, dass sie sich nur auf nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 12.2.2015 entstandene Ansprüche beziehen. Das Berufungsgericht bestätigte diese E und ließ die ordentliche Revision wegen Fehlens einschlägiger höchstgerichtlicher Rsp zu.

Der OGH unterbrach das Verfahren bis zur E des EuGH über die Anfrage zu 9 ObA 141/15yvom 16.12.2016. Nach Vorliegen der Entscheidung des EuGH in der Rs Österreichischer Gewerkschaftsbund vom 8.5.2019 (C-24/17) war das Verfahren fortzusetzen. Der OGH gab der Revision der Bekl statt und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Der EuGH erkannte in der Rechtssache Österreichischer GewerkschaftsbundC-24/17, über die Vorlagefragen wie folgt:

‚1. Die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind in Verbindung mit Art 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkend in Kraft gesetzten nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters die Überleitung von Bestandsvertragsbediensteten in ein neues Besoldungs- und Vorrückungssystem vorgesehen ist, in dem sich die erste Einstufung dieser Vertragsbediensteten nach ihrem letzten gemäß dem alten System bezogenen Gehalt richtet.2. Das nationale Gericht ist, wenn nationale Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden können, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz, der dem Einzelnen aus dieser Richtlinie erwächst, zu gewährleisten und für ihre volle Wirkung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Wiederherstellung der Gleichbehandlung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, voraussetzt, dass den durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Vertragsbediensteten die gleichen Vorteile gewährt werden wie den von diesem System begünstigten Vertragsbediensteten, sowohl in Bezug auf die Berücksichtigung vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegter Vordienstzeiten als auch bei der Vorrückung in der Gehaltstabelle, und dass den diskriminierten Vertragsbediensteten infolgedessen ein finanzieller Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem Gehalt, das der betreffende Vertragsbedienstete hätte beziehen müssen, wenn er nicht diskriminiert worden wäre, und dem tatsächlich von ihm bezogenen Gehalt gewährt wird. ...‘

Infolge dieser Entscheidung wurde das Besoldungsrecht des Bundes zur Herstellung seiner Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht mit BGBl I 58/2019BGBl I 58/2019(2. Dienstrechts-Novelle 2019) umfassend novelliert. Für Vertragsbedienstete, deren Vorrückungsstichtag bei der Anrechnung unter Ausschluss der vor dem 18. Geburtstag zurückgelegenen Zeiten festgesetzt wurde (Z 3) und bei denen nach der erstmaligen Festsetzung nach Z 3 nicht die vor Vollendung des 18. Lebensjahres zurückgelegten Zeiten nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes BGBl I Nr 82/2010vorangestellt und durch Außerachtlassung der mit diesem Bundesgesetz bewirkten Verlängerung des für die erste Vorrückung erforderlichen Zeitraums zur Gänze für die Einstufung wirksam geworden sind, ist nach Maßgabe der §§ 94b ff VBG 1948 (‚Umsetzung der Richtlinie 2000/78‘) eine Neueinstufung nach einem einheitlichen Regelwerk vorgesehen. Diese Regelungen idF der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 wurden mit 1.1.2004 in Kraft gesetzt (§ 100 Abs 89 Z 1 VBG 1948). 28

Sie betreffen ua am Tag der Kundmachung der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 (8.7.2019) anhängige einschlägige Verfahren, wobei die Neufestsetzung im Rahmen dieser Verfahren zu erfolgen hat (§ 94b Abs 3 VBG 1948). Das neu festgesetzte Besoldungsdienstalter ist nach Maßgabe des § 94b Abs 6 VBG 1948 auch ausdrücklich rückwirkend für die Bemessung der Bezüge maßgeblich (s auch AB 675 BlgNR XXVI. GP 7).

Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Diese Frage ist grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen […] und hier zu bejahen.

Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat […]. Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten […].

Daraus folgt, dass das Klagebegehren nach Maßgabe der neuen Rechtslage zur Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung des Klägers und der Bemessung seiner Bezüge zum Gegenstand einer Erörterung vor dem Erstgericht zu machen ist (vgl 9 ObA 63/19h).“

ERLÄUTERUNG

Mit dem vorliegenden Urteil ist die nun schon jahrelang andauernde Auseinandersetzung von Judikatur und Gesetzgebung mit dem Thema der diskriminierungsfreien Anrechnung von Vordienstzeiten im Öffentlichen Dienst um eine Facette reicher (vgl auch die inhaltlich im Wesentlichen vergleichbaren Entscheidungen des OGH vom 23.9.2019, 9 ObA 63/19h, sowie vom 24.9.2019, 8 ObA 33/19i). Die wichtigsten Etappen der Rechtsentwicklung in diesem Bereich spiegeln sich auch im Sachverhalt der vorliegenden E:

Nachdem der EuGH die Nichtanrechnung von vor dem 18. Lebensjahr zurückgelegten Vordienstzeiten in der Rs Hütter (EuGH 18.6.2009, C-88/08) als altersdiskriminierend qualifiziert hatte, gab es bereits mehrere Versuche des österreichischen Gesetzgebers, das Besoldungssystem für die Beamten und Vertragsbediensteten unionsrechtskonform auszugestalten. Die Rechtslage nach der als Reaktion auf die EuGH-Rsp beschlossene Reform des Dienstrechts durch die Novelle BGBl I 2010/82BGBl I 2010/82, auf die sich auch der Kl der vorliegenden Rechtssache ursprünglich bezog, wurde vom EuGH erneut als unionsrechtswidrig erkannt, da es mit dieser Reform zwar rückwirkend zu einer Anrechnung von Vordienstzeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahres gekommen war, gleichzeitig aber der erste Vorrückungszeitraum um drei Jahre verlängert und dadurch die Ungleichbehandlung der von der Diskriminierung Betroffenen im Ergebnis perpetuiert wurde (EuGH 11.11.2014, C-530/13, Schmitzer).

Mit dem nächsten Sanierungsversuch (BGBl I 2015/32BGBl I 2015/32) wurde das bisherige System des Vorrückungsstichtages ersetzt durch die – erneut rückwirkende – Einführung eines „Besoldungsdienstalters“, das sich nach der Dauer der im Dienstverhältnis verbrachten Zeiten zuzüglich der Dauer der (nun vom Alter unabhängig) anrechenbaren Vordienstzeiten bestimmt. Um Nachteile für bereits Beschäftigte zu vermeiden, wurde für diese jedoch der neuen Einstufung das im „Überleitungsmonat“ Februar 2015 bezogene Gehalt zugrunde gelegt – was freilich dazu führte, dass mit der Neuregelung erneut die bis dahin bestehende Diskriminierung nicht beseitigt werden konnte. Die Unterinstanzen lösten dieses Dilemma im vorliegenden Fall dahingehend auf, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung eine Reduktion der Inkrafttretens- und Übergangsbestimmungen auf erst nach Inkrafttreten der Novelle am 12.2.2015 entstandene Ansprüche gebiete und sprachen den begehrten Klagsbetrag zu. Der OGH setzte seine Entscheidung über die Revision der Bekl bis zum Abschluss des in der Zwischenzeit im Gefolge einer Klage des ÖGB initiierten Vorlageverfahrens zur Frage der Unionskonformität der neuen Besoldungsregelungen aus.

Der EuGH hat in der Rs ÖGB (8.5.2019, C-24/17) nun zwar wenig überraschend die Rechtsansicht des Kl bestätigt und auch einen Anspruch der durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem Benachteiligten auf gleiche Vorteile wie den vom System Begünstigten bestätigt, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden (womit im Ergebnis die Rechtsansicht der Unterinstanzen im vorliegenden Fall bestätigt wurde). Darauf hat nun allerdings in der Zwischenzeit auch der österreichische Gesetzgeber reagiert und mit der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 eine neuerliche Reparatur des VBG vorgenommen, mit der nun zur „Umsetzung der RL 2000/78/EG“ (so die Überschrift zu den neu eingefügten §§ 169 ff GehG und §§ 94b ff VBG) eine voll gehaltswirksame Anrechnung (auch) der vor dem 18. Lebensjahr erworbenen Vordienstzeiten umgesetzt wird. Diese Änderungen traten erneut rückwirkend mit 1.1.2004 in Kraft und sind somit auch im vorliegenden Fall anwendbar – was sich natürlich auch auf den Ausgang des Verfahrens entscheidend auswirkt.

§ 182a ZPO verbietet Überraschungsentscheidungen und verpflichtet das Gericht, das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern. 29 In diesem Sinne muss den Parteien auch die Gelegenheit gegeben werden, sich zu der im Laufe des Verfahrens geänderten Rechtslage zu äußern. Aus diesem Grund war eine abschließende Entscheidung des OGH nicht zulässig, sondern die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen.