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Die liechtensteinische Geburtszulage ist nicht auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen

KRISZTINAJUHASZ
VO (EG) 883/2004; § 6 Abs 3 KBGG (idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53)

Im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) sind für die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2014 nur gleichartige Familienleistungen zu berücksichtigen. § 6 Abs 3 KBGG widerspricht, soweit er auch nicht vergleichbare Familienleistungen im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 anrechnet, dem Unionsrecht und ist insoweit nicht anwendbar.

SACHVERHALT

Die Kl und ihr Ehemann und ihre gemeinsame 2017 geborene Tochter haben ihren Wohnort im Fürstentum Liechtenstein. Die Kl ist unselbständig in Österreich beschäftigt. Der Ehegatte ist in Liechtenstein tätig und erhielt von der Liechtensteinischen Familienausgleichskasse aus Anlass der Geburt der Tochter eine Geburtszulage – als einmalige Leistung – in der Höhe von CHF 2.300,-.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte bei der bekl Vorarlberger Gebietskrankenkasse das Kinderbetreuungsgeld in der Kontovariante für 730 Tage ab der Geburt. Die Bekl lehnte den Antrag der Kl mit der Begründung ab, dass es sich bei der in Liechtenstein gebührenden Geburtszulage, gem VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, um eine Familienleistung handle, die auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei. Darauf folgend beantragte die Kl die Ausstellung eines Bescheides. Die Bekl teilte am 28.2.2018 der Kl mit, dass kein Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Bescheids bestehe.

In ihrer am 27.9.2018 eingebrachten Säumnisklage begehrte die Kl die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld ungekürzt – in der Höhe von € 16,94 täglich – ohne Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage. 46

Die Bekl wandte dagegen ein, dass auch die liechtensteinische Geburtszulage eine Familienleistung iSd Art 1 lit z VO 883/2004 und somit auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld gem § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53anzurechnen sei, der Anspruch der Kl bestehe daher nur mit € 13,97 täglich zu Recht.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Nach Art 68 Abs 1 lit b VO 883/2004 seien Familienleistungen, die aus denselben Gründen, nämlich durch Arbeitstätigkeit, ausgelöst werden, zu koordinieren. Nach dem Wohnort des Kindes sei primär Liechtenstein und daher Österreich nur nachranging zuständig. Die liechtensteinische Geburtszulage sei jedoch keine gleichartige Leistung im Verhältnis zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld, sodass eine Anrechnung gem § 6 Abs 3 KBGG nicht in Frage komme.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die Revision nicht zu.

Gegenstand des außerordentlichen Revisionsverfahrens war, ob im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53für die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2014 sämtliche Familienleistungen des prioritär zuständigen Mitgliedstaats (hier Liechtenstein) jenen des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats (hier Österreich) gegenüberzustellen sind oder, ob nur gleichartige Familienleistungen zu berücksichtigen sind.

Der OGH wies die außerordentliche Revision der Bekl zurück, erachtete die Begründung des Berufungsgerichts für zutreffend und verwies auf deren Richtigkeit.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 1.2 Mittlerweile hat der EuGH in der ebenfalls zur VO (EWG) 1408/71 ergangenen Entscheidung vom 8.5.2014, C-347/12, Wiering, ausdrücklich bestätigt, dass bei Berechnung eines im Beschäftigungsstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags nicht sämtliche der Familie nach den Rechten des Wohnsitzmitgliedstaats gezahlten Leistungen, sondern nur gleichartige Leistungen als Familienleistungen zu berücksichtigen sind […].

2.1 Durch die VO (EG) 883/2004 trat im Vergleich zur VO (EWG) 1408/71 keine Änderung ein. […] Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 146/16t […] ausführlich begründet hat, hat das vom EuGH postulierte Erfordernis der Gleichartigkeit im Anwendungsbereich der VO 883/2004 weiterhin Gültigkeit. Dass es – soweit es um die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2004 geht – zu einem Systemwandel gekommen wäre und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sämtliche (und nicht nur gleichartige) Familienleistungen angerechnet werden sollten, ist weder aus der in Art 1 lit z der VO 883/2004 enthaltenen Begriffsdefinition noch aus der allgemeinen Antikumulierungsregel des Art 10 VO 883/2004 noch aus Art 68 der VO 883/2004 abzuleiten (Sonntag, Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f; Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg] Art 1 VO 883/2004 Rz 76/1). […]

3. Soweit die Revisionswerberin davon ausgeht, es stehe den Mitgliedstaaten frei, auch alle Familienleistungen des primär zuständigen Staates anzurechnen, und sich auf § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53beruft, nach dem – in Abänderung der Vorläuferbestimmung – nunmehr eine Anrechnung sämtlicher (und nicht nur gleichartiger) ausländischer Familienleistungen stattfinden soll, hat bereits das Berufungsgericht dargelegt, dass diese Regelung dem Unionsrecht widerspricht und deshalb von den Gerichten unangewendet zu bleiben hat […].

4. Dass ein Entwurf der Kommission zur Abänderung der VO 883/2004 vorliegt, der infolge einer geplanten Neuordnung der Familienleistungen – wie die Revisionswerberin vorbringt – im Fall seines zukünftigen Inkrafttretens ihrem Rechtsstandpunkt Rechnung tragen werde, vermag […] keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu begründen.

5.1 Bei Errechnung des Unterschiedsbetrags bleibt die Vergleichbarkeit der Familienleistungen daher weiterhin zu berücksichtigen. Diese ist anzunehmen, wenn sie einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen. Diese Voraussetzungen wurden für das österreichische Kinderbetreuungsgeld und die liechtensteinische Geburtszulage bereits verneint […].“

ERLÄUTERUNG

§ 6 Abs 3 KBGG ist eine Antikumulierungsregel iSd Art 68 Abs 2 der VO 883/2004, die sich nicht ausdrücklich auf dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare ausländische Familienleistungen bezieht und dabei die Anrechnung sämtlicher ausländischer Familienleistungen vorsieht. Nach Auffassung des österreichischen Gesetzgebers sieht die VO (EG) 883/2004 im Gegensatz zur Vorgängerverordnung (EWG) 1408/71 keine Sonderkoordinierungsregeln für bestimmte Familienleistungen vor. Es seien daher alle ausländischen Familienleistungen, unabhängig von der Leistungsart und ihrem nationalen Zweck, auf Kinderbetreuungsgeldleistungen anzurechnen.

Hierbei ist jedoch anzumerken, dass Art 76 der VO (EWG) 1408/71 die Gleichartigkeit – als Voraussetzung der Anwendung der Prioritätsregeln – ebenfalls nicht vorsah, diese ergab sich vielmehr 47 aus der Rsp des EuGH. Die Prioritätsregel des Art 68 Abs 1 lit b Z i der VO (EG) 883/2004 entspricht von ihrem Regelungsgehalt her genau dem Art 76 der VO (EWG) 1408/71. Die Regelung des § 6 Abs 3 KBGG idnF widerspricht daher, soweit sie auch nicht vergleichbare Familienleistungen im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 anrechnet, dem Unionsrecht und ist insoweit nicht anwendbar (Sonntag in ASoK 2017, 2).

Die Bekl vertritt dennoch den Standpunkt, dass den EuGH-Entscheidungen Dodl und Oberhollenzer sowie Wiering für den Anwendungsbereich der VO 883/2004 keine Bedeutung mehr zukomme, ohne sich aber mit den in der OGH-E vom 24.1.2017, 10 ObS 146/16t, genannten gegenteiligen Gründen näher auseinanderzusetzen. Nach Ansicht des OGH wird mit diesem Vorbringen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt.

Der OGH hat in dieser Entscheidung erneut bekräftigt, dass die nationalen Gerichte – die die Bestimmungen des Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden haben und die nationalen Regelungen wegen Unionsrechtswidrigkeit unangewendet lassen müssen – die Beseitigung der dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Bestimmungen auf gesetzgeberischem Wege oder durch ein verfassungsrechtliches Verfahren nicht abzuwarten haben.

Das österreichische Kinderbetreuungsgeld ist eine fortlaufende Leistung für Eltern, die sich in der ersten Lebenszeit des Kindes dessen Betreuung widmen. Es dient dazu, finanzielle Nachteile, die aufgrund des Verzichts auf das Erwerbseinkommen in dieser Zeit entstehen – teilweise –, auszugleichen. Hingegen ist die liechtensteinische Geburtszulage eine einmalige Leistung, die die mit der Geburt verbundenen finanziellen Aufwendungen abdecken soll. Die Zulage gebührt auch dann, wenn ein Kind tot geboren wurde. Es fehlt daher an der Übereinstimmung in Funktion und Struktur der Leistungen. Auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Berechnung sind nicht vergleichbar.