Der lange Krankenstand als Kündigungsgrund in der Rechtsprechung
Der lange Krankenstand als Kündigungsgrund in der Rechtsprechung
Der OGH wird laufend mit Beendigungsstreitigkeiten befasst, denen ein langer Krankenstand als Kündigungsgrund zugrunde liegt. Der Beitrag widmet sich ausgewählten Entscheidungen des Gerichtshofs der vergangenen Jahre zu wesentlichen Tatbestandselementen und weist auf Einflüsse der Judikatur des EuGH zur Behindertendiskriminierung auf die österreichische Rsp hin.
Der lange Krankenstand wird durch eine Reihe von Rechtsnormen direkt oder indirekt als Kündigungsgrund aufgegriffen. Im Rahmen des öffentlichen Dienstrechts des Bundes, der Länder und der Gemeinden wird er in der Regel unter dem Tatbestand der „mangelnden gesundheitlichen Eignung“ subsumiert. Als „Dienstunfähigkeit“ kann der lange Krankenstand im privatrechtlichen Beendigungsrecht einen Entlassungsgrund gem § 27 Z 2 AngG bzw § 82 lit b GewO 1859 darstellen. Größere praktische Bedeutung erfährt er als möglicher Rechtfertigungsgrund einer interessenbeeinträchtigenden AG-Kündigung im Rahmen der Sozialwidrigkeitsanfechtung gem § 105 Abs 3 Z 2 lit a ArbVG. Das besondere Kündigungsschutzrecht greift den langen Krankenstand in einer Vielzahl von zB kollektivvertraglichen Bestandschutzbestimmungen als positiven Kündigungsgrund oder – wiederum in Form der „Dienstunfähigkeit“ – als Kündigungszustimmungsgrund nach dem BEinstG auf.
Gem § 32 Abs 2 Z 2 VBG liegt nach einjähriger Dienstzugehörigkeit ein Kündigungsgrund ua dann vor, wenn sich der Vertragsbedienstete für die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben als „gesundheitlich ungeeignet“
erweist. Gem § 42 Abs 2 Z 2 VBO Wien kann nach dreijähriger Dauer das Dienstverhältnis gekündigt werden, wenn der Vertragsbedienstete für die Erfüllung seiner Dienstpflichten „gesundheitlich ungeeignet“
ist.
§ 105 Abs 3 Z 2 lit a ArbVG ermöglicht dem AG, wenn seine Kündigung wesentliche Interessen des AN beeinträchtigt, den Nachweis zu erbringen, dass die Kündigung durch „Umstände, die in der Person des AN gelegen sind und die betrieblichen Interessen nachteilig berühren“, begründet ist. Solche Umstände eines personenbezogenen Kündigungs(rechtfertigungs)grundes können langandauernde oder häufig auftretende Krankenstände sein (vgl dazu Wolligger in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 105 ArbVG Rz 196).
Besonders kollektivvertragliche Bestimmungen räumen AN oft einen erhöhten Bestandschutz ein, indem sie eine Kündigung eines AN nur dann erlauben, wenn sich dieser zB für die weitere Verwendung „als geistig oder körperlich ungeeignet erweist …“
, womit sich der OGH zB in seiner E vom 24.1.2019 zu 9 ObA 133/18a zum KollV für die DN des Arbeitsmarktservice befassen musste.
Der beabsichtigten Kündigung eines begünstigt behinderten AN ist gem § 8 Abs 4 lit b BEinstG die Zustimmung zu erteilen, „… wenn der begünstigte Behinderte unfähig wird, die im Dienstvertrag vereinbarte Arbeit zu leisten, sofern in absehbarer Zeit eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht zu erwarten ist …“
.
Insb im Zusammenhang mit Rechtssachen aus dem Wiener Gemeinde-Vertragsbedienstetenrecht (VBO Wien) sowie dem allgemeinen Kündigungsanfechtungsrecht nach dem ArbVG sind in den letzten Jahren einige Entscheidungen zu 53 wichtigen Tatbestandselementen getroffen worden, die im Folgenden näher dargestellt werden. Von allgemeiner Bedeutung ist dabei, dass die Judikate im Wesentlichen wechselseitig verallgemeinerbar sind. So ein Auszug aus einer E zur Sozialwidrigkeitsanfechtung: „Die Rechtsprechung zur Dienstunfähigkeit (Anm: iZm VBO Wien) kann für die Beurteilung überhöhter Krankenstände als personenbezogener Rechtfertigungsgrund als Richtschnur herangezogen werden“
(OGH 30.8.2011, 8 ObA 53/11v).
Kommen überhöhte Krankenstände als Kündigungs(rechtfertigungs)grund in Betracht, muss der AG eine objektive Zukunftsprognose über die weitere Dienstfähigkeit des betroffenen AN anstellen, die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Kündigungszeitpunkt zu erstellen ist (OGH 28.11.2018, 9 ObA 108/18z; OGH 24.3.2014, 9 ObA 119/12h; RIS-Justiz RS0113471).
Grundsätzlich gilt in der Sphäre des § 105 ArbVG: Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist nicht nur die Dauer der bisherigen Krankenstände zu berücksichtigen, sondern es ist auch die zukünftige Entwicklung der Verhältnisse nach der Kündigung miteinzubeziehen, als sie mit der angefochtenen Kündigung noch in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen (OGH 2.9.2008, 8 ObA 48/08d).
Zur Sphäre des Vertragsbedienstetenrechts wurde entschieden: Es ist für die Annahme einer Dienstunfähigkeit von der bereits eingetretenen Dauer des Krankenstands und der Dauer sowie Einschätzbarkeit des weiter zu erwartenden Krankenstands auszugehen (OGH 31.1.2007, 8 ObA 103/06i). Der dafür behauptungs- und beweispflichtige AG ist jeweils zur Erstellung der Prognose verpflichtet. Setzt er sich nicht damit auseinander, so trägt er das Risiko, dass sich seine Prognose bei Anlegung eines objektiven Maßstabs als unrichtig erweist.
Der OGH betont regelmäßig, dass es dabei nicht nur alleine auf die anhaltend steigende Zahl der Krankheitstage in der Vergangenheit ankommen kann, sondern dass in der Vergangenheit aufgetretene Krankenstände, die für die künftige Einsatzfähigkeit des AN nicht aussagekräftig sind, weil die zugrundeliegende Krankheit überwunden wurde, nicht als Kündigungsgrund herangezogen werden darf. Insoweit ist auch die Art der Erkrankung und deren Ursache samt der zumutbaren Krankenbehandlung – und nicht alleine die Dauer und Häufigkeit in der Vergangenheit auftretender Krankenstände – für die Zukunftsprognose von Relevanz (OGH 28.11.2018, 9 ObA 123/18f; OGH 30.8.2011, 8 ObA 53/11v). Eine negative Zukunftsprognose verbietet sich zB, wenn unterschiedliche Erkrankungen jeweils ausgeheilt sind (OGH 24.3.2014, 8 ObA 21/14t).
Eypeltauer (in ecolex 2019, 898) wies jüngst auf die in der Judikatur zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Anforderungen an die Zukunftsprognose hin. Während bei der Beurteilung des personenbezogenen Kündigungsgrunds im Anfechtungsrecht lediglich eine sorgfältige Ex-ante-Prüfung des AG über den zum Kündigungszeitpunkt objektiv erwartbaren Krankenstandsverlauf verlangt wird, trägt dieser im Vertragsbedienstetenrecht das Risiko, dass sich der von ihm angenommene Kündigungsgrund später (im gerichtlichen Verfahren) als nicht berechtigt erweist. Die Dienstunfähigkeit muss hier also definitiv und ultimativ (und nicht nur im Kündigungszeitpunkt erwartbar) vorliegen. Von dem entsprechenden Rechtssatz (RIS-Justiz RS0110154) wurde in den E vom 28.11.2018 (9 ObA 108/18z),*vom 30.8.2018 9 ObA 70/18m)* und vom 21.3.2018 (9 ObA 153/17s)* Gebrauch gemacht.
Die soziale Gestaltungspflicht des AG, also seine Verpflichtung, vor Ausspruch der Kündigung alle erdenklichen Maßnahmen auszuschöpfen, um diese zu vermeiden, spielt auch im Bereich krankheitsbedingter Ausfälle gesundheitlich eingeschränkter AN eine Rolle (vgl dazu Kolross, Soziale Gestaltungspflicht bei krankheitsbedingten Kündigungen, ecolex 2/2010, 177). Der AG ist dadurch angehalten, dem AN einen seiner verminderten Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen (OGH 24.8.1998, 8 ObA 172/98x).
In seiner E vom 28.11.2018 (9 ObA 123/18f) bekräftigte der OGH, dass dem AN, der auf einem anderen – freien – Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann, dieser Arbeitsplatz vor Ausspruch der Kündigung anzubieten ist, widrigenfalls die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist (RIS-Justiz RS0116698). Insb ältere und schon länger beschäftigte AN haben Anspruch, auf einem ihren geminderten Kräften entsprechenden Arbeitsplatz verwendet zu werden, wobei die Weiterverwendungsmöglichkeit 54 auf den gesamten Betrieb hin überprüft werden muss.
Hervorzuheben an dieser E ist auch noch, dass der Gerichtshof vom Anbot freier Arbeitsplätze spricht, die der bisherigen Berufspraxis des AN entsprechen. Dabei muss dem AN auch Gelegenheit zur Umschulung und Einarbeitung gegeben werden (RIS-Justiz RS0051707). Dies ist insofern bemerkenswert, als der OGH bislang (in einer E zur VBO Wien vom 21.2.2013, 9 ObA 127/12k), insb aber mit der E vom 29.4.2014 zu 9 ObA 165/13z, immer eine Verpflichtung des AG, den AN außerhalb seiner dienstvertraglich vereinbarten Tätigkeit weiter zu beschäftigen, abgelehnt hat. So verneinte er eine dementsprechende Verpflichtung, eine zuletzt 202 Tage im Krankenstand befindliche Pflegehelferin, die nicht mehr in der Lage war, ihre vereinbarte Tätigkeit auszuüben, außerhalb der vertraglichen Tätigkeit weiter zu beschäftigen.
Die Setzung der Vertragsgrenze als Limit der sozialen Gestaltungspflicht wurde bereits von der Literatur zu Recht kritisch kommentiert. Aus § 6 Abs 1a („geeigneten und erforderlichen Maßnahmen“) oder § 8 Abs 4 lit b BEinstG („anderer geeigneter Arbeitsplatz“) ergibt sich eine solche Grenze nicht (S. Auer-Mayer, DRdA 2/2015, 110; Gerhartl, RdW 10/2014, 598; Windisch-Graetz/Bertsch, DRdA 1/2019, 45; Windisch-Graetz, DRdA 2014, 36).
Die Bezugnahme auf die „bisherige Berufspraxis“ bedeutet zweifellos mehr als die „vereinbarte vertragliche Tätigkeit“, kommt es doch nicht mehr nur auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit am konkreten Arbeitsplatz, sondern mitunter auch auf eine Mehrzahl früherer, allenfalls auch bei anderen AG ausgeübten Tätigkeiten an. In diesem Zusammenhang erging zuletzt auch im Rahmen der Prüfung einer betriebsbedingten Kündigung die E des OGH vom 25.3.2019 zu 8 ObA 8/19p, wonach ebenso die soziale Gestaltungspflicht den AG zum Anbot freier Arbeitsplätze, „soweit diese der bisherigen Berufspraxis des AN entsprechen“
, verpflichtet.
Unverändert dürfte die Haltung des OGH jedoch in jenen Fällen sein, in denen bei nur partieller Dienstfähigkeit ein neuer Posten erst geschaffen werden müsste. In der OGH-E vom 24.5.2016 zu 8 ObA 35/16d hat die bekl öffentliche AG den vertraglich nicht weiter verwendbaren AN zuerst in den sogenannten „Leichtdienst“ überstellt und ihm sodann eine dauerhafte Verwendung als Bürohelfer angeboten. Damit hatte sie ihrer sozialen Gestaltungs- bzw Fürsorgepflicht Genüge getan, auch obwohl der AN der zuletzt genannten Verwendung nicht zugestimmt hat und lieber im Leichtdienst verblieben wäre. In der OGH-E vom 24.10.2018 zu 8 ObA 56/18w bekräftigte der OGH, dass die Fürsorgepflicht des AG nicht so weit geht, für den dauernd nicht voll einsatzfähigen Vertragsbediensteten durch eine neue Arbeitsverteilung einen dem Rest seiner Arbeitskraft entsprechenden neuen Posten auf Dauer schaffen zu müssen (RIS-Justiz RS0031393; so auch bereits OGH 29.4.2014, 9 ObA 165/13z). Bei der vorübergehenden Zuweisung einer Tätigkeit als „Waste Watcher“-Zeuge handelte es sich nach Auffassung des OGH um eine auch für den AN erkennbare soziale Maßnahme des AG, sodass aus der Zuweisung zu dieser Tätigkeit keine Änderung seiner angestammten Dienstpflicht abgeleitet werden kann.
Dass der AG im Falle partieller Dienstunfähigkeit nicht verpflichtet ist, seine Arbeitsorganisation dauerhaft umzustrukturieren oder gar nicht existierende Arbeitsplätze zu schaffen, nur um der eingeschränkten Leistungsfähigkeit des AN gerecht zu werden, entbindet ihn jedoch nicht von der Verpflichtung, weitere (vorhandene) alternative Einsatzmöglichkeiten für die ausgeübte Tätigkeit prüfen zu müssen. Dies insb dann, wenn dies aufgrund der Größe des Personalstands des AG tunlich und geboten wäre. Der OGH nimmt eine solche verstärkte Prüfpflicht umso mehr an, je größer und vielfältiger Personalstand und Tätigkeitsbereiche des AG sind (OGH 27.8.2013, 9 ObA 43/13h; OGH 13.6.2002, 8 ObA 79/02d).
Die Rsp hat immer schon (un)zumutbare Vertretungsvorkehrungen (sowie damit einhergehend auch den allfälligen Unmut der durch die Vertretung belasteten KollegInnen) als zu berücksichtigende Parameter ins Treffen geführt. Diese Umstände können sohin wenige AN beschäftigende AG eher für sich ins Treffen führen, währenddessen (an Personalstand) größere und strukturiertere AG umso mehr gefordert sind, nach Alternativen zu suchen.
Mit seiner E vom 27.2.2018 zu 9 ObA 137/17p betont der OGH, dass der AG im Zusammenhang mit krankheitsbedingten Ausfällen des AN auch auf dessen Mitwirkung angewiesen ist, da nur dieser die eigene Leistungsfähigkeit beurteilen kann. Anders als bei objektiv betriebsbedingten Kündigungen ist im Rahmen des personenbezogenen Kündigungsgrundes erhöhter Krankenstände die Leistungsfähigkeit vom AG nach Maßgabe der Angaben und Mitwirkung des AN zu beurteilen. Im konkreten Fall suchte der AG nach einer Operation des AN mit 55 diesem das Gespräch, was von diesem jedoch verweigert wurde. Die vom AN selbst geäußerten Einschränkungen ließen nur den Schluss der Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung zu. Für seine gewünschten Ersatztätigkeiten fehlte ihm die erforderliche Ausbildung. Der OGH sah in der Gesprächsverweigerung und unzureichenden Informationserteilung des AN einen Verstoß gegen die ihm obliegende Mitwirkungsverpflichtung und sah infolge dessen die soziale Gestaltungspflicht des AG letztlich als erfüllt an.
Dem AG ist die Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich des von ihm ins Treffen geführten Kündigungs(rechtfertigungs)grunds auferlegt (RIS-Justiz RS0110154). Der Entlassungsgrund der Dienstunfähigkeit iSd § 27 Z 2 AngG beispielsweise erfordert eine dauernde, nicht bloß vorübergehende Dienstunfähigkeit, die dem AG eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses unzumutbar macht. Es kann aber nicht von der subjektiven (Fehl-)Vorstellung des AG, dass der AN in absehbarer Zeit nicht wieder arbeitsfähig wird, abhängen, einen Entlassungsgrund anzunehmen. Es obliegt vielmehr dem AG, sich über den zu erwartenden Heilungsverlauf ausreichend zu informieren, widrigenfalls er das Risiko eingeht, dass sich die Entlassung als unberechtigt erweist (OGH 27.3.2002, 9 ObA 68/02v). Setzt sich der in Ansehung des Rechtfertigungsgrunds beweispflichtige AG nicht mit den rechtserheblichen Umständen der zu erstellenden Zukunftsprognose auseinander und stellt keine diesbezüglichen Nachforschungen an, so trägt er das Risiko, dass sich seine Prognose bei Anlegung eines objektiven Maßstabs als unrichtig erweist (OGH 30.8.2011, 8 ObA 53/11v).
An diese Überlegungen knüpft der OGH in seiner E vom 19.12.2018 zu 8 ObA 68/18k an: Weil sämtliche Krankenstände infolge von Unfällen aufgetreten waren, mit weiteren unfallbedingten Krankenständen jedoch nicht mehr zu rechnen war und auch kein Grundleiden des AN bestand, nahm der Gerichtshof eine ungünstige Zukunftsprognose nicht an.
Dem Einwand des AG, bei Ausspruch der Kündigung seien ihm die Ursachen der Krankenstände und die Prognose aufgrund eines späteren medizinischen Sachverständigengutachtens nicht bekannt gewesen, wurde entgegengehalten, dass der insofern beweispflichtige AG, der keine Nachforschungen anstellte und sich nicht mit Art, Ursache und Krankenbehandlung auseinandersetzte, das Risiko seiner unrichtigen Prognose trägt. Dem weiteren Einwand des AG, aufgrund grund- und datenschutzrechtlicher Erwägungen hätte er keinen Zugang zum vollen Sachverhalt gehabt, wurde entgegnet, dass der AG nie behauptet hat, auch nur versucht zu haben, an die relevanten Informationen – etwa durch Befragung des AN – zu gelangen. Schließlich verwies der OGH noch auf seine E vom 27.2.2018 zu 9 ObA 137/17p, mit der er klargestellt hätte, dass den Bemühungen des AG um Aufklärung der Ursachen des Krankenstands – neben der Mitwirkung des AN daran – Bedeutung zukommt.
Der OGH betont in seiner jüngeren Judikatur also auch das Bestehen einer Mitwirkungsobliegenheit des AG iS einer Informationseinholungs- und Nachforschungspflicht, die im Falle der Nichterfüllung zu einer falschen Zukunftsprognose führt und zu seinen Lasten ausschlägt.
Die Auslegung des durch die RL 2000/78/EG nicht definierten Behinderungsbegriffs erfuhr durch die E des EuGH vom 11.4.2013 in der Rs HK Danmark (oder auch bekannt unter Ring/Werge; C-335/11 und C-337/11) einen markanten Paradigmenwechsel. Demzufolge kann auch ein langer Krankenstand als längerfristige Funktionsbeeinträchtigung, die in Wechselwirkung mit Barrieren die volle Teilhabe am Arbeitsleben erschwert, das Vorliegen einer Behinderung indizieren. Knüpft sich eine benachteiligende Behandlung durch den AG daran, indem er den AN deswegen kündigt, liegt zumindest eine mittelbare Diskriminierung vor, die wiederum durch geeignete Maßnahmen des AG (im Ausgangsfall zB durch Anbot einer Arbeitszeitverkürzung) vermieden werden kann.
Der OGH hat diesen Gedanken in seiner E vom 29.4.2014 zu 9 ObA 165/13z insofern aufgegriffen, als er erkannt hat, dass die unreflektierte Gleichsetzung von Fehlzeiten wegen mit einer Behinderung in Zusammenhang stehender Krankheiten mit Zeiten schlichter Krankheiten und eine darauf gestützte Beendigung eine mittelbare Diskriminierung behinderter AN bewirkt, da diese typischerweise einem erhöhten Risiko mit der Behinderung zusammenhängender Krankenstände und daher einer solchen Beendigung ausgesetzt sind.
Regelungen, die eine Beendigung des Arbeitsvertrages aufgrund längerer Fehlzeiten durch Krankheit erlauben, knüpfen zwar nicht unmittelbar am Vorliegen einer Behinderung an, Menschen mit Behinderung sind aber aufgrund ihres höheren Krankheitsrisikos hauptsächlich davon betroffen. Sie diskriminieren daher potentiell nur mittelbar.
Mittelbare Diskriminierung ist einer Rechtfertigung zugänglich, die in der Rs HK Danmark (Ring/Werge) im Anbot von reduzierter (Teilzeit-) Arbeitszeit gelegen gewesen wäre.56
In der E vom 18.1.2018 in der Rs Ruiz Conejero (C-270/16) billigt der EuGH eine Regelung, nach der ein AG einen AN aufgrund gerechtfertigter, aber wiederkehrender Abwesenheit vom Arbeitsplatz auch dann entlassen darf, wenn die Fehlzeiten die Folge von Krankheiten sind, die auf eine Behinderung des AN zurückzuführen sind, nur dann, wenn diese Regelung unter Verfolgung des legitimen Ziels der Bekämpfung des Absentismus nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.
In den Schlussanträgen des GA Sharpston vom 19.10.2017 zu dieser Rechtssache betont dieser, dass von einem uninformierten AG nicht erwartet werden kann, „angemessene Vorkehrungen“ (iSv Art 5 RL 2000/78) zu treffen. Selbst in den Fällen, in denen eine Behinderung offensichtlich ist, können zusätzliche Angaben des AN notwendig sein, widrigenfalls die Förderpflicht des AG auf die offensichtlichen Maßnahmen beschränkt bleibt. Dies stützt die unter Pkt 2.4. beschriebene E des OGH vom 27.2.2018 zu 9 ObA 137/17p.
Zuletzt judizierte der EuGH nach diesen Grundsätzen in der Rs Nobel Plastiques Iberica (11.9.2019, C-397/18). Einer Kündigungsentscheidung zugrundeliegende Kriterien wie etwa Produktivität, Einsetzbarkeit und Fehlzeiten stellen zwar keine unmittelbare Diskriminierung dar, können aber eine mittelbare Diskriminierung verwirklichen, wenn angemessene Vorkehrungen iSd Art 5 der RL 2000/78 in Gestalt von Arbeitsplatzanpassungen zum Ausgleich der Nachteile dieser Kriterien nicht getroffen werden.
Im nationalen Kontext wird dabei insb auf § 6 Abs 1a BEinstG Bedacht zu nehmen sein, der für AG (nicht nur begünstigter) behinderter AN die Vornahme geeigneter und verhältnismäßiger Fördermaßnahmen vorsieht. Indem der AG seine Förderpflicht erfüllt, vermag er eine Diskriminierung zu vermeiden (Windisch-Graetz/Bertsch, DRdA 1/2019, 45, mwN).
Ein ständiges „Mitdenken“ der möglichen Behindertendiskriminierung im Zuge der Berufung auf einen langen Krankenstand als Kündigungs(rechtfertigungs)grund durch AG wird diesen jedenfalls in Zukunft nicht erspart bleiben.