Erstes internationales Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
Erstes internationales Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
Im Juni 2019 wurde das erste internationale Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf beschlossen. Darin wird erstmals ein weltweites Recht auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung verankert.
Vor allem Gewerkschafterinnen kämpften seit Jahren für ein Verbot von geschlechtsspezifischer Gewalt. Denn laut dem Internationalen Gewerkschaftsbund haben 35 % der Frauen weltweit Gewalterfahrungen gemacht. Zwischen 40 und 50 % der Frauen erleben sexuelle Belästigung bei der Arbeit.*
Deshalb forderten Gewerkschaften ein internationales Übereinkommen gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz. Sie gaben damit den Anstoß für ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das schlussendlich einen Schutz für alle in der Arbeitswelt bietet und sich nicht nur auf geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung bezieht.
Der Normsetzungsprozess* der ILO begann im Jahr 2015 und bedurfte einiger Berichte, Stellungnahmeverfahren und Verhandlungsrunden auf der Internationalen Arbeitskonferenz.
Nach teils zähen Verhandlungen zwischen den drei auf der Konferenz vertretenen Gruppen – den Regierungen, AG und Gewerkschaften – wurden die ersten internationalen Normen gegen Gewalt und Belästigung in der schließlich 2019 beschlossen:* das Übereinkommen, 2019 (Nr 190) und die ergänzende Empfehlung, 2019 (Nr 206).
Das Übereinkommen ist bei Ratifikation* durch den jeweiligen Staat verbindlich, legt grundlegende Rechte fest und unterliegt dem ILO-Überwachungsmechanismus.* Die Empfehlung ist unverbindlich und soll als ergänzende und konkretere Handlungsanleitung dienen.
Das Übereinkommen wurde mit 439 Pro-Stimmen, sieben Gegenstimmen und 30 Enthaltungen angenommen. Die VertreterInnen der österreichischen Regierung und des ÖGB stimmten dafür, die Industriellenvereinigung enthielt sich.*
Die Empfehlung wurde mit 397 Pro-Stimmen, zwölf Gegenstimmen und 44 Enthaltungen verabschiedet. Die VertreterInnen der österreichischen Regierung und des ÖGB stimmten dafür, die Industriellenvereinigung dagegen.*
Die wichtigsten Inhalte des Übereinkommens Nr 190* und der Empfehlung Nr 206*:
die Verankerung eines Rechts auf eine ohne Gewalt und Belästigung;
die Anerkennung, dass Gewalt und Belästigung in der eine Menschenrechtsverletzung darstellen kann;
eine Definition von Gewalt und Belästigung, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt;
ein weiter persönlicher Schutzbereich (ua abhängig Beschäftigte unabhängig von ihrem Vertragsstatus, PraktikantInnen, Arbeitssuchende);
ein weiter örtlicher Schutzbereich (ua Umkleideeinrichtungen, Arbeitsweg);
Mitgliedstaaten und AG werden zu Präventionsmaßnahmen verpflichtet;
Unterstützung und Zugang zu Gerichten für Betroffene;
Schutz vor Viktimisierung für BeschwerdeführerInnen;
Sanktionen müssen vorgesehen werden;
Bereitstellung von Leitlinien, Ressourcen, Schulungen und Durchführung von Sensibilisierungskampagnen durch die Mitgliedstaaten; 62
erstmals Anerkennung, dass häusliche Gewalt Auswirkungen auf die haben kann;
Schutz von besonders verletzlichen Gruppen, die unverhältnismäßig stark von Gewalt und Belästigung in der betroffen sind.
Das Übereinkommen normiert, dass jede/r das Recht auf eine ohne Gewalt und Belästigung, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, hat. Es erkennt auch an, dass Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt eine Menschenrechtsverletzung darstellen können, dass sie die Chancengleichheit bedrohen und mit menschenwürdiger Arbeit unvereinbar sind. Betont wird zudem, wie wichtig eine auf gegenseitige Achtung und Menschenwürde beruhende Arbeitskultur dafür ist, Gewalt und Belästigung zu verhindern.
Es gibt eine eigene, für die Eigenheiten von 187 verschiedenen Rechtsordnungen adaptierbare Definition von „Gewalt und Belästigung“ in der Arbeitswelt. Sie wird festgeschrieben als „Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben […]“
.*
Explizit verboten wird auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung. Umfasst sind somit beispielsweise Beschimpfungen, Mobbing, sexuelle Belästigung, körperliche Misshandlung, Drohungen und Stalking.
Der Grundgedanke ist es, einen inklusiven Ansatz zu verfolgen und somit wurde ein möglichst weiter persönlicher Schutzbereich festgelegt. Das bedeutet nicht „nur“, dass AN geschützt sind, sondern ua auch „abhängig Beschäftigte im Sinne der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Praxis, sowie erwerbstätige Personen ungeachtet ihres Vertragsstatus, in Ausbildung befindliche Personen, einschließlich Praktikantinnen und Praktikanten und Lehrlinge, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis beendet wurde, Freiwillige, Arbeitsuchende und Stellenbewerberinnen und Stellenbewerber [...]“
.*
Es gibt auch das Bewusstsein, dass ua AN in bestimmten Sektoren und Berufen Gewalt und Belästigung stärker ausgesetzt sind. Die für die Mitgliedstaaten jeweils spezifischen Sektoren sollen in Beratung mit den betreffenden AG- und AN-Verbänden ermittelt und Maßnahmen ergriffen werden, um solche Personen wirksam zu schützen.* Beispielsweise etwa bei Nachtarbeit, Alleinarbeit, im Gesundheitswesen, Gastgewerbe, bei sozialen Diensten, Notfalldiensten, hauswirtschaftlicher Arbeit, im Transport, in der Bildung oder Unterhaltung.*
Der Schutz soll gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, die während, im Zusammenhang mit oder infolge der Arbeit auftreten, wirken, und zwar:
am Arbeitsplatz, einschließlich öffentlicher und privater Räume;
an Orten, wo der/die AN bezahlt wird, eine Ruhepause einlegt oder eine Mahlzeit einnimmt oder sanitäre Einrichtungen, Waschgelegenheiten und Umkleideeinrichtungen benutzt;
während arbeitsbezogener Fahrten, Reisen, Ausbildungen, Veranstaltungen oder gesellschaftlicher Aktivitäten;
während arbeitsbezogener Kommunikation, einschließlich derjenigen, die durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht wird;
in vom/von der AG bereitgestellten Unterkünften; und
auf dem Weg zur und von der Arbeit.
Die Mitgliedstaaten werden durch das Übereinkommen ua verpflichtet:*
Gewalt und Belästigung gesetzlich zu verbieten;
eine umfassende Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung umzusetzen;
Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen einzurichten oder zu stärken;
für Opfer Zugang zu Abhilfemaßnahmen und zur Unterstützung zu ermöglichen;
Sanktionen festzulegen;
Instrumente, Leitlinien sowie Bildungs- und Schulungsangebote und Sensibilisierung zu entwickeln;
und wirksame Aufsichts- und Untersuchungsmittel sicherzustellen. 63
All dies soll in Beratung mit den repräsentativen AG-Verbänden und Gewerkschaften geschehen, was wieder dem Grundprinzip der Dreigliedrigkeit und der Bedeutung des Sozialen Dialogs für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen im Recht und in der Praxis Rechnung trägt.
Angeregt wird auch, dazu Regelungen „im Arbeits- und Beschäftigungs-, Arbeitsschutz-, Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsrecht und dort, wo es angemessen ist, im Strafrecht“
* zu treffen. Hervorzuheben ist, dass die Mitgliedstaaten das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf gewährleisten sollen, einschließlich für weibliche AN sowie AN, welche unverhältnismäßig stark von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt betroffen und somit besonders verletzlich sind* (bspw junge AN, Menschen mit Behinderung). Dies anerkennt auch, dass das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung zentral mit der Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung zusammenhängt.
Die AG werden hier ebenfalls in die Verantwortung genommen. Auch sie sollen verpflichtet werden, Gewalt und Belästigung (einschließlich geschlechtsspezifischer) zu verhindern, wobei hier Rücksicht auf die praktische Umsetzbarkeit genommen werden soll.*
Zu den Pflichten der AG gehört es etwa, eine Arbeitsplatzpolitik zu Gewalt und Belästigung anzunehmen und auch umzusetzen und dies in Beratung mit den AN und ihren VertreterInnen, also zB Betriebsräten.
Wie könnte so eine Arbeitsplatzpolitik konkreter ausschauen?*
Sie sollte ua Folgendes enthalten:
die Erklärung, dass Gewalt und Belästigung nicht toleriert werden;
Programme zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung, uU mit messbaren Zielen;
Rechte und Verantwortlichkeiten von AG und AN;
Informationen über Beschwerde- und Untersuchungsverfahren;
alle Meldungen zu Vorfällen von Gewalt und Belästigung werden gebührend berücksichtigt und münden, sofern angemessen, in entsprechende Maßnahmen;
Maßnahmen zum Schutz von Opfern, ZeugInnen und HinweisgeberInnen vor Viktimisierung oder Vergeltungsmaßnahmen beinhalten.
Wichtig ist auch, dass das Übereinkommen die AG verpflichtet, Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken beim Arbeitsschutzmanagement zu berücksichtigen.
Ebenso müssen sie, unter Beteiligung der AN und ihrer VertreterInnen, Gefahren ermitteln, Risiken bewerten und Präventionsmaßnahmen setzen. Die arbeitsplatzbezogene Risikobewertung sollte Faktoren Rechnung tragen, durch die die Wahrscheinlichkeit von Gewalt und Belästigung erhöht wird, einschließlich psychosozialer Gefahren und Risiken. Solche Risikobewertungen können somit dazu beitragen, die nicht sichtbaren, zugrundeliegenden Ursachen anzugehen. Besondere Aufmerksamkeit sollte Gefahren und Risiken gelten, die bspw von der Organisation der Arbeit und dem Personalmanagement ausgehen, solche die Dritte, etwa KlientInnen, KundInnen betreffen und solche, die aus Diskriminierung und dem Missbrauch von Machtverhältnissen hervorgehen.
Außerdem sollen AG die AN und andere betroffene Personen über die Gefahren und Risiken, Präventions- und Schutzmaßnahmen sowie Rechte und Pflichten informieren und schulen.
Die Mitgliedstaaten sind wiederum verpflichtet, auch für die Durchsetzung der innerstaatlichen Regelungen in der Praxis zu sorgen. Hier soll laut Übereinkommen auch den Arbeitsaufsichtsbehörden eine besondere Rolle zukommen.
Sie müssen zB sicherstellen, dass es einen leichten Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemaßnahmen gibt. Damit ist etwa ein Recht auf Kündigung mit Entschädigung, Wiedereinstellung und angemessenen Schadenersatz gemeint.
Einen leichten Zugang muss es auch zu sicheren, fairen und wirksamen Beschwerde- und Untersuchungsverfahren, Streitbeilegungsmechanismen und Gerichten geben.64
„Wo es angemessen ist“,* sollen Sanktionen vorgesehen werden. Wichtig ist auch, dass Opfer, ZeugInnen und HinweisgeberInnen vor Viktimisierung oder Vergeltungsmaßnahmen geschützt werden müssen. Die Mitgliedstaaten haben für beschwerdeführende Personen und Opfer außerdem rechtliche, soziale, medizinische und administrative Unterstützungsmaßnahmen sicherzustellen.
Es ist dafür zu sorgen, dass Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung „effektiven Zugang zu geschlechterorientierten, sicheren und wirksamen Beschwerde- und Streitbeilegungsmechanismen, Unterstützungsangeboten, Diensten und Abhilfemaßnahmen haben“
.* In diesem Zusammenhang wird etwa auch angeregt, dass Gerichte über eine diesbezügliche Sachkompetenz verfügen sollten oder, sofern angemessen, eine Umkehr der Beweislast in Gerichtsverfahren vorgesehen wird. Unterstützungsmaßnahmen sollten Opfern bspw beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt helfen.
Ein weltweit neuer Impuls ist auch, dass Mitgliedstaaten Maßnahmen setzen sollen, „die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt anzuerkennen und, soweit dies praktisch durchführbar ist, ihre Auswirkungen in der Arbeitswelt zu mindern“
,* etwa Arbeitsfreistellung oder flexible Arbeitsregelungen für die Opfer häuslicher Gewalt und Sensibilisierung für das Thema.
AN müssen auch das Recht haben, sich aus einer Arbeitssituation zu entfernen, wenn sie Grund zu der Annahme haben, dass die Situation mit unmittelbarer und ernster Gefahr für ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit verbunden ist.
In Beratung mit den repräsentativen AG- und AN-Verbänden bemühen sich die Mitgliedstaaten, Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt in den einschlägigen innerstaatlichen Politiken, wie zum Arbeitsschutz, zur Gleichheit und Nichtdiskriminierung sowie zur Migration, anzugehen.
Die Mitgliedstaaten sollen außerdem den AG und AN und ihren Verbänden und den zuständigen Behörden Leitlinien (wie zB Musterverhaltensregeln), Ressourcen, Schulungen oder sonstige Instrumente (bspw Risikobewertungsinstrumente) bereitstellen. Auch Initiativen, einschließlich Sensibilisierungskampagnen, die Bereitstellung von geschlechtergerechten Leitlinien und Schulungsprogramme ua für RichterInnen und ArbeitsinspektorInnen sowie Materialien für JournalistInnen sollen zur Sensibilisierung für das Thema beitragen.
Das Übereinkommen soll durch innerstaatliche Rechtsvorschriften sowie durch Kollektivverträge oder etwa durch die Ausweitung bestehender Arbeitsschutzmaßnahmen in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Kollektivverhandlungen – das sind Verhandlungen über Kollektivverträge oder auch auf betrieblicher Ebene – können seitens der Mitgliedstaaten bspw auch durch Informationen über Best Practices unterstützt werden.
Nach Jahren des Kampfes der AN und Gewerkschaften für ein internationales Übereinkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt haben die in der ILO vertretenen Regierungen, AG-Verbände und Gewerkschaften dieses endlich auch beschlossen. Nun ist die österreichische Bundesregierung aufgerufen, die historische Gelegenheit zu ergreifen, dieses Übereinkommen zu ratifizieren und so eine umfassende Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt anzunehmen.
Für eine erfolgreiche Umsetzung in der Praxis ist eine gute Einbindung der Sozialpartner, vor allem der AN-Vertretung, essentiell. Nur so kann gewährleistet werden, dass der Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt auch effektiv in der Praxis ankommt. 65