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Kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für Diplomatin mit Dienstort und Wohnsitz in Brasilien

KRISZTINAJUHASZ

Die in der Sonderregelung des § 26 Abs 3 BAO normierte Fiktion eines Inlandsaufenthalts ist nicht auf den Anwendungsbereich des KBGG übertragbar. Somit fehlt die Begründung des Mittelpunktes der Lebensinteressen im Bundesgebiet als Anspruchsvoraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld.

SACHVERHALT

Die Kl ist seit 1.12.2008 im Höheren Auswärtigen Dienst des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) der Republik Österreich tätig. Sie war bis zu ihrer Versetzung nach Brasilien in Österreich wohnhaft. Mit Dekret vom 5.5.2014 wurde sie nach Brasilien versetzt. Ihr Dienstort und Arbeitsplatz war die Botschaft der Republik Österreich in Brasilien. Diese Versetzung machte die Übersiedlung der Kl nach Brasilien erforderlich. Sie gebar am 17.6.2017 ihren Sohn und bezog vom 22.4. bis 12.8.2017 Wochengeld. Vom 13.8. bis 12.10.2017 befand sie sich in Karenz. Während der Zeit des Mutterschutzes und der Karenz wurde sie nicht nach Österreich zurückbeordert, sondern blieb in Brasilien, wo sie im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten und ihrem Kind lebte. Am 13.10.2017 trat sie ihren Dienst in der Botschaft der Republik Österreich in Brasilien wieder an. Derzeit hat die Kl ihren Arbeitsplatz wieder im BMEIA in Wien.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte am 18.8.2017 die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld in der Variante Kinderbetreuungsgeldkonto für den Zeitraum von 23.8. bis 22.10.2017. Mit Bescheid wies die Bekl den Antrag mit der Begründung ab, dass die Kl im Antragszeitraum den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht in Österreich gehabt hätte.

Das Erstgericht sprach der Kl Kinderbetreuungsgeld bis 12.10.2017 zu. Das Mehrbegehren auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum 13.10. bis 22.10.2017 sowie das Zinsenbegehren wies das Erstgericht ab. Im Umfang der Abweisung des Klagebegehrens erwuchs das Urteil des Erstgerichts unangefochten in Rechtskraft.

Das Berufungsgericht wies die Berufung der Bekl ab, ihre Revision ist zulässig und berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. […] Neben weiteren Voraussetzungen hat ein Elternteil Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für sein Kind, sofern für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz BGBl I 1967/376(FLAG) besteht und der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben (§ 2 Abs 1 Z 1 und Z 4 KBGG).
2. Wie die Gesetzesmaterialien zu § 2 Abs 1 Z 4 KBGG ausführen, ergeben sich im Normalfall die Voraussetzungen des Mittelpunkts der Lebensinteressen und des rechtmäßigen Aufenthalts von Elternteil und Kind aus den Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der Familienbeihilfe (siehe § 2 Abs 8 FLAG, der für Personen mit mehreren Wohnsitzen ebenfalls auf den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet abstellt). […]
3. Nach der Rechtsprechung ist ein Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet im Sinn des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG dann anzunehmen, wenn sich eine Person ständig in Österreich aufhält und die Gesamtabwägung aller Umstände erbringt, dass diese Person zu Österreich die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat (RS0130844). Bei verheirateten Personen, die einen gemeinsamen Haushalt führen, besteht die stärkste persönliche Beziehung in der Regel zu dem Ort, an dem sie mit ihrer Familie leben (10 ObS 65/06s SSV-NF 20/47; VwGH2009/16/ 0125; 2008/15/0325 zu § 2 Abs 8 FLAG, dem die Bestimmung des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG nachgebildet ist, Burger-Ehrnhofer, KBGG3 § 2 KBGG Rz 45, ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 155).
4.1 […] Der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Klägerin im Sinn des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG, der Ort des Aufenthalts ihrer Familie, lag nach der dargestellten Rechtsprechung daher in Brasilien.
4.2 Richtig ist, dass die Klägerin […] in Österreich steuer- und sozialversicherungspflichtig blieb. Dies ergibt sich allerdings aus den für die Klägerin anzuwendenden völkerrechtlichen Bestimmungen […]. Genau darin liegt das Motiv für die Schaffung des § 26 Abs 3 BAO, wonach in einem Dienstverhältnis zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts stehende österreichische Staatsbürger, die ihren Dienstort im Ausland haben (Auslandsbeamte), wie Personen behandelt werden, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort der die Dienstbezüge anweisenden Stelle haben. Der Zweck dieser Bestimmung besteht darin, bei Auslandsbeamten, die keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu fingieren, um eine unbeschränkte Steuerpflicht in Österreich zu begründen (VwGHRo 2018/13/0008mwH; VwGH2002/13/0004). […]
5.3 Im vorliegenden Fall sind aber nicht die […] Begriffe des Wohnsitzes (§ 26 Abs 1 BAO) oder des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 26 Abs 2 BAO) […] zu beurteilen, sondern der Begriff des ‚Mittelpunkts 258 der Lebensinteressen‘, der sowohl gemäß § 2 Abs 8 FLAG als auch gemäß § 2 Abs 1 Z 4 KBGG einen abweichenden Inhalt zu den Begriffen des ‚Wohnsitzes‘ oder ‚gewöhnlichen Aufenthalts‘ im Sinn des § 26 Abs 1 und 2 BAO hat (VwGH2009/16/0221; Ritz, BAO6 § 26 Rz 19).
5.4 Gemäß § 2 Abs 1 FLAG haben Anspruch auf Familienbeihilfe Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. § 2 Abs 8 FLAG verfolgt das von § 2 Abs 1 FLAG vorgegebene Ziel, Familienbeihilfe nur Personen zukommen zu lassen, die im Inland – wenn schon nicht den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt – den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen haben, um den erforderlichen Nahebezug zu Österreich sicherzustellen. […]
6.1 Richtig ist, dass die Klägerin während des Anspruchszeitraums – unstrittig – Familienbeihilfe bezogen hat. Dies beruht […] ebenfalls auf § 26 Abs 3 BAO und den bereits dargestellten völkerrechtlichen Privilegien der Klägerin als österreichische Auslandsbeamtin. Die in § 26 Abs 3 BAO normierte Fiktion eines Inlandsaufenthalts ist jedoch entgegen dem Rechtsstandpunkt der Klägerin nicht auf den Anwendungsbereich des KBGG zu übertragen: […]
6.2 Die Bundesabgabenordnung (BAO) gilt in Angelegenheiten der öffentlichen Abgaben (§ 1 BAO). § 26 Abs 2 definiert den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinn der Abgabenvorschriften […].
6.3. Sinngemäß gilt die BAO auch in Angelegenheiten der von den Abgabenbehörden des Bundes zuzuerkennenden oder rückzufordernden bundesrechtlich geregelten Beihilfen aller Art (§ 2 lit a Z 1 BAO). […] Für den Bereich der Familienbeihilfe hatte § 26 Abs 3 BAO wie bereits ausgeführt zur Folge, dass für Auslandsbeamte unabhängig von deren Dienstort (auch in Drittstaaten) ein Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe bestand, ohne dass sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt bzw den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen im Bundesgebiet nachweisen mussten (§ 2 Abs 1 FLAG; § 2 Abs 8 FLAG; ErläutRV 111 BlgNR 26. GP 4).
7.1 Das Kinderbetreuungsgeld ist jedoch nicht zu den von den Abgabenbehörden des Bundes zuzuerkennenden oder rückzufordernden bundesrechtlich geregelten Beihilfen im Sinn des § 2 lit a BAO zu zählen:
7.2 Das Kinderbetreuungsgeld fällt in die Zuständigkeit des gesetzlichen Krankenversicherungsträgers (§ 25a KBGG). Es wird somit nicht von einer Abgabenbehörde des Bundes nach den Bestimmungen der BAO zuerkannt oder zurückgefordert (§ 2 lit a BAO).
7.3 […] der Begriff der ‚Abgabenbehörden‘ in § 49 Abs 1 BAO [wird] dahin definiert […], dass es sich dabei um die mit der Einhebung der im § 1 BAO bezeichneten öffentlichen Abgaben und Beiträge betrauten Behörden der Abgabenverwaltung des Bundes, der Länder und Gemeinden handelt. […]
8.1 Dass § 26 Abs 3 BAO bei der Entscheidung über Ansprüche auf Kinderbetreuungsgeld nicht zu berücksichtigen ist, ergibt sich weiters aus § 25a KBGG, in dem für das Verfahren in Angelegenheiten des Kinderbetreuungsgeldes (taxativ) auf die für Leistungssachen der Krankenversicherungsträger geltenden Bestimmungen des ASVG, GSVG, BSVG und des B-KUVG, nicht aber auf die BAO verwiesen wird.
8.2 Anhaltspunkte dafür, dass der in § 25a KBGG fehlende Verweis auf die BAO eine planwidrige Unvollständigkeit darstellt, die durch Analogie zu schließen wäre, fehlen:
[…] Analogie ist […] trotz Sachargumenten für Gleichbehandlung jedenfalls dann unzulässig, wenn Gesetzeswortlaut und gesetzgeberische Absicht klar in die Gegenrichtung verweisen (P. Bydlinski in KBB5 § 7 ABGB Rz 2 mwN; 4 Ob 542/91).“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hat in seiner E festgehalten, dass zwar im Wege der völkerrechtlich vorgegebenen Fiktion gem § 26 Abs 3 BAO eine wirtschaftliche Beziehung der Kl als Auslandsbeamtin zum Bundesgebiet während des Anspruchszeitraums aufrecht blieb, dies änderte jedoch nichts daran, dass die ausschlaggebende stärkere persönliche Beziehung während des Anspruchszeitraums nach den dargestellten Kriterien zu Brasilien bestand.

Zur Argumentation des Berufungsgerichts, unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des OGH zu 10 ObS 8/16yvom 7.6.2016 und des VwGH zu 2009/16/0125 vom 24.6.2010, wonach es zur Beurteilung des Mittelpunkts der Lebensinteressen nicht darauf ankomme, ob der Aufenthalt im Bundesgebiet ein ständiger sei, hat der OGH ausgeführt, dass diese Entscheidungen einen Mittelpunkt der Lebensinteressen iSd § 2 Abs 8 FLAG (und daher auch iSd § 2 Abs 1 Z 4 KBGG) in Österreich auch dann annehmen, wenn der Aufenthalt im Bundesgebiet – etwa zu Studienzwecken (VwGH 25.4.2017, Ra 2017/16/0031) – zeitlich begrenzt ist. Daraus war allerdings für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen, weil es an einem Aufenthalt der Kl im Bundesgebiet fehlte.

Die Bezugnahme des Berufungsgerichts auf weitere – in Steuerrechtssachen ergangene – Judikatur des VwGH (17.10.2017, Ra 2016/15/0008; 25.7.2013, 2011/15/0193), wonach der Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet auch im Fall einer befristeten Auslandstätigkeit weiterbestehen kann, hat der OGH ebenso nicht für stichhaltig erachtet, da in diesen Entscheidungen jeweils die unbeschränkte Steuerpflicht von Personen bzw der „Ansässigkeit“ im Anwendungsbereich von Doppelbesteuerungsabkommen, die gem § 1 Abs 2 EStG vom Vorhandensein eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland abhängt, zu prüfen war.259

Im vorliegenden Fall war der Begriff des „Mittelpunkts der Lebensinteressen“ gem § 2 Abs 1 Z 4 KBGG (iSd § 2 Abs 8 FLAG) und nicht die Begriffe des „Wohnsitzes“ und des „gewöhnlichen Aufenthalts“ nach den Abgabenvorschriften (§ 26 BAO) mit ihrem abweichenden Inhalt zu beurteilen. Der OGH stellte daher fest, dass diese Begriffe der BAO mit dem in § 2 Abs 1 Z 4 KBGG verwendeten Begriff des „Mittelpunkts der Lebensinteressen“ nicht inhaltsgleich sind.

Zudem gilt sinngemäß die BAO für bundesrechtlich geregelte Beihilfen aller Art. Als Beihilfen iSd § 2 lit a BAO sind die Familienbeihilfe (§ 2 FLAG), die Schulfahrtbeihilfe (§§ 30a ff FLAG), die Fahrtenbeihilfe für Lehrlinge (§§ 40m ff FLAG), die Kleinkindbeihilfe (§ 32 ff FLAG) und der Mutter-Kind-Pass-Bonus (§§ 38d ff FLAG) anzusehen. Das Kinderbetreuungsgeld zählt jedoch nicht zu den bundesrechtlich geregelten Beihilfen iSd § 2 lit a BAO. Weiters verweist § 52 BAO hinsichtlich der Abgabenbehörden des Bundes auf das Abgabenverwaltungsorganisationsgesetz 2010, BGBl I 2010/9BGBl I 2010/9 (AVOG 2010), das als Abgabenbehörden des Bundes das BM für Finanzen, die Finanzämter und die Zollämter nennt. Das Kinderbetreuungsgeld fällt in die Zuständigkeit des gesetzlichen Krankenversicherungsträgers. Krankenversicherungsträger sind iSd § 49 Abs 1 BAO aber keine Abgabenbehörden.

§ 25a KBGG nimmt taxativ auf die Bestimmungen des ASVG, GSVG, BSVG und des B-KUVG Bezug. Die BAO wird dabei nicht erwähnt. Der in § 25a KBGG fehlende Verweis auf die BAO ist nach Ansicht der OGH keine planwidrige – durch Analogie zu schließende – Gesetzeslücke, denn sowohl der Gesetzeswortlaut als auch die gesetzgeberische Absicht im KBGG sind in diesem Fall klar erkennbar.

Somit ist die in § 26 Abs 3 BAO normierte Fiktion eines Inlandsaufenthalts nicht auf den Anwendungsbereich des KBGG zu übertragen. Daher war der Revision der Bekl Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.

ANMERKUNG DER BEARBEITERIN:
Zum Anspruch des mitversicherten Ehemannes auf Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 23.10.2017 bis 15.9.2018 ist die OGH-E 10 ObS 2/20x vom 18.2.2020 ergangen. Im Ergebnis gelang dem Kl der Nachweis des Mittelpunkts der Lebensinteressen in Österreich nicht, da er sich weder vor noch während des Anspruchszeitraums in Österreich aufhielt und mit seiner Familie durchgehend in Brasilien lebte. Aus der Gesamtabwägung aller Umstände ergab sich nicht, dass der Kl zu Österreich engere persönliche oder wirtschaftliche Beziehungen hatte, weshalb er die Voraussetzung des Mittelpunkts der Lebensinteressen im Bundesgebiet gem § 2 Abs 1 Z 4 KBGG nicht erfüllte. Seine Revision erwies sich daher als nicht berechtigt.