Bundessozialgericht: Neue Tendenzen beim Wegunfall
Bundessozialgericht: Neue Tendenzen beim Wegunfall
Unfälle auf Wegen vom und zum Arbeitsplatz waren nach dem Unfallversicherungsgesetz (UVG) 1888 nicht unfallversichert.* 1914 wurde der Unfallversicherungsschutz über den Kernbereich des Arbeitsunfalls hinaus auch auf sogenannte „Wegunfälle“ ausgedehnt und dem Arbeitsunfall solche Unfälle gleichgestellt, die sich „auf dem Wege von der Wohnung zur Arbeit oder von der Arbeit zur Wohnung ereignen, sofern dieser Weg keine im Eigeninteresse des Versicherten begründete oder sonstige, mit dem Arbeitsverhältnis nicht zusammenhängende Unterbrechung erfahren hat“
; zuerst für Bergarbeiter durch § 9 Abs 1 der Kaiserlichen Verordnung, RGBl 1914/80, und schließlich 1917 durch eine Novelle zum UVG 1888 für alle unfallversicherten DN.* Die schon in der Bergarbeiterverordnung enthaltene Formulierung wurde in alle Folgegesetze bis zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz (GSVG) 1938 fortgeschrieben.* Die Formulierung des 1939 übernommenen deutschen Reichsrechts* wich von dieser früheren Formulierung insofern ab, als die Wohnung als Ausgangspunkt des Arbeitsweges nicht mehr ausdrücklich im Gesetz genannt wurde, dafür aber auch bei Bestehen einer betriebsnahen Unterkunft auch der Weg „an die ständige Familienwohnung“ (nach dem Wortlaut des daran angelehnten § 175 Abs 2 Z 1 ASVG „an den ständigen Aufenthaltsort“) ausdrücklich geschützt wurde.*
Die österreichische Rsp vertrat sehr früh die eher rigorose Meinung, dass nur der Weg vom Familienwohnsitz (iSd ständigen Aufenthaltsortes verstanden) zum Arbeitsplatz geschützt ist und von keinem anderen Ort.* Die Strenge dieser Rsp, die auch den Versicherungsschutz auf dem Weg vom vorübergehend bewohnten Sommerhaus zum Arbeitsplatz verneinte,* wurde vom OGH fortgeschrieben und – abgesehen von Fällen der Unzumutbarkeit der Benützung des Wohnsitzes – bisher nur für den Fall aufgeweicht, in dem zwei Wohnorte in einem nahezu gleichen zeitlichen Umfang zur Wahrnehmung der wesentlichen Wohnungsfunktionen* benutzt werden.*
Die Rsp des dt Bundessozialgerichts (BSG) hat hingegen den Unfallversicherungsschutz auf dem Weg von und zu einem anderen Ort als dem Familienwohnsitz schon sehr früh anerkannt, wie zB von der Wohnung der Braut,* dies aber dadurch eingeschränkt, dass es den Versicherungsschutz auf solchen Wegen verneinte, wenn die Länge des Weges vom anderen Wohnort (die deutsche Rechtspraxis nennt diesen Ort „dritter Ort“) im Verhältnis zum „normalen Arbeitsweg“ unangemessen war.*
Mit dieser Rsp hat das BSG jetzt Schluss gemacht und den Wegschutz erweitert. Der 2. Senat hatte am 30.1.2020 in zwei Fällen von Revisionen darüber zu entscheiden, ob es sich bei Unfällen zum Arbeitsweg um versicherte Wegunfälle iSd Unfallversicherungsrechts handelt. Der Unfallversicherungsträger hatte in beiden Fällen den Versicherungsschutz abgelehnt.
Im Fall B 2 U 2/18 R war der Verunfallte in der Wohnung seiner Eltern in D polizeilich gemeldet, bewohnte dort ein Zimmer und hatte seine gesamte Habe untergebracht. Er war in diesem Ort als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Nach Feierabend fuhr er in der Regel zu-nächst in die elterliche Wohnung und nahm dort eine Mahlzeit ein. Danach suchte er rege-mäßig montags bis freitags seine Freundin in M auf und übernachtete in ihrer Wohnung, um dann am Folgetag von dort aus mit seinem Pkw zu seiner Arbeitsstätte in D zu fahren. Damit nutzte er über einen längeren Zeitraum zwei Wohnbereiche und bewegte sich während der Werktage zwischen beiden. Der Weg zwischen der Arbeitsstätte und der Meldeadresse ist 2 km lang, der Weg zur Wohnung der Freundin 44 km. Am Unfalltag verunglückte der Kl als Pkw-Fahrer auf dem direkten Weg von der Wohnung seiner Freundin, wo er übernachtet hatte, zu seiner Arbeitsstätte in D, wo er seine Tätigkeit als Auslieferungsfahrer aufnehmen wollte. Dabei zog er sich zahlreiche Verletzungen zu. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass der Weg von der Freundin zum Arbeitsplatz in keinem angemessenen Verhältnis zu dem unmittelbaren Weg 270zwischen der elterlichen Wohnung und der Arbeitsstätte stünde.
Im Fall B 2 U 20/18 R war der Verunfallte bei einer gemeinnützigen GmbH in N in der Personenbeförderung tätig. Er holte als Fahrer am frühen Morgen Teilnehmer an Maßnahmen zu Hause ab und brachte sie zum Betrieb der gGmbH. Diese Tätigkeit beendete er regelmäßig um 9 Uhr. Ab 15.30 Uhr holte er die Teilnehmer wieder von dort ab und brachte sie nach Hause. Am 14.10.2015 beendete der Kl seinen morgendlichen Dienst gegen 9 Uhr. Danach hielt er sich bis zum Beginn seines Nachmittagsdienstes bei einem Freund in K auf. Er über-nahm für diesen Erledigungen und aß gemeinsam zu Mittag. Anschließend fuhr er mit seinem Motorrad in Richtung seiner Arbeitsstätte bei der gGmbH, um dort seinen Nachmittagsdienst als Fahrer zu beginnen. Der von seinem Freund aus angetretene Weg zur Arbeitsstätte betrug 15,7 km, die Fahrstrecke von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte 4,3 km. Auf dem nachmittäglichen Weg zur gGmbH erlitt er einen Verkehrsunfall und zog sich Verletzungen zu. Der beklagte Unfallversicherungsträger lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, weil der Kl den Unfall nicht auf einem versicherten Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte, sondern auf einem unversicherten, von seinem Freund aus angetretenen Weg erlitten habe.
Der für Angelegenheiten der UV zuständige 2. Senat des BSG änderte aus Anlass der Revi-sionsentscheidung zu B 2 U 2/18 R seine Rsp zum Wegunfall mit folgender Begründung:*
„Der Kläger hat sich im Unfallzeitpunkt auf dem unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit befunden und seine Handlungstendenz ist auch darauf auch subjektiv ausgerichtet gewesen. Die konkrete, objektiv beobachtbare Verrichtung des „Sichfortbewegens“ auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit hat der Kläger auch subjektiv zu diesem Zweck durchgeführt. Denn er ist mit der Handlungstendenz unterwegs gewesen, den Ort der versicherten Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung der grundsätzlich versicherten Fortbewegung dient, ist die „objektivierte Handlungstendenz“ des Versicherten, sodass das objektiv beobachtbare Handeln subjektiv – zu-mindest auch – auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweils versicherten Tätigkeit ausge-richtet sein muss. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Als der Kläger die Autobahn am Unfalltag befuhr, diente diese Verrichtung allein der Fortbewegung auf der Strecke zum Ort der versicherten Tätigkeit, weil er die Wohnung seiner Freundin in M. um 7.10 Uhr verlassen hatte, um seine Arbeitsstätte in D. aufzusuchen und dort seine versicherte Tätigkeit als Auslieferungsfahrer aufzunehmen. Hatte die konkrete Verrichtung ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz, dh wäre sie hypothetisch auch dann vorgenommen worden, wenn ein etwaiges eigenwirtschaftliches Interesse entfallen wäre, dann ist nicht zusätzlich – im Rahmen eines räumlichen Ansatzes – einschränkend zu fordern, dass der Weg zum Ort der Tätigkeit, den der Versicherte nicht von seinem Lebensmittelpunkt (im Sinne eines häuslichen Bereichs) aus angetreten hat, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg zwischen dem häuslichen Bereich und dem Ort der Tätigkeit stehen muss. Die Frage, ob der Weg von einem dritten Ort in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblicherweise zurückzulegenden Arbeitsweg stehen muss und ob an den Zweck des Aufenthalts an dem sogenannten dritten Ort inhaltliche Anforderungen zu stellen sind, hat der Senat bislang uneinheitlich beantwortet.Der Senat stellt nunmehr zur Herstellung von Rechtsanwendungssicherheit ausdrücklich klar, dass es bei einem Unfall auf dem Weg von einem sogenannten dritten Ort weder auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken nach der Verkehrsanschauung noch – im Rahmen einer Gesamtschau – auf (etwaige betriebsdienliche) Motive für den Aufenthalt am dritten Ort, den erforderlichen Zeitaufwand zur Bewältigung der verschiedenen Wege und deren Beschaffenheit bzw Zustand, das benutzte Verkehrsmittel oder das erhöhte, verminderte bzw annähernd gleichwertige Unfallrisiko an-kommt. Es ist daher auch unerheblich, ob sich Weglänge und Fahrzeit noch im Rahmen der üblicherweise von Pendlern zurückgelegten Wegstrecke halten (oder darüber hinaus gehen). Entscheidend ist vielmehr, ob der Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich von der subjektiven Handlungstendenz geprägt ist, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen und dies in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet, dh objektivierbar ist.Die Wegeunfallversicherung setzt in § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII lediglich voraus, dass der Weg in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht und lässt bei den Hin-wegen nach dem Ort der Tätigkeit den jeweiligen Ausgangspunkt des versicherten unmittel-baren Weges ausdrücklich offen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass für Wege, die ihren Ausgangs- bzw Endpunkt im häuslichen Bereich des Versicherten haben, unfallversicherungsrechtlich keine Entfernungsgrenze gilt.*271Unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten lässt sich jedoch nicht rechtfertigen, dass Personen, die im selben Haus übernachtet haben und am nächsten Morgen denselben Arbeitsweg haben, nur dann versichert sind, wenn sie dort als Bewohner ihren (idealerweise melderechtlich dokumentierten) Lebensmittelpunkt haben und nicht lediglich Besucher waren. Erleiden Bewohner und Besucher in diesem Fall auf dem Weg zur Arbeit mit demselben Verkehrsmittel (außerhalb von Fahrgemeinschaften iS des § 8 Abs 2 Nr 2 Buchst b SGB VII) denselben Unfall und ziehen sie sich dabei Verletzungen zu, ist kein sachlicher Grund ersichtlich, den Besucher – anders als den Bewohner – von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auszuschließen. Da der Versicherungsschutz für den Bewohner anerkanntermaßen nicht davon abhängt, ob sein häuslicher Bereich eine (wie auch immer geartete) räumliche Entfernung zum Ort der Tätigkeit unterschreitet, kann für den Besucher aus Gleichbehandlungsgründen nichts anderes gelten. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass sich der Bewohner für seinen längeren Weg üblicherweise einem höheren Unfallrisiko aussetzt als der Besucher, der seine Wegstrecke nur ausnahmsweise, nämlich im Besuchsfall, erweitert.“
Im zweiten Fall setzte der Senat diese Rsp fort: Dem Versicherungsschutz stehe nicht entgegen, dass der Kl den Weg nicht von seiner Wohnung, sondern der Wohnung seines Freundes aus angetreten habe, in der er sich vor Beginn der Fahrt über zwei Stunden aufgehalten hatte.* Bei allen (Hin-)Wegen setzt § 8 Abs 2 Nr 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII den Ort der versicherten Tätigkeit als Zielpunkt fest, lässt aber zugleich den Startpunkt offen. Grundsätzlich könne deshalb ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte iSd § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch von einem anderen Ort als der Wohnung angetreten werden. Nach der Rsp des Senats kann eine versicherte Tätigkeit gem § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII deshalb auch das Zurücklegen eines Weges zwischen einem anderen Ort als der Wohnung, dem sogenannten dritten Ort, und der Arbeitsstätte sein, ohne dass es dabei darauf ankommt, aus welchen Gründen sich der Versicherte an jenem Ort aufhält und in welchem Verhältnis die Entfernung von dem dritten Ort zum Ort der Tätigkeit zur Wegstrecke des üblicherweise zurückgelegten Weges steht (siehe hierzu oben B 2 U 2/18 R). Dem Versicherungsschutz des Kl während des Zurücklegens des Weges von der Wohnung des Freundes als sogenannten dritten Ort zur Arbeitsstätte stand mithin nicht entgegen, dass diese Wegstrecke mehr als dreimal so lang wie der Weg von der Wohnung des Kl zu seiner Arbeitsstätte war. Auch ist nicht auf den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort abzustellen. Maßgebend ist ausschließlich, dass die Aufenthaltsdauer an dem dritten Ort die Zeitgrenze von zwei Stunden überstieg, was hier der Fall war.
Diese neue Rsp des BSG lässt sich daher vorderhand dahin zusammenfassen, dass der Weg zum Arbeitsplatz vom Familienwohnsitz, aber auch von jedem anderen Ausgangspunkt, geschützt ist, an dem sich die versicherte Person mindestens zwei Stunden aufgehalten hat und von dem sie mit der objektivierbaren inneren Handlungstendenz aufgebrochen ist, den Ort der Arbeitsleistung zu erreichen, um dort die versicherte Arbeitstätigkeit aufzunehmen.
Ob sich die Rsp des OGH an dieser Rechtsprechungsänderung des BSG orientieren wird, ist – vorsichtig formuliert – offen:
Der OGH hatte die Rsp des dt BSG, wonach der Schutz auch auf zwei Wegen bestehen könne, wenn die jeweilige Entfernung zum Arbeitsplatz nicht außer Verhältnis sei, nie übernommen, aber – wie schon das OLG Wien als seinerzeitiges Höchstgericht – den Versicherungsschutz auf dem Arbeitsweg vom zweiten Ort für den Fall anerkannt, dass die Benützung des gewöhnlichen Aufenthaltsortes nicht möglich oder nicht zumutbar war.* Er hatte noch keine Gelegenheit, seine mit OGH10 ObS 47/07wDRdA 2008, 404 vorsichtig aufgeweichte Rsp weiter zu entwickeln, wonach der Weg vom zweiten Ort (Wohnort der Lebensgefährtin) immerhin auch dann geschützt sein sollte, wenn er annähernd zu gleichen Teilen mit dem eigenen ständigen Aufenthaltsort genutzt wird.
Die an diesem strikten „Gleichteiligkeitskriterium“ geübte Kritik schlug vor, nicht eine eher lebensfremde, weil eher zufällig zustande kommende „annähernd gleichteilige Nutzung“ zur Bedingung zu machen, sondern an der regelmäßig wiederkehrenden Nutzung, gleichgültig, bei welchem der beiden in Betracht kommenden Wohnsitze sie überwiegt,* anzuknüpfen.
Daran ist mE festzuhalten: Es ist überhaupt nicht einzusehen, aus welchen Gründen zB der tägliche Weg an den Arbeitsplatz nicht geschützt sein sollte, wenn er von einem Sommerhaus, das während der Ferien oder am Wochenende zur Erholung als Wohnsitz genutzt wird, angetreten wird. Dies vor dem Hintergrund des schon von Tomandl ins Spiel gebrachten Arguments, dass die gesetzliche UV – innerhalb bestimmter, aber sehr weiter Grenzen* – grundsätzlich keine Entfernungsbegrenzung 272beim Wegschutz kennt, ferner der Überlegung, dass die Wahl des Verkehrsmittels freigestellt ist und die Weggefahr an sich auch auf allen Strecken dieselbe ist und der kürzeste Weg zum Arbeitsplatz auch dann geschützt ist, wenn er der gefährlichste sein sollte.
Ob man auch der Übernahme der referierten neuesten Rsp des BSG das Wort reden sollte, vermag ich für mich derzeit noch nicht zu beurteilen:
Der Weg von jeglichem Ort der Nächtigung (oder des längeren Aufenthaltes) zum Arbeitsplatz lässt sich mit Hilfe der objektiven und subjektiven Handlungstendenz gut abgrenzen. Wie aber sieht es mit dem Weg in die Gegenrichtung aus? Soll jeglicher Weg geschützt sein, wenn er nur vom Arbeitsplatz wegführt, ohne dass objektivierbar im Vorhinein feststeht und im Nachhinein überprüfbar ist, wohin der Weg gehen soll und zu welchem Zweck?* Ich könnte verstehen, wenn die Unfallversicherungsträger bei dem Gedanken einer derartigen (möglicherweise uferlosen) Ausweitung des Wegschutzes auch auf Unfälle auf Wegen, die zu einem Ort führen, der davor noch niemals aufgesucht worden ist, panisch werden. Aber vielleicht fällt dem 2. Senat des BSG ja auch dazu etwas Brauchbares ein.