102Keine Bindung des Gerichts an Leistungsbescheide des Sozialversicherungsträgers im Regressverfahren gem § 334 ASVG bei fehlender Einbindung des Schädigers
Keine Bindung des Gerichts an Leistungsbescheide des Sozialversicherungsträgers im Regressverfahren gem § 334 ASVG bei fehlender Einbindung des Schädigers
Im Regressverfahren nach § 334 ASVG besteht, wenn der Schädiger an diesem Verfahren nicht beteiligt ist, im Hinblick auf den Umfang des Aufwandersatzanspruchs des Sozialversicherungsträgers keine Bindung an den Bescheid über die Gewährung der Leistung.
Da der Bescheid den zu tragenden Aufwand für den Sozialversicherungsträger gegenüber dem Geschädigten bindend regelt, entspricht die dort festgelegte Höhe grundsätzlich den nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen iSd § 334 ASVG. Der Schädiger kann jedoch einwenden, dass dem Sozialversicherungsträger eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung bei Prüfung dieser Ansprüche zu Last zu legen ist, bei deren Einhaltung der Aufwand geringer gewesen wäre.
Der Bekl ist Eigentümer eines Bauernhofs, welcher auch Ferienwohnungen zur Vermietung beherbergt. Bei der Sanierung der Wohnungen bediente er sich durch den Maschinenring vermittelter Arbeiter, die einen vom Bekl bereitgestellten, aber nicht zur Beförderung von Personen geeigneten Lastenaufzug nutzten, um in die Obergeschoße zu gelangen. Am 8.5.2014 fiel die Aufzugplattform im Zuge dieses Gebrauchs plötzlich zu Boden, wodurch einer der Arbeiter schwerere Verletzungen erlitt. Ein auf Schadenersatz gerichtetes Verfahren des Betroffenen gegen den Bekl wurde mangels vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls abgewiesen.
Der Arbeiter war zum Zeitpunkt des Unfalls bei der Kl aufrecht unfallversichert, die mit Bescheid vom 12.4.2016 ihre Leistungspflicht aufgrund dieses Vorfalls feststellte.
Die Kl begehrte die Zahlung bereits fällig gewordener Beträge aus der Versehrtenrente sowie die Feststellung der Haftung des Bekl gegenüber der Kl für die von ihr in Zukunft zu erbringenden Leistungen aus dem Unfall des Arbeiters.
Der Bekl bestritt und brachte ua vor, dass die Versehrtenrente in dem von der Kl gewährten Ausmaß nicht zustehe und darüber hinaus auch keine Bindungswirkung eines verwaltungsbehördlichen Bescheids für Parteien des Zivilverfahrens, die an diesem Verwaltungsverfahren nicht beteiligt gewesen sind, bestehe.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Gem § 334 Abs 1 ASVG habe der DG dem Sozialversicherungsträger alle nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, sofern der Arbeitsunfall grob fahrlässig verursacht worden ist. Dies gelte auch für Unfälle, die Arbeitsunfällen nach § 176 Abs 1 Z 6 ASVG gleichgestellt sind. Das grobe Verschulden sei in diesem Fall zu bejahen; die Höhe des Anspruchs richte sich nach den Leistungsbescheiden, an die die Gerichte gebunden seien. Diese Bindung gelte aufgrund der Tatbestandswirkung des Bescheids auch für Personen, die nicht am Zustandekommen des Bescheids beteiligt waren. Der gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung des Bekl gab das Berufungsgericht nicht Folge. Der OGH bewertete die dagegen gerichtete außerordentliche Revision als zulässig und teilweise berechtigt.
„[…] Zu Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen sind, dass der Beklagte grob fahrlässig gehandelt hat, indem er die Nutzung des Lastenaufzugs für Personen zugelassen hat. […]
Damit besteht aber der Regressanspruch nach § 334 ASVG dem Grunde nach zu Recht. […]
4. Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung eine Bindung der Gerichte an rechtskräftige Bescheide der Verwaltungsbehörden, mit denen eine für den Zivilrechtsstreit maßgebliche Vorfrage entschieden wurde, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn diese Bescheide fehlerhaft (gesetzwidrig) sein sollten (RS0036880; RS0036981; RS0036864). Der Zivilrichter hat den Bescheid im Allgemeinen nicht auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen (RS0036975 [T4]).
Die für jede Bindung der Zivilgerichte an eine Entscheidung einer Verwaltungsbehörde vorausgesetzte Rechtskraft (vgl RS0036880) erfasst aber auch im Verwaltungsrecht grundsätzlich nur die Parteien des Verwaltungsverfahrens. Dritte können (abgesehen von einer Rechtskrafterstreckung) nur (mittelbar) durch die Gestaltungs- oder Tatbestandswirkung eines Bescheids gebunden sein (RS0036865 [T1], RS0036975 [T5], RS0121545). Bindungen an nachteilige Wirkungen eines Verfahrens, in das der nun davon Betroffene nicht eingebunden war und die er als unabänderlich hinnehmen müsste, verstoßen nach überwiegender Auffassung gegen Art 6 EMRK und können daher meist nicht bestehen. […]
5. Unstrittig war der Beklagte am Verwaltungsverfahren, in dem die Klägerin den Umfang der Leistung an den Geschädigten festlegte, nicht beteiligt. Eine Bindung kann sich daher nur aus einer Tatbestands- oder Gestaltungswirkung des Bescheides ergeben. […]234
§ 334 ASVG enthält […] nach seinem Wortlaut zur Höhe von Regressansprüchen keine Bindung an den Bescheid über die vom Sozialversicherungsträger an den Geschädigten zu erbringenden Leistungen. […]
Aber auch der Zweck des Gesetzes, der Ersatz der Leistungen des Sozialversicherungsträgers an den Geschädigten durch den Schädiger, bietet keine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass der Schädiger zu ersetzen hat, was der Sozialversicherungsträger nicht aufgrund des Gesetzes, sondern aufgrund eines gesetzwidrigen Bescheids darüber hinaus leistet (so schon Walter, FS Schmitz 461). […]
Weder der Gesetzeswortlaut noch der Gesetzeszweck bieten daher eine ausreichende Grundlage für die Annahme einer Tatbestandswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren für das Regressverfahren. […]
7. Eine Bindung lässt sich auch nicht aus einer Rechtsgestaltungswirkung des Bescheids im Leistungsverfahren ableiten. Anders als etwa in den prinzipiell ähnlichen Fällen der Feststellung der Behinderteneigenschaft handelt es sich nicht um eine Art ‚Statusentscheidung‘, die eine Reihe von Rechtswirkungen in verschiedene Richtungen entfaltet, ohne dass alle Betroffenen oder Berührten dem Verfahren beigezogen werden müssen oder auch nur können. Gegenstand des Leistungsverfahrens in der Unfallversicherung ist vielmehr, welche Ansprüche der Versicherte gegen den Sozialversicherungsträger hat. Eine Gestaltung der Rechtslage ‚gegenüber jedermann‘ ist damit nicht intendiert.
Eine Bindung des Gerichts im Regressprozess an den Leistungsbescheid des Sozialversicherungsträgers ist daher zu verneinen.
8. Das führt jedoch nicht dazu, dass die Existenz des Bescheids als solches unbeachtlich ist. […]
Mit Vorliegen eines rechtskräftigen Bescheids ist der Sozialversicherungsträger zur Leistungserbringung verpflichtet (vgl aber etwa auch § 99 ASVG). Damit umschreibt der Bescheid grundsätzlich den Aufwand, der dem Sozialversicherungsträger durch das schuldhaft, rechtswidrige Verhalten des Arbeitgebers tatsächlich verursacht wurde. Dem Regresspflichtigen muss jedoch die Möglichkeit offenstehen, geltend zu machen, dass dem Sozialversicherungsträger im Rahmen der Feststellung der Leistungspflicht gegenüber dem Geschädigten eine vorwerfbare Verletzung einer Obliegenheit zur Last zu legen ist, die relevanten Einfluss auf den Umfang der Leistungspflicht hatte. […]“
In der vorliegenden E hatte sich der OGH mit dem Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gegen den vorsätzlich oder grob fahrlässig handelnden DG gem § 334 Abs 1 ASVG zu beschäftigen. Im Vordergrund stand dabei aber nicht die Frage nach dem Verschulden, sondern jene nach der Bindungswirkung von Leistungsbescheiden der Sozialversicherungsträger (in diesem Fall die UV) im Verfahren vor dem Zivilgericht.
Grundsätzlich kommt den DG, deren DN durch Arbeitsunfall (und ihnen gleichgestellte Unfälle iSd § 176 ASVG) oder Berufskrankheit Personenschäden erlitten haben, das in § 333 ASVG normierte Haftungsprivileg zu Gute. Der DG wird so (bei nichtvorsätzlicher Herbeiführung des Arbeitsunfalls) dem geschädigten DN weder nach allgemeinem Schadenersatzrecht noch nach besonderen Haftungsvorschriften schadenersatzpflichtig. Der hier anzulegende DG-Begriff reicht zudem weiter als die in § 35 ASVG enthaltene Legaldefinition: Schließlich sind nach § 176 Abs Z 6 ASVG auch jene betrieblichen Tätigkeiten einem Arbeitsunfall gleichgestellt, die „ein sonst nach § 4 Versicherter ausübt, auch wenn dies nur vorübergehend geschieht“
. Das Haftungsprivileg kann deshalb auch zur Anwendung kommen, wenn der betroffene DN (wie im vorliegenden Fall) nur kurzzeitig, wie etwa bei Gefälligkeitstätigkeiten, in den Betrieb des DG eingegliedert worden ist (vgl zB OGH26.6.1980, 8 Ob 76/80). Anders als die in § 332 ASVG normierte Legalzession, die ein Übergehen des privatrechtlichen Ersatzanspruches des DN auf den Sozialversicherungsträger bewirkt und somit im Falle des Entfalls der Schadenersatzpflicht durch das DG-Haftungsprivileg nicht zum Tragen kommen kann, ist aber der in § 334 ASVG normierte Haftungsanspruch ein originärer und damit unabhängig vom Bestehen anderweitiger zivilrechtlicher Ansprüche des DN.
§ 334 Abs 1 ASVG normiert dabei eine Ersatzpflicht des DG gegenüber dem Sozialversicherungsträger, sofern dieser den Arbeitsunfall (bzw diesem gleichgestellte Unfälle/die Berufskrankheit) vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Die Höhe dieses Anspruches richtet sich aber nicht nach dem Umfang des Schadens, den der DN selbst erlitten hat, sondern nach dem Ausmaß der Leistungen des Sozialversicherungsträgers, die in Anwendung sozialversicherungsrechtlicher Bestimmungen angefallen sind. Da die entsprechende Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers letztlich durch dessen Leistungsbescheid konkretisiert wird, spricht dieser im Grunde bereits über die zivilrechtliche (Vor-)Frage nach der Höhe des Ersatzanspruches ab.
Dabei ergibt sich aber die Problematik, dass sich die Rechtskraft verwaltungsbehördlicher Bescheide weitgehend nur auf die im vorangehenden Verwaltungsverfahren auch involvierten Parteien erstreckt. Wie im vorliegenden Fall vom Bekl, der als DG nicht in das Leistungsverfahren der UV eingebunden war, vorgebracht, stünde nämlich die Annahme einer derartigen Bindung an nachteiligen Wirkungen mangels Einbindung des nicht involvierten Betroffenen in einem Spannungsverhältnis mit dem in Art 6 EMRK normierten Recht auf ein faires Verfahren. 235 Trotzdem wird in manchen Fällen eine mittelbare Bindung Dritter an derartige Bescheide angenommen. Das gilt etwa dann, wenn der betreffende Bescheid (Rechts-)Gestaltungswirkung oder Tatbestandswirkung entfaltet – dieser also entweder eine gegenüber jedermann wirkende Rechtslage schafft oder Rechtsfolgen an die bloße Existenz des Bescheids geknüpft werden.
Beides wurde vom OGH in der vorliegenden E in Bezug auf den Leistungsbescheid des Sozialversicherungsträgers verneint. Zum einen liege eine Rechtsgestaltungswirkung solcher Bescheide nicht vor, da Gegenstand des Leistungsverfahrens der UV lediglich der Anspruch des Versicherten gegenüber dem Sozialversicherungsträger sei und damit keine Gestaltung der Rechtslage „gegenüber jedermann“ gemeint sei.
Zum anderen ist nach den Ausführungen des Gerichts in Anbetracht des Wortlauts des Gesetzes und des Gesetzeszwecks zudem keine Tatbestandswirkung anzunehmen. Schließlich finde sich in § 334 ASVG – im Gegensatz zu dessen Vorgängerbestimmung in § 901 Reichsversicherungsordnung (RVO) – keine ausdrückliche Normierung einer Bindung der Gerichte an die Bescheide der UV. Außerdem sei nicht anzunehmen, dass der Ersatz der Sozialversicherungsleistungen durch den Schädiger als Zweck des § 334 ASVG auch den Ersatz dessen miteinschließe, was der Sozialversicherungsträger nicht aufgrund des Gesetzes, sondern über dieses Maß hinaus aufgrund eines gesetzwidrigen Bescheids leistet. Insb schließe der dem § 334 ASVG innewohnende Zweck des Ersatzes des tatsächlich getragenen Aufwands eine Prüfung der Gesetzeskonformität desselben nicht aus.
Darin weicht der OGH von der bisherigen stRsp ab, die von einer Bindung an die im Bescheid angeführte Höhe der Leistungen ausging (vgl insb OGH 17.5.1962, 22 Ob 128/6). Der Existenz des Bescheides spricht er aber dennoch Bedeutung zu, als dieser grundsätzlich den tatsächlichen Leistungsaufwand des Sozialversicherungsträgers beschreibt. Dem Schädiger steht aber nunmehr offen, einzuwenden, dass dem Sozialversicherungsträger eine vorwerfbare Obliegenheitsverletzung im Zuge der Prüfung der Ansprüche zur Last zu legen sei, die einen das gesetzlich vorgesehene Maß übersteigenden Aufwand des Sozialversicherungsträgers zur Folge gehabt habe.