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Für den Anspruch auf Waisenpension muss auch bei einem Blinden die Erwerbsunfähigkeit konkret festgestellt werden

PIAANDREAZHANG
OGH 19.1.2021, 10 ObS 131/20t

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine gesunde und erblindete Person jedenfalls zu einem Erwerb iSd § 252 Abs 2 Z 3 ASVG fähig ist. Auf äußere Umstände – wie etwa die Ausübung einer Berufstätigkeit – ist bei der ausschließlich medizinischen Beurteilung nicht Bedacht zu nehmen.

Sachverhalt

Der 1979 geborene Kl ist seit seiner frühesten Kindheit auf beiden Augen blind. In den vergangenen Jahren erkrankte er zusätzlich an der Hornhaut. Er schloss ein Integrationsgymnasium ab und absolvierte eine Fachhochschule für Gesundheits- und Sozialberufe sowie eine Ausbildung zum EDV-Trainer.

Ab März 2000 war er versicherungspflichtig erwerbstätig, zuerst als EDV-Trainer und später als Angestellter im Bürowesen. Alle bisherigen Beschäftigungen waren aufgrund einer Lohnförderung im Ausmaß von zumindest 50 % des Bruttolohns, die den Nachteil, der durch die geringere Arbeitsgeschwindigkeit des Kl entsteht, kompensiert, möglich. Sein Arbeitsplatz wurde durch Zurverfügungstellung der erforderlichen Hard- und Software, aller Peripheriegeräte und Softwareprogramme speziell adaptiert. Das Ausmaß der Arbeitsfähigkeit des Kl entsprach stets dem einer „gesunden und erblindeten Person“ und dies hat sich auch über die Jahre nicht geändert. Es ist keine Verschlechterung der Leistungsfähigkeit eingetreten.

Am 10.6.2018 starb die Mutter des Kl.

Verfahren und Entscheidung

Der Kl beantragte bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) am 3.7.2018 die Zuerkennung einer Waisenpension, welche diese mit Bescheid vom 27.1.2019 (Anmerkung der Bearbeiterin: In der E steht 2018, richtig ist aber wohl 2019) ablehnte, weil der Kl nicht erwerbsunfähig sei.

Der Kl erhob dagegen Klage und brachte vor, er sei aufgrund seiner hochgradigen Sehbehinderung nie arbeitsfähig gewesen, weshalb er die Kindeseigenschaft erfülle. Die PVA wandte ein, dass beim Kl ein Leistungskalkül für Blindenberufe am allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Der Kl habe auch in der Vergangenheit immer wieder einen Verdienst über der Erwerbslosigkeitsgrenze erzielt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und begründete dies damit, dass der Kl wie eine gesunde und erblindete Person am Arbeitsmarkt einsetzbar war und ist. Er sei daher bereits nach Abschluss seiner Ausbildung erwerbsfähig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge und hielt sich an die Argumentation des Erstgerichts. Die Existenz von Blindenberufen zeige, dass auch Blinde in der Lage seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommende Berufe auszuüben, dies ohne besonderes Entgegenkommen des DG.

Die außerordentliche Revision des Kl ist zulässig und iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt. Die Rechtssache wird zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…] 1.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist erwerbsunfähig im Sinne des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG, wer infolge Krankheit oder Gebrechens nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (RIS-Justiz RS0085536). Erwerbsunfähigkeit aufgrund geistiger oder körperlicher Gebrechen liegt vor, wenn jemand wegen des nicht nur vorübergehenden Zustands der körperlichen und geistigen Kräfte (und nicht etwa nur wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarkts oder wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit) nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Erwerb zu erzielen (RS0085536RS0085536 [T2]; RS0085556RS0085556).

1.2 Die Erwerbsunfähigkeit nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG muss bereits vor den beiden in § 252 Abs 2 Z 1 und Z 2 ASVG genannten Zeitpunkten (Vollendung des 18. Lebensjahres oder Ablauf des in diesen Bestimmungen genannten Zeitraums) eingetreten sein und über diese Zeitpunkte hinaus andauern. Die Absicht des Gesetzgebers liegt darin, Versorgungsansprüche eines Kindes zu erhalten, nicht aber Versorgungsansprüche für Personen neu zu schaffen, die erst später ihre Erwerbsfähigkeit verloren haben. War im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft nicht mehr gegeben, so kann sie nicht wieder aufleben (RS0113891).

2. Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach der hier maßgeblichen Gesetzesstelle kommt es also darauf an, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen kann. Ausschlaggebend für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte. Darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch – etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder mit Hilfe anderer Personen – weiterhin ein 217Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht, ist nicht Bedacht zu nehmen (10 ObS 206/92SSV-NF 6/102; RS0085570; 10 ObS 59/16ySSV-NF 30/44 mwH; zustimmend Panhölzl, DRdA 2017/19, 199[201 f]). […]

3.1 Die bisher getroffenen Feststellungen genügen nicht, um den Anspruch des Klägers rechtlich beurteilen zu können.

3.2 […] Ebenso wenig jedoch, wie davon ausgegangen werden kann, dass eine seit Geburt blinde Person auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt immer nur aufgrund besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers beschäftigt werden könnte, kann davon ausgegangen werden, dass eine ‚gesunde und erblindete Person‘ jedenfalls zu einem Erwerb im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG fähig ist. […]

3.3 […] Allerdings ist bei der ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten vorzunehmenden Beurteilung der Erwerbsfähigkeit im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG nicht auf äußere Umstände – wie etwa die Ausübung einer Berufstätigkeit trotz (weiter) bestehender Erwerbsunfähigkeit, vgl ausführlich 10 ObS 59/16y SZ 30/44 – Bedacht zu nehmen.

3.4 Es steht fest, dass dem Kläger die von ihm bisher ausgeübten Tätigkeiten weiterhin möglich sind, dies aber nur dann, wenn er über einen speziell für Blinde adaptierten Arbeitsplatz verfügt und wenn der Nachteil seiner verringerten Arbeitsgeschwindigkeit durch eine ‚Lohnförderung‘ von 50 % ausgeglichen wird.

Ist aber eine Erwerbstätigkeit nur um den Preis möglich, dass dadurch der Leidenszustand negativ beeinflusst wird, oder unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber dem Erwerbstätigen über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus entgegenkommt, so liegt dennoch Erwerbsunfähigkeit vor, wenn die Erwerbstätigkeit dem Versicherten unter Berücksichtigung seines Leidenszustands nicht zumutbar ist (10 ObS 206/92; 10 ObS 59/16y).

Feststellungen, ob dem Kläger die von ihm ausgeübten Berufstätigkeiten medizinisch auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dazu üblichen Bedingungen möglich und zumutbar gewesen wären, fehlen jedoch. Es erscheint zumindest zweifelhaft, lässt sich aber aus den bisher getroffenen Feststellungen ebenfalls noch nicht beurteilen, dass die Zurverfügungstellung eines für Blinde adaptierten Arbeitsplatzes verbunden mit der Erwirkung einer ‚Lohnförderung‘ von 50 %, also der Hälfte des vom Arbeitgeber eigentlich für die Arbeitsleistung geschuldeten Lohns, den Verhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht.

3.5 Um daher die Rechtsfrage der Erwerbsunfähigkeit im Sinn des § 253 Abs 2 Z 3 ASVG [richtig wäre: § 252 Abs 2 Z 3 ASVG] beurteilen zu können, werden im fortzusetzenden Verfahren Feststellungen über das medizinische Leistungskalkül des Klägers zum Zeitpunkt seines 18. Geburtstags – bzw allenfalls, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen, zu den in § 252 Abs 2 Z 1 und 2 ASVG genannten Zeitpunkten – und zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter zu treffen sein, aus denen (ausschließlich) zu beurteilen sein wird, ob der Kläger in der Lage war und ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst (§ 122 Abs 4 ASVG, RS0085556 [T2]) zu erzielen.

4. Das Verfahren erweist sich daher als ergänzungsbedürftig. Es ist daher der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.“

Erläuterung

Anspruch auf Waisenpension haben gem § 260 ASVG nach dem Tode des (der) Versicherten die Kinder iSd § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG. Nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres weiter, wenn das Kind seit Vollendung des 18. Lebensjahres infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist.

Die Rechtsfrage der Erwerbsunfähigkeit wird nach stRsp des OGH vor allem medizinisch beurteilt. Es kommt dabei nicht auf äußere Umstände, wie etwa eine ausgeübte Erwerbstätigkeit, an. Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn ein Versicherter aus medizinischen Gründen nicht in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. Dies gilt auch, wenn eine Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit des Versicherten oder nur mit besonderem Entgegenkommen des DG verrichtet werden kann.

Blinde Versicherte sind nach stRsp des OGH nicht automatisch auf ein besonderes Entgegenkommen des DG angewiesen, da es Berufe gibt, die ihnen auch mit dieser gesundheitlichen Einschränkung zumutbar sind. Es gibt sogenannte „Blindenberufe“, wie etwa Telefonist oder Heilmasseur, die typischerweise noch ausgeübt werden können.

Dies alleine reicht aber nicht aus, um eine Arbeitsfähigkeit des Kl im konkreten Fall festzustellen. Im vorliegenden Fall war der Kl bisher immer nur mit einer Lohnförderung von 50 % beschäftigt und verfügte durchwegs über einen speziell adaptierten Arbeitsplatz. Der OGH sieht es als zumindest fragwürdig an, dass dies den Verhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht. Es muss daher vor der Entscheidung der Rechtsfrage der Erwerbsunfähigkeit das Leistungskalkül des Kl konkret festgestellt werden, um beurteilen zu können, ob er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst erzielen konnte und kann.218