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Kein Anspruch auf Invaliditätspension ohne Erwerbstätigkeit

MONIKAWEISSENSTEINER
§§ 18a, 227a, 236, 255, 273 ASVG

Die Kl hat in Österreich insgesamt 203 Versicherungsmonate erworben, davon 23 Monate Ersatzzeiten für Kindererziehung, 24 weitere Monate Kindererziehung, die sich mit dem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld decken und 18 Monate Beitragszeiten der Kindererziehung (von 1/2005 bis 6/2006) sowie 138 Monate an Beitragszeiten der Selbstversicherung gem § 18a ASVG für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes. Sie leidet seit 1999 an multipler Sklerose und ist nicht mehr arbeitsfähig. Die Selbstversicherung gem § 18a ASVG besteht für die 2002 geborene Tochter, die seit der Geburt behindert ist und Pflegegeld der Stufe 6 bezieht.

Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob allein Zeiten der Kindererziehung und der Selbstversicherung nach § 18a ASVG einen Anspruch der in Österreich nie erwerbstätigen Kl auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension begründen können.

Die Bekl lehnte mit Bescheid vom 11.7.2018 den Antrag auf Berufsunfähigkeitspension ab. Die Kl brachte in ihrer Klage vor, dass sie wegen des erhöhten Betreuungsaufwands für ihre Tochter nicht berufstätig sein konnte. Es könne keinen Unterschied machen, dass sie diese qualifizierte Pflegetätigkeit nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses ausgeübt habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der mit der Berufung eingebrachte Antrag der Kl an den VfGH, die Wortfolge „auf dem Arbeitsmarkt“ in § 255 Abs 3 und § 273 Abs 2 ASVG als verfassungswidrig aufzuheben, wurde mit Beschluss vom 26.11.2020, G 256/2019, zurückgewiesen. Das Berufungsgericht gab im dann fortgesetzten Verfahren der Berufung nicht Folge.

Die Revision der Kl ist nach Ansicht des OGH zwar zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

Nach § 254 Abs 1 Z 3 ASVG setzt (auch) der Anspruch auf Invaliditätspension die Erfüllung der Wartezeit (§ 236 ASVG) voraus. Es muss eine bestimmte Anzahl an Versicherungsmonaten vorliegen, damit die sekundäre Anspruchsvoraussetzung erfüllt ist. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setzt nach stRsp voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand der versicherten Person in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat („Herabsinken“ der Arbeitsfähigkeit). Für die Beurteilung des Vergleichszeitpunkts stellt die Rsp nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung, sondern auf beide Elemente – Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und den damit verbundenen Eintritt der Pflichtversicherung – ab. Nur im Anwendungsbereich des § 255 Abs 7 ASVG („originäre“ Invalidität) muss keine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes eintreten. Aus dem Wortlaut des § 255 Abs 1 ASVG folgert der OGH, dass Personen in einem erlernten (angelernten) Beruf tätig gewesen sein müssen. Auch § 255 Abs 4 ASVG fordert das Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Monaten einer „ausgeübten“ Tätigkeit. Auch gemäß der sogenannten Härtefallregelung in § 255 Abs 3a ASVG muss eine bestimmte Anzahl der Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit vorliegen.

§ 255 Abs 3 und § 273 Abs 2 ASVG fordern zwar – anders als § 255 Abs 2, 3a oder § 255 Abs 7 ASVG – weder den Erwerb einer bestimmten Mindestanzahl von Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit noch die Ausübung „einer Tätigkeit“ in einer bestimmten Anzahl von Kalendermonaten (§ 255 Abs 4 ASVG). § 255 ASVG regelt (iVm § 273 ASVG) jedoch in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Verminderung der Arbeitsfähigkeit in Form von ausbildungs- und altersabhängigen Konstellationen. Dabei setzt der Gesetzgeber – wie die oben zitierten Formulierungen zum Ausdruck bringen – das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit auch dann als selbstverständlich voraus, wenn er keine bestimmte Art oder Dauer einer ­Beschäftigung verlangt. Eine Invaliditätspension ohne Eintritt in das Erwerbsleben zu gewähren, ist insofern systemfremd, als ein Vergleich der Arbeitsfähigkeit zwischen Aufnahme und krankheitsbedingter Aufgabe einer Beschäftigung, also die Beurteilung des Herabsinkens der Arbeitsfähigkeit, auf reinen Hypothesen beruhen würde.

Nachfolgend hält der OGH zum Thema Kindererziehungszeiten fest, dass der Gesetzgeber bei deren Einführung mit dem SRÄG 1993 nach den Gesetzesmaterialien zur Sicherung des Lebensstandards im Alter bestehende Versicherungslücken schließen wollte. Die Selbstversicherung nach § 18a ASVG wurde mit der 44. ASVG-Novelle geschaffen, wobei der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass Personen, die sich der Pflege eines behinderten Kindes widmen, nicht erwerbstätig sein könnten. Mit dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) wurde im Jahr 2015 § 18a ASVG dahingehend novelliert, dass diese auch neben einer Erwerbstätigkeit möglich ist. Die Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes 472nach § 18a ASVG (sowie der Pflege naher Angehörigen nach § 18b ASVG) bezweckt vorrangig, es den Pflegepersonen zu ermöglichen, die Zeit der Pflege als Zeit der PV für die Altersversorgung zu erwerben. Diesem Zweck entsprechend gelten für die Erfüllung der für die Alterspension erforderlichen Mindestversicherungszeit auch Zeiten einer Selbstversicherung nach den §§ 18a und 18b ASVG als Versicherungsmonate, die aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben wurden.

Bei Zeiten einer Selbstversicherung handelt es sich um Zeiten einer freiwilligen Versicherung (§ 232 ASVG), die nach stRsp keine Zeiten einer qualifizierten Berufsausübung sind. Sie sind für die Zeiten der sogenannten „ewigen Anwartschaft“ unbeschränkt zu zählen und in einem weiten Ausmaß bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres des Kindes möglich. Vorrangiges Ziel des Gesetzgebers war es, auch Langzeitpflegepersonen davor zu schützen, dass sie nie oder in jedenfalls unzureichendem Ausmaß Zeiten der PV für die Altersversorgung erwerben können. Im Gegensatz zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit (ausgenommen im Anwendungsbereich des § 255 Abs 7 ASVG) hängt die reguläre Alterspension nicht von einem Herabsinken der Arbeitsfähigkeit ab. Hätte der Gesetzgeber mit der Einführung der Selbstversicherung nach § 18a ASVG das System der Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitspension ändern wollen, indem auch nie erwerbstätig gewesene Personen ein Anspruch auf solche Pensionsleistungen zustehen solle, hätte er dies ausdrücklich (insb) in den §§ 255, 273 ASVG festgelegt.

Zusammenfassend kommt der OGH daher zum Ergebnis, dass Zeiten der Kindererziehung sowie Zeiten der Selbstversicherung für die Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG keinen Anspruch auf eine Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension begründen, wenn die versicherte Person nie ins Erwerbsleben eingetreten ist.