227Ermessensentscheidung der Sozialversicherungsträger vom Arbeits- und Sozialgericht überprüfbar
Ermessensentscheidung der Sozialversicherungsträger vom Arbeits- und Sozialgericht überprüfbar
Ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren ausübbares Ermessen kann im Rahmen der sukzessiven Kompetenz vom Arbeits- und Sozialgericht dahingehend überprüft werden, ob das Ermessen iSd Gesetzes ausgeübt wurde, wenn die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung abhängt.
Die Aufforderungen zur (Nach-)Untersuchung bei Berufsunfähigkeits- und Pflegegeldbezug muss verhältnismäßig sein (geeignet, erforderlich, adäquat).
Der 1968 geborene Kl bezog ab 1.1.2017 eine Berufsunfähigkeitspension und seit 1.4.2018 Pflegegeld der Stufe 3 von der bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA).
Eine am 7.1.2019 durchgeführte Nachuntersuchung im Kompetenzzentrum der PVA durch einen Facharzt der Psychiatrie ergab laut chefärztlicher Stellungnahme, dass eine Besserung des Gesundheitszustandes ausgeschlossen sei und Berufsunfähigkeit auf Dauer bestehe.
Am 25.2.2019 unterzog sich der Kl einer im Kompetenzzentrum Begutachtung einer weiteren Nachuntersuchung durch eine Fachärztin der Psychiatrie und Neurologie.
Mit Schreiben vom 29.3.2019 wurde der Kl zu einer dritten Untersuchung am 20.5.2019 ins Kompetenzzentrum Begutachtung vorgeladen, mit der Begründung, der Kl habe den Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher nicht Folge geleistet. Dieses Schreiben wurde von der Bekl am 9.4.2019 korrigiert. Der Kl wurde „zwecks Erstellung eines medizinischen Gutachtens“ neuerlich eingeladen. Darüber hinaus wurde der Kl in dem Schreiben darauf hingewiesen, „dass (gemäß § 99 ASVG und § 29 BPGG) Ihre Leistung ganz oder teilweise aberkannt werden kann, wenn Sie sich einer Nachuntersuchung entziehen“.
Der Kl war am 20.5.2019 gesundheitlich in der Lage, mit einem (von der Bekl angebotenen) Krankentransport im Kompetenzzentrum zu erscheinen. Dies konnte der Kl auch erkennen. Allerdings war ihm nicht einsehbar, warum innerhalb von fünf Monaten eine dritte Vorladung zur Nachuntersuchung zugestellt wurde, weshalb er den Termin nicht wahrnehmen wollte.
Mit Bescheid vom 5.7.2019 entzog die Bekl gestützt auf §§ 9, 26 BPGG dem Kl mit Ablauf August 2019 das Pflegegeld und mit Bescheid vom 5.7.2019 gestützt auf §§ 99, 271 und 366 ASVG mit Ablauf des Monats Juli 2019 die Berufsunfähigkeitspension.
Die Kl begehrte die Weitergewährung des Pflegegeldes zumindest in Höhe der Stufe 3 über den 473Ablauf des Monats August 2019 hinaus und die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension über den Ablauf des Monats Juli 2019 hinaus. Als Begründung führte er aus, er habe die Ladung für den 20.5.2019 aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen können. Die Bekl wandte ein, der Kl habe ohne triftigen Grund die für die medizinische Beurteilung des Weiterbezugs von Pflegegeld und Berufsunfähigkeitspension erforderliche Nachuntersuchung am 20.5.2019 nicht wahrgenommen. Am 25.2.2019 sei nur eine Teilbegutachtung durchgeführt worden. Die Begutachtung für den 25.2.2019 sei für Begutachtungen in drei Fachgebieten (Psychiatrie und Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie) vorgesehen gewesen.
Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab. Es begründete die Entscheidung damit, dass es nicht dem Gericht obliege, zu beurteilen, ob die Anordnung einer neuerlichen Nachuntersuchung für den 20.5.2019 zulässig oder gar rechtswidrig gewesen sei. Einen Hinweis auf Willkür oder Schikane habe das Verfahren nicht ergeben.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge und billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach die Ermessensentscheidung der Bekl, die sich im zulässigen Ermessensrahmen bewege, im gerichtlichen Verfahren nicht überprüft werden dürfe.
Der OGH hielt die außerordentliche Revision des Kl für zulässig und iSd Aufhebungsantrages des Kl auch für berechtigt. Er gab der Revision Folge, die Sozialrechtssache wurde zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Es fehlten ausreichende Feststellungen, um beurteilen zu können, ob die für den 20.5.2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung verhältnismäßig („geeignet, erforderlich und adäquat“
) war.
Sollte sich ergeben, dass die für den 20.5.2019 angeordnete Nachuntersuchung objektiv geeignet, erforderlich und adäquat war, so ist dem Kl nach Ansicht des OGH entgegenzuhalten, dass er die Nachuntersuchung nach den den OGH bindenden Feststellungen nicht wahrnehmen wollte, obwohl er dazu körperlich in der Lage gewesen wäre.
1.1 […] Eine Entziehung („Versagung“) gemäß § 99 Abs 2 ASVG kommt […] in Betracht, wenn der Versicherungsträger den Leistungsberechtigten nachweislich zur Nachuntersuchung lädt und der Leistungsberechtigte die Ladung trotz ausdrücklichen Hinweises auf die sonstige Entziehung nicht befolgt (RS0083949). […] Sanktioniert wird nur eine schuldhafte (zumindest leicht fahrlässige) Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit (10 ObS 50/17a SSV-NF 31/30 mwH).
1.2. Vergleichbar ordnet § 26 Abs 1 BPGG unter der Überschrift „Mitwirkungspflicht“ an, dass die Leistung des Pflegegeldes abgelehnt, gemindert oder entzogen werden kann, wenn und solange der Anspruchsberechtigte oder Anspruchswerber ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer ärztlichen Untersuchung nicht entspricht (Z 1) oder eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche ärztliche Untersuchung verweigert (Z 2). […]
§ 26 BPGG hat § 366 ASVG zum Vorbild, der zwar gemäß § 24 BPGG auch im Verfahren in Pflegegeldsachen anwendbar ist, aber – mit Ausnahme seines Abs 3 – von § 26 BPGG verdrängt wird. Insbesondere ermöglicht § 26 BPGG in einem Fall der Entziehung eines bereits gewährten Pflegegeldes eine differenziertere Vorgangsweise, weil neben einer Entziehung auch eine Minderung des Pflegegeldes nach dieser Bestimmung möglich ist (Pfeil, BPGG 234 ff; Fink, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes, SozSi 1993, 352; Liebhart, Mitwirkungspflichten beim Pflegegeld, ÖZPR 2013/94, 138). […]
1.3. § 366 ASVG ist eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen (§§ 361 ff ASVG). […]
Wird einer Anordnung des Versicherungsträgers im Sinne des § 366 Abs 1 ASVG nicht entsprochen, so kann er gemäß § 366 Abs 2 ASVG der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen. Dies darf jedoch nur geschehen, wenn die Anordnung unter Androhung der Säumnisfolgen und mit Setzung einer angemessenen Frist vorgenommen wird. Die Anordnung ist aufzuheben, wenn die aufgeforderte Person glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, der Anordnung fristgerecht nachzukommen.
§ 366 ASVG legt eine Nebenpflicht des Anspruchswerbers oder -berechtigten im Sinn einer Duldungspflicht fest, deren Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen werden kann, deren Verletzung jedoch Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann (10 ObS 406/89 SSV-NF 4/99 = RS0085511).
2.1. Unstrittig sind die Bescheide der Beklagten, mit denen sie die dem Kläger bisher gewährten Berufsunfähigkeitspension und das ihm gewährte Pflegegeld entzogen (versagt) hat, im Rahmen der sukzessiven Kompetenz bei den Arbeits- und Sozialgerichten anfechtbar (§ 65 Abs 1 Z 1 ASGG). […] Die Anordnung einer Untersuchung (oder Beobachtung) ist – anders als die Anordnung von Anstaltspflege oder Wiederaufnahme einer Heilbehandlung nach § 367 Abs 1 Z 1 ASVG – kein Bescheid, sondern eine (nicht mit einem abgesonderten Rechtsmittel anfechtbare) Verfahrensanordnung (Kneihs in SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 7).
Voraussetzung für ein Vorgehen des Versicherungsträgers gemäß § 99 Abs 2 ASVG, § 26 Abs 1 474Z 1 und 2 BPGG ist jeweils das Sich-Entziehen bzw das Nichterscheinen oder Verweigern einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung (im Fall des § 99 Abs 2 ASVG auch: Beobachtung) durch den Anspruchsberechtigten. […] Die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach § 366 ASVG bzw § 26 BPGG liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers.
2.2. Bereits vor Inkrafttreten des ASGG vertrat das Oberlandesgericht Wien die Ansicht, dass die Entziehung gemäß § 99 Abs 2 ASGG im freien Ermessen des Versicherungsträgers liege, dessen Entscheidung jedoch im schiedsgerichtlichen Verfahren anfechtbar sei. […]
2.3. Im Rahmen der mit dem ASGG geschaffenen sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte sind Ermessensentscheidungen der Sozialversicherungsträger zumindest im Rahmen der Pflichtleistungen überprüfbar (10 ObS 90/91 SSV-NF 5/42; RS0084427). Das gilt auch für Pflichtaufgaben ohne individuellen Rechtsanspruch (RS0085543 [T3]; 10 ObS 258/02t SSV-NF 17/17; 10 ObS 138/10g SSV-NF 24/81 zu § 196 ASVG).
2.4. […] Wird eine Pflichtleistung ganz oder teilweise entzogen (im Fall des Pflegegeldes auch: gemindert) und ist Grundlage dafür die Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG), so betrifft dies im Kern ebenfalls die (Nicht-)Gewährung dieser Pflichtleistung. Bereits daraus folgt, dass die Ausübung des Ermessens des Sozialversicherungsträgers bei Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung dann, wenn für den Fall ihrer Nichtbefolgung die Entziehung einer Pflichtleistung (oder des Pflegegeldes) nach den genannten Bestimmungen angedroht wird, (auch) diese Entscheidung durch die Arbeits- und Sozialgerichte überprüfbar sein muss, weil die Entscheidungen über die Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung und der Entziehung in diesen Fällen untrennbar miteinander verbunden sind.
[…]
3.3. Hat ein Staat ein System der sozialen Sicherheit geschaffen, so ist er zwar nach der Rechtsprechung des EGMR berechtigt, die Bedingungen festzusetzen, die eine Person erfüllen muss, um in den Genuss von Leistungen dieses Systems zu gelangen (EGMR Bsw 15906/08, Schuitemaker/Niederlande, zum Arbeitslosenversicherungsrecht). Dazu zählt auch die Mitwirkung an medizinischen Kontrollen bzw deren Duldung. Allerdings sind – den Leistungsanspruch hindernde – medizinische Eingriffe jeglicher Art nur unter den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Voraussetzungen zulässig, sofern sie nicht mit Zustimmung der betroffenen Person erfolgen. Ohne Einwilligung muss der Eingriff gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gesetzlich vorgesehen und „in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ notwendig sein, also einem dieser Ziele dienen […].
3.4. Der Oberste Gerichtshof geht davon aus, dass die Feststellung des (weiteren) Vorliegens von Berufsunfähigkeit bzw Pflegebedürftigkeit im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für die Gewährung von Geldleistungen aus der Pensionsversicherung und nach dem BPGG ein unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zulässiges Ziel ist, welches mit der im Gesetz normierten (aber nicht erzwingbaren) Obliegenheit des Leistungsbeziehers, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, verfolgt werden darf (vgl zu § 8 Abs 2 AlVG VwGH 2003/08/0271; 2013/08/0184). […]
Wie dargestellt legen sowohl § 366 ASVG als auch § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG Nebenpflichten im Sinn von Mitwirkungs- und Duldungsobliegenheiten fest. Diese Pflichten treffen nicht nur Anspruchswerber, sondern – ausdrücklich – auch bereits anspruchsberechtigte Personen. Auch wenn weder der Wortlaut des § 366 ASVG noch jener des § 26 BPGG eine zwangsweise Durchsetzung der Obliegenheit zur Untersuchung vorsieht, kann die Verletzung dieser Obliegenheit – wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt – erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen. Daran ändert der Umstand, dass die Versagung der Leistung im Sinne des § 99 Abs 2 ASVG nur so lange zulässig ist, wie der Leistungsberechtigte in seinem Fehlverhalten verharrt (RS0083960) nichts. Wie erwähnt sind diese Bestimmungen im Licht des Art 8 EMRK zu interpretieren (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 168 f).
3.5. Der vom Revisionswerber ins Treffen geführte Art 3 GRC sichert das Recht des Einzelnen auf körperliche und geistige Unversehrtheit sogar ausdrücklich. Einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob in einem Fall wie dem vorliegenden der Anwendungsbereich der GRC eröffnet ist (Art 52 GRC), bedarf es jedoch im Hinblick auf den durch Art 8 EMRK bereits verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechtsschutz im vorliegenden Fall nicht. […]
4.1. Nach bisher ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist im Fall einer Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Versicherten die Möglichkeit der Ratengewährung (§ 107 Abs 3 Z 2 ASVG; § 76 Abs 3 Z 2 GSVG) durch § 89 Abs 4 ASGG ausdrücklich auch den Arbeits- und Sozialgerichten eingeräumt. Der Oberste Gerichtshof stand jedoch bisher auf dem Standpunkt, dass es der Gesetzgeber des ASGG unterlassen hat, den Gerichten auch die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht (§ 107 Abs 3 Z 1 ASVG; § 76 Abs 3 Z 1 GSVG) zu übertragen (RS0085706). Der Verfassungsgerichtshof475 hat mit Erkenntnis vom 11.12. 2020, G 264/2019 (JAS 2021, 195 [M. K. Greifeneder]) die entsprechende Formulierung des § 89 Abs 4 ASGG als verfassungswidrig aufgehoben, weil die Bestimmung dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht (die Aufhebung tritt mit 31.12. 2021 in Kraft).
4.2. Der Verfassungsgerichtshof hält fest, dass das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sind (Rz 38). […] Zu den Leistungssachen im Sinne des § 354 Z 2 ASVG zähle die „Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung“. […]
4.4. Auch daraus ist der allgemeine Schluss zu ziehen, dass ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren ausübbares (und ausgeübtes) Ermessen im Rahmen der sukzessiven Kompetenz vom Arbeits- und Sozialgericht darauf überprüft werden kann, ob das Ermessen im Sinne des Gesetzes ausgeübt wurde.
4.5. Zwischenergebnis: Hängt die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung ab (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG) und bekämpft der Anspruchsberechtigte die Entziehungsentscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht, so ist die (Vor-)Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte unterworfen.
Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren auszuübendes Ermessen (konkret: die Einladung zu einer weiteren Untersuchung) – über den Rahmen der Pflichtleistungen hinaus – vom Arbeits- und Sozialgericht dahingehend überprüft werden kann, ob das Ermessen iSd Gesetzes ausgeübt wurde. Insb stellte sich die Frage in Bezug auf die Aufforderungen zur (Nach-)Untersuchung bei Berufsunfähigkeits- und Pflegegeldbezug. Hier stellte sich die Frage, ob diese verhältnismäßig waren (geeignet, erforderlich, adäquat) oder vom Kl zumindest leicht fahrlässig und damit vorwerfbar nicht wahrgenommen wurden.
Eine leistungsschädliche Verletzung der Mitwirkungspflicht ist dann gegeben, wenn diese auf einem schuldhaften, also zumindest leicht fahrlässigen Verhalten des Versicherten beruht (Auer-Mayer, Mitverschulden 402 FN 1835 mzwH). Dies ist immer nach dem Einzelfall zu beurteilen. Dabei sind objektive (auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten, die Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- oder Folgebehandlungen und die damit verbundenen Schmerzen bzw Beeinträchtigungen) und subjektive (körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse) Zumutbarkeitskriterien einzuhalten, wobei die Beurteilung immer individuell für den oder die Betroffene/n zu erfolgen hat. Die schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht hat der bekl Pensionsversicherungsträger zu behaupten und zu beweisen (RS0084370 [T4]).
Während die Bescheide der Bekl, mit denen die dem Kl bisher gewährte Berufsunfähigkeitspension und das Pflegegeld entzogen (versagt) hat, unstrittig im Rahmen der sukzessiven Kompetenz bei den Arbeits- und Sozialgerichten anfechtbar sind, ist die Anordnung einer Untersuchung kein Bescheid, sondern eine (nicht mit einem abgesonderten Rechtsmittel anfechtbare) Verfahrensanordnung (Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 7).
§ 366 ASVG normiert als verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen eine Nebenpflicht des/der Anspruchsberechtigten, deren Erfüllung zwar nicht unmittelbar erzwungen werden kann, aber bei Verletzung massive Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann. Der Sozialversicherungsträger stützt sich dabei auf § 99 Abs 2 ASVG, § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG, wobei jeweils das Nichterscheinen oder Verweigern einer angeordneten ärztlichen Untersuchung durch den Anspruchsberechtigten Voraussetzung für den Entzug der Leistung ist. Die Anordnung einer solchen ärztlichen Untersuchung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialversicherungsträgers.
Im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte sind Ermessensentscheidungen der Sozialversicherungsträger im Rahmen der Pflichtleistungen überprüfbar, ebenso Pflichtaufgaben ohne individuellen Rechtsanspruch. Wird nun eine Pflichtleistung aufgrund der Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG) ganz oder teilweise entzogen bzw gemindert, so betrifft dies ebenfalls die (Nicht-)Gewährung dieser Pflichtleistung. Bereits daraus folgt laut OGH, dass auch diese Entscheidung durch die Arbeits- und Sozialgerichte überprüfbar sein muss, weil die Entscheidungen über die Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung und der Entziehung in diesen Fällen untrennbar miteinander verbunden sind.
Der OGH prüfte die fragliche Aufforderung zur Nachuntersuchung, die beim Kl zum Verlust der Leistungsansprüche geführt hatte, auch unter Zu476grundelegung des Art 8 Abs 2 EMRK, da die Obliegenheit zur Duldung einer vom Sozialversicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Versicherten einerseits und dem Recht des Einzelnen auf körperliche Integrität andererseits stehe. Der Staat kann innerhalb des Systems der sozialen Sicherheit nach der Rsp des EGMR die Bedingungen festsetzen, die AnspruchswerberInnen erfüllen müssen. Darunter ist auch die Mitwirkung an medizinischen Kontrollen zu subsumieren, wobei medizinische Eingriffe nur unter den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Voraussetzungen zulässig sind, sofern sie nicht mit Einwilligung der betroffenen Person erfolgen. Der OGH geht davon aus, dass die Feststellung des weiteren Vorliegens der Berufsunfähigkeit bzw Pflegebedürftigkeit ein unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zulässiges Ziel ist, welches mit der gesetzlich normierten Obliegenheit zur ärztlichen Untersuchung verfolgt werden darf. Die gesetzlichen Grundlagen der zu beurteilenden Nachuntersuchung finden sich in § 366 Abs 1 und 2 ASVG und § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG und sind im Lichte des Art 8 EMRK zu interpretieren. Der OGH hält fest, dass eine vom Sozialversicherungsträger nach diesen Bestimmungen angeordnete ärztliche Untersuchung iSd Art 8 EMRK verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein muss (VwGH 20.10.2004, 2003/08/0271).
Der OGH führt außerdem das Erk des VfGH vom 11.12.2020, G 264/2019 an, wonach das Rechtsstaatsprinzip verlange, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sein müssen.
Auch daraus zieht der OGH den Schluss, dass ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren ausübbares (und ausgeübtes) Ermessen im Rahmen der sukzessiven Kompetenz vom Arbeits- und Sozialgericht darauf überprüft werden kann, ob das Ermessen iSd Gesetzes ausgeübt wurde.