234Pflegegeldstufe 7 bei „zielgerichteter“ Bewegung der Extremitäten ausgeschlossen
Pflegegeldstufe 7 bei „zielgerichteter“ Bewegung der Extremitäten ausgeschlossen
Für den Ausschluss der Pflegegeldstufe7 müssen körperlich vorhandene Fähigkeiten – unter Bedachtnahme auf den kognitiven Zustand der zu pflegenden Person – eine zielgerichtete Bewegung mit funktioneller Umsetzung ermöglichen, um den beabsichtigten Zweck (hier Dekubitus vermeidende Lageveränderung im Bett) einer Pflegeerleichterung zu erzielen. Die mögliche Kontaktaufnahme durch 483„Schreien“ hindert den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 nicht, weil darin keine Pflegeerleichterung durch den Einsatz einer Extremität liegt.
Die 1956 geborene Kl benötigt für sämtliche Verrichtungen des täglichen Lebens Betreuung und Hilfe, die zeitlich nicht koordinierbar ist. Im Rahmen Ihrer Restbewegungsfähigkeit kann sich die Kl selbständig im Bett umdrehen und dazu die Hände verwenden, außerdem ist sie manuell in der Lage, eine Rufglocke zu bedienen. Geistig ist sie aber nicht in der Lage, zu verstehen, aus welchem Grund und wann sie eine Rufeinrichtung benutzen soll.
Die Kl bezog Pflegegeld der Stufe 5 von der bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA). Mit Bescheid vom 28.1.2019 erkannt die PVA im Zuge einer Neubemessung ab 1.11.2018 ein Pflegegeld der Stufe 6 zu.
Die Kl begehrte die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 7. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es begründete die Entscheidung damit, dass die Kl nicht in der Lage sei, Bewegungen gezielt zu einem beabsichtigten Zweck zu steuern.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und änderte das Urteil dahin ab, dass Pflegegeld zu Stufe 6 zuerkannt wurde. Als Begründung wurde argumentiert, dass eine Kontaktaufnahme mit der in der Wohnung anwesenden Pflegeperson durch Schreien möglich sei, weil sich die Reduktion der geistigen Fähigkeiten nur auf das Verwenden der Rufglocke und anderer Notfalleinrichtungen beziehe.
Der OGH hielt die außerordentliche Revision der Kl zur Präzisierung der – einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ausschließenden – Fähigkeit zur funktionellen Umsetzung zielgerichteter Bewegungen für zulässig und iSd Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen für berechtigt. Er gab der Revision Folge.
[…]
9. Nach § 4 Abs 2 BPGG sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 7 gegeben, wenn keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind oder ein gleichzuachtender Zustand vorliegt.
10. Anspruchsvoraussetzung ist ein Zustand, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 5/07 SSV-NF 21/16). Entscheidend ist die Unfähigkeit zu zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung (10 ObS 82/01h SSV-NF 15/50; vgl RIS-Justiz RS0106363 [T10], ebenso bereits [T4]).
[…]
12. Ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 wird nicht erst dadurch ausgeschlossen, dass die zielgerichteten Bewegungen noch zur Vornahme der im Pflegegeldrecht maßgebenden Betreuungs- und Hilfsverrichtungen eingesetzt werden können (RS0106363 [T15]). Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand – wenn auch geringfügig – zu mindern bzw die Lebensführung des Betroffenen zu erleichtern (10 ObS 108/11x; RS0106363 [T22, T24]; vgl im Einzelnen die Darstellung bei Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.419 ff). Bereits ein einziger dem Pflegebedürftigen noch möglicher Bewegungsablauf dieser Qualität (zielgerichtete Bewegungen einer Extremität mit funktioneller Umsetzung) schließt daher die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 aus (10 ObS 108/11x; 10 ObS 157/03s; RS0106363 [T12]). […]
13. Es reicht aber nicht aus, wenn dem Betroffenen nur reflexhafte Bewegungen möglich sind, die nicht zielgerichtet sind und nur zufällig ihr Ziel erreichen („Massebewegungen“; 10 ObS 82/01h SSV-NF 15/50). Auch die Fähigkeit, Arme und Beine anzuheben und auszustrecken, führt daher für sich allein noch nicht notwendig zum Ausschluss von Pflegegeld der Stufe 7 (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47), weil es darauf ankommt, ob dem Pflegebedürftigen der zielgerichtete Einsatz dieser Bewegungen möglich ist.
Sofern der Pflegebedürftige mit der Hand eine Notfalleinrichtung (Rufeinrichtung) betätigen kann, um Hilfe herbeizurufen, führt diese Fähigkeit insgesamt zu einer gewissen Vereinfachung und Erleichterung der Pflege, weil die Pflegeperson nicht ständig in der Nähe des Pflegebedürftigen anwesend sein muss. In einem solchen Fall besteht kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 (10 ObS 87/10g mwN).
[…]
16. Der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ist […] aber nicht deshalb zu verneinen, weil dem Pflegebedürftigen schlechthin eine Kontaktaufnahme zu einer anderen Person möglich ist, sondern deshalb, weil er den Kontakt zur Pflegeperson mit Hilfe einer zielgerichteten Bewegung einer Extremität herstellen kann. Dass für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 auf den Einsatz der Extremitäten und nicht auf die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme mit anderen abzustellen ist, ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG.
17. Im vorliegenden Fall kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG vorliegen.
18. […] Im Hinblick auf das Herbeiholen von Hilfe ist die rein physische Fähigkeit der Klägerin zum 484Bedienen einer Notfalleinrichtung – wie auch das Berufungsgericht erkannte – nicht geeignet, den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 auszuschließen, weil die Klägerin geistig nicht zur zielgerichteten Bedienung in der Lage ist.
19. Die der Klägerin mögliche Kontaktaufnahme durch „Schreien“ hindert den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 nicht, weil darin keine Pflegeerleichterung durch den Einsatz einer Extremität liegt.
20. […] Im vorliegenden Fall ist daher die Fähigkeit der Klägerin, sich unter Zuhilfenahme der Hände im Bett umzudrehen und dadurch selbständig der Dekubitus-Gefahr vorzubeugen, entscheidend für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7:
[…] Nach den Feststellungen der Vorinstanzen kann nicht abschließend beurteilt werden, ob es sich bei der körperlich vorhandenen Fähigkeit der Klägerin, sich im Bett unter Verwendung der Hände umzudrehen, unter Bedachtnahme auf ihren kognitiven Zustand tatsächlich um eine zielgerichtete Bewegung mit funktioneller Umsetzung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (insb 10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 209/09x) handelt. Dies würde erfordern, dass die Klägerin ihre Hände zum beabsichtigten Zweck einsetzen kann, ihre Lage im Bett willkürlich so regelmäßig zu verändern, dass ein Wundliegen vermieden wird und die Notwendigkeit einer regelmäßigen Umlagerung durch eine Pflegeperson entfällt.
[…]
23. Sollte […], wie von der Klägerin vorgebracht, dies von der jeweiligen Tagesverfassung abhängig sein (Schriftsatz vom 26.8.2020, ON 34), läge darin keine ausreichende Vereinfachung der Pflege bzw Verringerung des Pflegeaufwands, müsste doch in diesem Fall dennoch eine ausreichende Umlagerung geplant, regelmäßig kontrolliert und bedarfsweise durchgeführt werden. In diese Richtung könnte auch die im Sachverständigengutachten wiedergegebene Äußerung einer Betreuungsperson deuten, die Klägerin wälze sich lediglich im Bett hin und her und bekomme dann blaue Flecken (Sachverständigengutachten ON 33, Seite 3).
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die Kl in der Lage ist, „zielgerichtete“ Bewegungen“ mit „funktioneller“ Umsetzung“ durchzuführen. Nur in diesem Fall ist der Anspruch der Pflegegeldstufe 7 ausgeschlossen. Die Unfähigkeit zur funktionellen Umsetzung bedeutet, dass eine Bewegung nicht willentlich geplant, aktiv durchgeführt werden kann und damit willentlich und sinnvoll iS eines zielgerichteten, zweckvollen Handelns genützt werden kann. Die zielgerichtete Bewegung muss geeignet sein, die Pflege zu erleichtern bzw den pflegerischen Aufwand zu mindern.
So liegt zwar grundsätzlich keine die Pflegegeldstufe 7 anspruchsbegründende Bewegungsunfähigkeit vor, wenn die zu Pflegende eine Rufglocke oder ein sonst geeignetes Hilfsmittel ergreifen und einen sinnhaften Rufkontakt herstellen kann. Die rein physischen Fähigkeiten der Kl zum Bedienen einer Notfalleinrichtung reichen aber nicht aus, wenn sie geistig nicht zur zielgerichteten Bedienung in der Lage ist.
Ob aus der bei der Kl vorliegende Restbeweglichkeit der Hände, die sie befähigt, sich eigenständig im Bett umzudrehen, eine solche Erleichterung der Pflege abzuleiten ist, kann vom OGH im gegenständlichen Fall nicht festgestellt werden, weshalb es ergänzender Feststellungen der Vorinstanzen bedarf. Klärungsbedürftig ist insb die Frage, ob die Kl ihre Lage so regelmäßig und ausreichend selbst verändern kann, dass eine geplante regelmäßige Umlagerung durch eine Pflegeperson zur Vermeidung einer Dekubitus-Gefahr nicht erforderlich ist.
Dass die Kl durch „Schreien“ zur Kontaktaufnahme mit der Pflegeperson fähig ist, hindert den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 deshalb nicht, weil dies keine Pflegeerleichterung durch den Einsatz von Extremitäten darstellt.