Sonderbetreuungszeit Phase 5 – Die späte Einsicht

PHILIPPBROKES

Mit Ende des Schuljahres 2020/2021 endete auch die vierte Phase der sogenannten „Sonderbetreuungszeit“. Bis zu vier Wochen konnte jeder Elternteil zwischen 1.11.2020 und 9.7.2021 an bezahlter Freistellung beanspruchen, wenn das eigene Kind coronabedingt abgesondert wurde oder die Kinderbetreuung etwa auf Grund einer behördlichen Kindergarten- oder Schulschließung zu Hause erfolgen musste. Betroffenen Eltern wurde für diesen Zeitraum die volle Entgeltfortzahlung vom AG geleistet, dieser wiederum erhielt hierfür den vollen Kostenersatz aus Bundesmitteln. Während bei sonstigen Dienstverhinderungen mangels Vorliegens eines kollektivvertraglich definierten Richtwertes die Dauer des jeweiligen Freistellungsanspruchs schnell zum Streitfall wird – das Gesetz normiert diese bekanntlich nur mit einer „verhältnismäßig kurzen Zeit“ –, gab die zeitlich abschließend festgelegte Sonderbetreuungszeit in § 18b AVRAG seit Einführung beiden Arbeitsvertragsparteien die notwendige Rechtssicherheit hinsichtlich Dauer und Kostentragung.

Der Schulbeginn im deutschen Nordrhein-Westfalen (NRW) am 18.8.2021 brachte rasch den ersten Vorgeschmack auf das auch in Österreich bevorstehende Schuljahr: Alleine in den ersten beiden Schulwochen wurde insgesamt gegenüber 30.000 Schülerinnen und Schülern coronabedingt die in NRW übliche 14-tägige Quarantäne angeordnet – für berufstätige Eltern in den meisten Fällen eine nicht unwesentliche Herausforderung, die auch in Deutschland mit bestehenden arbeitsrechtlichen Instrumenten nur schwer zu nivellieren war.

Arbeiterkammer und Österreichischer Gewerkschaftsbund nahmen die Erkenntnisse aus Deutschland zum Anlass, um rasch für die Wiedereinführung der bewährten Sonderbetreuungszeit in Österreich zu plädieren. Zu wenig „krisenfit“ erschienen die allgemeinen Dienstverhinderungsbestimmungen in § 8 AngG bzw § 1154b ABGB, um Streitfälle in aufrechten Arbeitsverhältnissen hintanzuhalten und damit auch den Druck von betroffenen Eltern zu nehmen, Arbeits- und Kinderbetreuungspflichten zeitgleich – etwa unter dem Deckmantel des „Homeoffice“ – bewältigen zu müssen.

1..
Arbeitsministerium: Verlängerung nicht angedacht

Von Seiten des Arbeitsministeriums kam daraufhin rasch eine klare Absage: Die gesetzten COVID-19-­Maßnahmen an Schulen, allem voran aber das Fortschreiten der Impfungen, hätten eine derartige Verbesserung der Lage in Österreich bewirkt, dass eine Wiedereinführung der Sonderbetreuungszeit im bevorstehenden Schuljahr nicht angedacht sei. Während das sogenannte „Freitesten“ aus der Absonderung erst nach zehn Tagen möglich war, verwies das zuständige Ministerium weiterhin auf bestehende arbeitsrechtliche Instrumente und betonte (mE in dieser Allgemeinheit völlig unzutreffend), das geltende Arbeitsrecht könne eine zweiwöchige Dienstverhinderung jedenfalls abfedern.

Nur einen Tag nach Schulbeginn in der Ostregion schließlich die Ernüchterung: Alleine in der Bundeshauptstadt befanden sich bereits nach dem ersten Schultag zahlreiche Schulklassen in behördlicher Quarantäne. Die enorme Verunsicherung in den Betrieben manifestierte sich rasch in den stark gestiegenen Beratungsgesprächen zu ebendiesem Themenkomplex bei Arbeiterkammer und Gewerkschaften: Wie lange betroffene Eltern nämlich tatsächlich ihr Kind zu Hause betreuen dürfen, ohne ihr Entgelt oder gar den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses zu riskieren, konnte und kann tatsächlich nur einzelfallbezogen eingeschätzt werden, wobei auch eine Einschätzung impliziert, dass das tatsächliche Ausmaß der „verhältnismäßig kurzen“ Verhinderung im Streitfall nur Gerichte klären können.

Medienberichte über den wohl unvermeidbaren weiteren Anstieg abgesonderter Schulklassen und ein erneuter Appell der Sozialpartner, das eigens für die Krisensituation eingeführte Instrument der Sonderbetreuungszeit zu verlängern, zeigten schließlich Wirkung:

2..
Verlängerung ab 1. Oktober

Noch am 8.9.2021 informierte das Arbeitsministerium daraufhin per Presseaussendung, dass die Verlängerung der Sonderbetreuungszeit bei der ersten Plenarsitzung des Nationalrats am 22.9.2021 beschlossen und per 1.10.2021 wiedereingeführt werden würde. Bis dahin können betroffene Eltern ohnedies auf „bereits bestehende Freistellungsansprüche nach dem UrlG, AngG und ABGB zurückgreifen“.

Während die (späte) Einsicht naturgemäß zu begrüßen war, brachte die Ankündigung für bereits betroffene Beschäftigte keine wesentliche Verbesserung. 504Im Gegenteil: In Wien befanden sich zum Stichtag 14.9.2021 bei steigender Tendenz bereits 341 Schulklassen in behördlicher Quarantäne. Selbst bei besonders arbeitnehmerfreundlicher Rechtsauslegung erschien der pauschale Verweis auf das bestehende Dienstverhinderungsrecht nahezu absurd, war es AN doch nicht zuzumuten, die unklare Rechtslage hinsichtlich der Dauer des Entgeltfortzahlungsanspruchs mit dem AG in jedem Einzelfall auszulegen.

Zugegeben – das Ausmaß der behördlichen Absonderungen von Schülerinnen und Schülern überraschte wohl selbst die größten OptimistInnen: Schon am 16.9.2021 waren alleine in Wien 522 von insgesamt 720 Schulen zumindest von Teilsperren einzelner Klassen betroffen. Bei einem angenommenen Mittelwert von 20 Kindern pro Klasse war die Rede von rund 24.000 potentiell betroffenen Elternteilen.

3..
Rückwirkende Verlängerung ab 1. September

Die Reaktion des Arbeitsministeriums schien naheliegend: Noch am 15.9.2021 gab man im Zuge einer erneuten Presseaussendung schließlich bekannt, die Verlängerung der Sonderbetreuungszeit rückwirkend zum 1.9.2021 vorzunehmen.

Die Eckdaten:

  • Phase 5 für den Zeitraum 1.9. bis 31.12.2021;

  • bis zu drei Wochen pro Elternteil;

  • Rechtsanspruch bei behördlicher Absonderung des eigenen Kindes bzw bei Schulschließung ohne Angebot einer „Notbetreuung“;

  • Vereinbarungsmöglichkeit dort, wo trotz (Teil-)Schließung Notbetreuung angeboten wird;

  • coronabedingte Dienstfreistellungen nach § 8 Abs 3 AngG, § 1154b Abs 5 ABGB und § 16 UrlG gelten rückwirkend ab 1.9.2021 als „Sonderbetreuungszeiten“.

Besonders spannend ist dabei das Verhältnis der rückwirkend eingeführten Sonderbetreuungszeit auf allfällige Urlaubsguthaben, die iZm der Absonderung von Kindern kurzerhand abgebaut wurden, um die Entgeltfortzahlung für die Dauer einer kinderbetreuungsbedingten Abwesenheit zu wahren.

Maßgeblich erscheint hier jedenfalls der Wortlaut des § 4 Abs 2 UrlG, wonach für Zeiträume, während deren ein AN Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Entfall der Arbeitsleistung hat, der Urlaubsantritt nicht vereinbart werden kann, wenn diese Umstände bereits bei Abschluss der Vereinbarung bekannt waren. Geschieht dies dennoch, gilt der Zeitraum der Arbeitsverhinderung nicht als Urlaub.

Unbestritten ist, dass der Umstand der rückwirkenden Verlängerung der Sonderbetreuungszeit vor der politischen Ankündigung am 15.9.2021 den Betroffenen nicht „bekannt“ war. Dies soll mE bei der Beurteilung dieser Sachverhalte jedoch keine Rolle spielen: Dogmatisch ist die Sonderbetreuungszeit nämlich ohne Zweifel als reine Konkretisierung der Dienstverhinderung aus wichtigen persönlichen Gründen zu werten, für die der Gesetzgeber in § 18b AVRAG eben festlegt, dass der AG unter bestimmten Voraussetzungen und für einen bestimmten Zeitraum der Inanspruchnahme durch betroffene AN einen Kostenersatz aus Bundesmitteln erhält. Folglich lag idR schon vor dem 15.9.2021 bei der Absonderung von Schulklassen bei entsprechender Betreuungsnotwendigkeit ein Dienstverhinderungsgrund iSd § 8 Abs 3 AngG bzw § 1154b Abs 5 ABGB vor, wenn auch „nur“ für eine verhältnismäßig kurze Zeit.

Im Ergebnis erscheint es nur konsequent, Urlaubsvereinbarungen, die in Fällen des § 18b Abs 1 AVRAG in Unkenntnis der geplanten rückwirkenden Wiedereinführung der Sonderbetreuungszeit ab dem 1.9.2021 geschlossen wurden, für unwirksam zu erachten.

Ein derartiger Automatismus ist im Falle bereits konsumierter Gleitzeit- bzw Zeitausgleichsguthaben hingegen schon rein rechtsdogmatisch nicht anzunehmen. Eine rückwirkende – vom Gesetzgeber des § 18 Abs 1b AVRAG auch nicht vorgesehene – Einordnung derartiger Vereinbarungen als „Sonderbetreuungszeiten“ wäre folglich zwangsläufig als Umgehungshandlung zu werten.