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Keine Ermessensüberschreitung bei Gewährung einer ungeeigneten Rehabilitationsmaßnahme auf Grund fehlerhafter Informationen über Gesundheitszustand

ELISABETHHANSEMANN

Die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung ist darauf beschränkt, ob vom eingeräumten Ermessen innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen Gebrauch gemacht wurde oder ob dies – in Form einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmissbrauchs – nicht der Fall gewesen ist. Kann der Sozialversicherungsträger die für seine Ermessensentscheidung maßgebenden sachlichen Kriterien in rational nachvollziehbarer Weise darlegen, ist das vom Versicherten gegen die Ermessensentscheidung erhobene Klagebegehren vom Gericht abzuweisen; wurde dagegen die Leistung nicht aus sachlichen Gründen, sondern infolge eines Ermessensmissbrauchs verweigert, ist urteilsmäßig die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung der Leistung auszusprechen.

SACHVERHALT

Die Versicherte erlitt am 21.1.2015 einen Schlaganfall und befand sich bis 4.5.2015 in stationärer Behandlung. Bei ihrer Entlassung betrug ihr Barthel-Index 10 Punkte. (Anmerkung der Bearbeiterin: Der Barthel-Index ist ein Bewertungsverfahren der alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten.) Am 9.4.2015 beantragte die Versicherte bei der bekl Pensionsversicherungsanstalt einen Rehabilitationsaufenthalt. Der behandelnde Arzt schlug einen Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung in V* in der Schweiz vor. Das Landeskrankenhaus R* teilte der Bekl mit, dass der Barthel-Index der Versicherten 30 Punkte betrage. Mit Schreiben vom 29.4.2015 bewilligte die Bekl der Versicherten einen Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik M* in Österreich als Heilverfahren gem 307 lit d ASVG. Diese Rehabilitationsklinik war zum Zeitpunkt der Entlassung der Versicherten keine geeignete Einrichtung.

Die Versicherte trat den bewilligten Aufenthalt nicht an, sondern befand sich vom Tag ihrer Entlassung bis zum 14.8.2015 stationär im Rehabilitationszentrum in V* in der Schweiz. Für den Aufenthalt bezahlte die Versicherte € 124.192,20 und für den Transport € 351,80. Die dort durchgeführten Rehabilitationsmaßnahmen waren ausreichend, zweckmäßig und notwendig. Vergleichbare Rehabilitationsmaßnahmen können auch in Einrichtungen in Österreich durchgeführt werden, beispielsweise im Landeskrankenhaus H*, wobei hier aber nach Auskunft des ärztlichen Leiters aufgrund Überlastung nur Tiroler Patienten aufgenommen werden. Wenn eine unverzügliche Aufnahme der Versicherten in einer Rehabilitationseinrichtung nicht möglich gewesen wäre, hätte sie auf der Neurologischen Akutstation im Landeskrankenhaus R* stationär bleiben müssen. Die Versicherte hätte aber in der Klinik J* in Deutschland rehabilitiert werden können, welche im Jahr 2015 – anders als die Klinik in der Schweiz – Vertragspartnerin der Bekl war.

Mit Schreiben vom 10.6.2015 begehrte die Versicherte Kostenrückerstattung für den Aufenthalt im Rehabilitationszentrum in V*. Mit Schreiben vom 9.7.2015 lehnte die Bekl die Übernahme der Kosten ab.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl begehrte mit ihrer Klage die Zahlung von € 124.544,- sA an Kostenerstattung für die in V* durchgeführten Rehabilitation samt Transportkosten. Es habe sich dabei um eine medizinische Rehabilitation gem § 302 Abs 1 Z 1 ASVG gehandelt, die nach pflichtgemäßem Ermessen zu erbringen sei. Die in V* erbrachten Rehabilitationsmaßnahmen seien zweckmäßig und notwendig gewesen. Vergleichbare Einrichtungen stünden in Österreich nicht zur Verfügung, die von der Bekl vorgeschlagene Einrichtung sei ungeeignet gewesen.

Die Bekl wandte ein, die Versicherte hätte eine gleichwertige Behandlung im Inland in Anspruch nehmen können. Ausgehend von dem vom behan39delnden Arzt – unrichtig – mitgeteilten Barthel-Index von 30 wäre die Rehabilitationsklinik in M* eine geeignete Einrichtung gewesen. Die Bekl habe ihr Ermessen daher pflichtgemäß ausgeübt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Versicherten nicht Folge. Der OGH wies die Revision mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurück.

ORIGINAL ZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

[…]

2.3 […] bei der Prüfung der Frage, ob das Ermessen vom Krankenversicherungsträger im Sinne des Gesetzes ausgeübt wurde, [ist] zu berücksichtigen, dass auch für Pflichtleistungen ohne individuellen Rechtsanspruch gemäß § 154a Abs 1 ASVG die Grundsätze des § 133 Abs 2 ASVG gelten, sodass auch medizinische Maßnahmen der Rehabilitation ausreichend und zweckmäßig sein müssen, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Bei der Überprüfung, ob das Ermessen von der beklagten Partei im Sinne des Gesetzes ausgeübt wurde, sind darüber hinaus auch die finanzielle Lage der Versicherten und die daraus zu erschließende Möglichkeit und Zumutbarkeit, sich die Leistungen aus eigenen Mitteln zu beschaffen, die finanzielle Lage des Sozialversicherungsträgers sowie die ständige Praxis gegenüber anderen Versicherten als weitere Kriterien zu beachten […].

3.1 Das Wesen einer Ermessensentscheidung liegt darin, dass ihr Inhalt gesetzlich nicht vorausbestimmt ist. Es bestehen mehrere Entscheidungsmöglichkeiten und alle diese möglichen Entscheidungen sind gesetzmäßig (10 ObS 45/08b SSV-NF 22/35 mwH). Daher muss die Entscheidung des Versicherungsträgers als „gegeben“ angesehen werden; das Gericht ist nicht befugt, im Rahmen der sukzessiven Kompetenz eine eigene Ermessensentscheidung an die Stelle einer (ebenfalls gesetzeskonformen) Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers zu setzen. Entspricht die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers den gesetzlichen Kriterien für eine Ermessensentscheidung, ist sie insofern zu akzeptieren, als das Gericht die gleiche Entscheidung wiederum zu treffen hat […].

3.2 Wird […] gegen die Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers Bescheidklage wegen gesetzwidriger Ermessensausübung erhoben, ist nur eine Rechtskontrolle, nicht auch eine Zweckmäßigkeitskontrolle durchzuführen (10 ObS 10/04z SSV-NF 18/67): Die gerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob vom eingeräumten Ermessen innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen Gebrauch gemacht wurde oder ob dies – in Form einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmissbrauchs – nicht der Fall gewesen ist (10 ObS 45/08b SSV-NF 22/35 mH auf Art 130 Abs 2, nunmehr Abs 3 B-VG). Kann der Sozialversicherungsträger die für seine Ermessensentscheidung maßgebenden sachlichen Kriterien in rational nachvollziehbarer Weise darlegen, ist das vom Versicherten gegen die Ermessensentscheidung erhobene Klagebegehren vom Gericht abzuweisen; wurde dagegen die Leistung nicht aus sachlichen Gründen, sondern infolge eines Ermessensmissbrauchs verweigert, ist urteilsmäßig die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung der Leistung auszusprechen (10 ObS 258/02t SSV-NF 17/17).

4.1 Der Revisionswerber rügt, dass die Beklagte ihr Ermessen dadurch verletzt habe, dass sie nicht der Empfehlung der behandelnden Ärzte der Versicherten gefolgt sei, diese in V* rehabilitieren zu lassen. […] Die Beklagte habe die Versicherte lediglich formlos der tatsächlich nicht geeigneten Rehabilitationsklinik M* zugewiesen. Sie habe weder mit der Versicherten Rücksprache gehalten noch sich um deren Zustand gekümmert. […]

4.2. Diese Ausführungen übergehen, dass die Beklagte ihre Entscheidung auf die Angabe der behandelnden Ärzte stützte, dass bei der Versicherten ein Barthel-Index von 30 vorliege. Dass bei Vorliegen eines derartigen Barthel-Index die Rehabilitationsklinik M* für die Rehabilitation der Versicherten geeignet gewesen wäre, wie die Beklagte vorbrachte, wird vom Kläger auch nicht substantiiert bestritten. Die Beklagte informierte die Versicherte über die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen mit dem Schreiben vom 29.4.2015 (§ 305 Satz 1 ASVG). Dem Einwand des Klägers, sie hätte sich vor Bewilligung der Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik M* über den Zustand der Versicherten informieren und erkennen müssen, dass diese Rehabilitationsklinik nicht geeignet sei, ist zu entgegnen, dass der Beklagten keine weiteren Informationen zur Verfügung standen. Die Versicherte wurde erst nach Erhalt des Schreibens vom 29.4.2015, nämlich am 4.5.2015 aus der stationären Behandlung entlassen, trat aber den bewilligten Rehabilitationsaufenthalt in der Rehabilitationsklinik M* nicht an, sodass der Beklagten auch deshalb keine Überprüfung der bewilligten Rehabilitationsmaßnahme möglich war. Die Versicherte begab sich darüber hinaus umgehend – und ohne Vorliegen einer vorherigen Genehmigung durch die Beklagte (vgl Art 20, 27 Abs 3 VO [EG] 883/2004) – aus eigenem Entschluss zur Rehabilitation nach V*. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Beklagte vor diesem konkreten Hintergrund die für ihre Ermessensentscheidung maßgebenden sachlichen Kriterien in rational nachvollziehbarer Weise darlegen konnte und ihr weder ein Ermessensmissbrauch noch eine Ermessensüberschreitung vorwerfbar sei, ist nicht korrekturbedürftig.

5.1. […] Der Revisionswerber weist […] selbst zutreffend darauf hin, dass nicht relevant sei, welche „alternativen Einrichtungen fiktiv zur Verfügung gestanden hätten“. Die Beklagte hatte infolge der Ent40scheidung der Versicherten auf Inanspruchnahme einer Rehabilitation in V* gar keine Möglichkeit mehr zur Erbringung geeigneter Rehabilitationsmaßnahmen. Auch mit diesen Ausführungen zeigt der Revisionswerber daher keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts auf.

ERLÄUTERUNG

Gem § 302 Abs 2 ASVG kann der Pensionsversicherungsträger die Gewährung der von einem Krankenversicherungsträger nach Maßgabe des § 154a ASVG zu erbringenden medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation jederzeit an sich ziehen. Im Zusammenhang mit der Gewährung dieser Maßnahmen tritt sohin der Pensionsversicherungsträger in alle im Zusammenhang mit dieser Maßnahme gegenüber dem Versicherten bestehenden Pflichten und Rechte des Krankenversicherungsträgers ein. Im gegenständlichen Fall wurde nicht bestritten, dass der Pensionsversicherungsträger von ebendiesem Recht Gebrauch gemacht hat.

Gem § 154a Abs 1 ASVG sind die Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nach pflichtgemäßem Ermessen und nach Maßgabe des § 133 Abs 2 ASVG zu erbringen. Der Leistungspflicht des Pensionsversicherungsträgers steht daher keine Anspruchsberechtigung des Versicherten gegenüber. § 133 Abs 2 ASVG normiert, dass die Maßnahmen ausreichend und zweckmäßig sein müssen, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen.

Trotz fehlendem individuellen Rechtsanspruch kann nach der Rsp des OGH gegen eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers beim Arbeits- und Sozialgericht Klage wegen gesetzwidriger Ermessensübung erhoben werden. Bei der Ermessensprüfung ist zu berücksichtigen, dass auch für Pflichtleistungen ohne individuellen Rechtsanspruch die Grundsätze des § 133 Abs 2 ASVG gelten. Auch können nicht ausdrücklich geregelte Entscheidungskriterien, vor allem das Sachlichkeitsgebot, herangezogen werden (OGH 18.2.2003, 10 ObS 258/02t).

Der Versicherungsträger muss seine Entscheidung aus sachlichen Gründen treffen. Die Entscheidung muss ex ante rational nachvollziehbar sein. Für den pflichtgemäßen Gebrauch des Ermessens reicht es, dass der Sozialversicherungsträger unter Einhaltung einer üblichen Vorgangsweise und unter Berücksichtigung der üblichen, dem Versicherungsträger vorgelegten Informationen eine Maßnahme bewilligt oder ablehnt. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die bewilligte Maßnahme doch nicht geeignet war, da die vorgelegten Informationen unrichtig waren, so liegt dennoch kein Ermessensmissbrauch vor, sofern dem Versicherungsträger nicht die Möglichkeit gegeben wurde, seine Entscheidung anhand der richtigen Informationen abzuändern.

Es ist gerade das Wesen einer Ermessensentscheidung, dass ihr Inhalt gesetzlich nicht vorausbestimmt ist. Mehrere Entscheidungsmöglichkeiten sind zulässig und alle diese möglichen Entscheidungen können gesetzmäßig sein (VwGH 14.9. 1995, 92/06/0075 ua).

Das Gericht darf daher nur den fehlerfreien Gebrauch des Ermessens überprüfen, ist aber nicht befugt, im Rahmen seiner sukzessiven Kompetenz eine eigene Ermessensentscheidung an die Stelle jener des Versicherungsträgers zu setzen. Sind die gesetzlichen Kriterien für eine Ermessensentscheidung erfüllt, so hat das Gericht die gleiche Entscheidung wie der Sozialversicherungsträger zu treffen. Wurde hingegen eine Leistung infolge eines Ermessensmissbrauchs nicht gewährt, so hat das Gericht selbst das Ermessen iSd Gesetzes auszuüben und urteilsmäßig die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung der Leistung auszusprechen (OGH 18.2.2003, 10 ObS 258/02t).