Ausgleichszulage und rechtmäßiger Aufenthalt – Ein Bericht aus der täglichen Beratungs- und Vertretungspraxis
Ausgleichszulage und rechtmäßiger Aufenthalt – Ein Bericht aus der täglichen Beratungs- und Vertretungspraxis
Medial und politisch wird die Ausgleichszulage vereinfacht als Mindestpension bezeichnet. Genaugenommen ist diese Bezeichnung jedoch irreführend und rechtlich falsch. Ziel der Ausgleichszulage ist es, Pensionsbezieher*innen ein gewisses Mindesteinkommen zu gewährleisten und somit deren Existenz zu sichern. Im Jahr 2020 bezogen insgesamt 198.378 Personen, davon 155.284 ehemalige unselbständig Beschäftigte, eine Ausgleichszulage.* Unterschreitet das Gesamt-Nettoeinkommen einer Pensionistin* einen bestimmten Betrag, wird der Differenzbetrag mittels der Ausgleichszulage ausgeglichen. Das Gesetz verlangt weiters den Nachweis des rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. In der Beratungs- und Vertretungspraxis stellen die beiden letztgenannten Voraussetzungen meist die relevanten Rechtsfragen dar. Bei Rechtsstreitigkeiten bezüglich des gewöhnlichen Aufenthalts ist im Regelfall der vorliegende Sachverhalt, also die Frage, wann sich die beziehende Person im Inland aufgehalten hat, strittig. Beim rechtmäßigen Aufenthalt hingegen steht die Rechtsfrage im Vordergrund. Der Artikel bietet einleitend einen Überblick über die Voraussetzungen der Ausgleichszulage, in weiterer Folge sollen die relevanten fremdenrechtlichen Bestimmungen dargestellt und ein Einblick in die Verwaltungspraxis der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) geboten werden. Abschließend wird anhand der wichtigsten höchstgerichtlichen Entscheidungen der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts präzisiert.
Die gesetzlichen Bestimmungen betreffend die Ausgleichszulage sind in den §§ 292 ff ASVG geregelt. Analoge Regelungen für Selbständige und Bäuerinnen finden sich in den §§ 149 ff GSVG bzw §§ 140 ff BSVG.* In weiterer Folge werden zwecks Lesbarkeit ausschließlich die ASVG-Bestimmungen angeführt.
Die Ausgleichszulage (AZ) wird ausbezahlt, um Pensionsbezieher*innen ein gewisses Mindesteinkommen zu gewährleisten. Die AZ ist der Differenzbetrag zwischen dem anzuwendenden Ausgleichszulagenrichtsatz gem § 293 ASVG und dem gesamten Einkommen der/des Anspruchsberechtigten. Das für die AZ maßgebliche Einkommen setzt sich zusammen aus der Pension, dem sonstigen Nettoeinkommen, beispielsweise aus einem Erwerbseinkommen oder Einkommen aus Vermietung sowie anrechenbaren Unterhaltsansprüchen. Zum Nettoeinkommen werden auch Sachbezüge gezählt. Darunter sind bspw faktische Zuwendungen von Miete, Strom, Gas und Lebensmittel, die mittels Pauschalbetrag* nach der Sachbezugswerteverordnung angerechnet werden, zu verstehen. Rechtlich ist die AZ zwar eine Leistung mit Fürsorgecharakter und eine beitragsunabhängige Annexleistung zur Pensionsleistung, jedoch keine Leistung der Sozialhilfe.* Auch eine Pensionsleistung aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union kann für sich allein bereits einen Anspruch auf AZ begründen.*
Der Ausgleichszulagenrichtsatz beträgt im Jahr 2021 für Alleinstehende € 1.000,48 und bei aufrechter Ehe bzw eingetragener Partnerschaft mit gemeinsamem Haushalt € 1.578,36. Bei diesem „Familienrichtsatz“ wird sowohl das Einkommen der Ausgleichszulagenbezieherin, als auch das Einkommen der Ehegattin oder eingetragenen Partnerin mitberücksichtigt. Wenn die Versicherte eine gewisse Anzahl an Beitragsmonaten aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben hat, kann ein Ausgleichszulagenbonus gem § 299a ASVG zustehen. Faktisch ist der Bonus eine Erhöhung des anzuwendenden Richtsatzes.* Bei 30 Erwerbsjahren wird der Richtsatz auf € 1.113,48, bei 40 Erwerbsjahren auf € 1.338,99 angehoben. Bei aufrechter Ehe bzw eingetragener Partnerschaft ist eine Erhöhung des Richtsatzes auf € 1.808,73 bloß bei 40 Erwerbsjahren vorgesehen. Weiters erhöht sich der Richtsatz für jedes Kind iSd § 252 ASVG um € 154,37. Auch bei der Waisenpension gibt es unterschiedliche Richtsätze, abhängig vom Alter der Waise und ob ein Elternteil oder beide verstorben sind.51
Unter gewöhnlichem Aufenthalt versteht man die faktische, körperliche Anwesenheit im Inland. Diese muss für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts weder erlaubt noch freiwillig sein. Ein ständiger Aufenthalt ist nicht notwendig, jedoch müssen Umstände beruflicher oder persönlicher Art und die Dauer und Beständigkeit des Aufenthalts darauf hinweisen, dass die Person nicht bloß vorübergehend, sondern langfristig im Inland bleiben wird.* In stRsp wird zur Beurteilung auf den § 66 Abs 2 JN verwiesen und bei der Prüfung obiger Kriterien ist stets eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Bei längeren Auslandsaufenthalten von über zwei Monaten kann der gewöhnliche Aufenthalt wegfallen.
Maßgeblich für die Beurteilung sind vorrangig die Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes und der Unionsbürger-Richtlinie (in Folge NAG bzw Unionsbürger-RL). Die Regelungen betreffend die AZ sehen keine diskriminierende Beschränkung bloß auf österreichische Staatsbürger*innen vor. Wenn daher Nichtösterreicher*innen die Voraussetzungen erfüllen, besteht ebenso Anspruch auf die Leistung. Die Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts wurde mit 1.1.2011 eingeführt* und war seither Gegenstand zahlreicher konkretisierender OGH- und EuGH-Entscheidungen.
In der Praxis betreffen die meisten Fälle Unionsbürger*innen, bspw aus Rumänien oder der Slowakei. Staatsbürger*innen der Mitgliedstaaten des EWR und Schweizer*innen benötigen für ihren Aufenthalt in Österreich und für die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich keinen Aufenthaltstitel. Drei Monate dürfen sich diese Personen ohne Weiteres in Österreich aufhalten, wobei sie lediglich im Besitz eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises sein müssen. Wenn sie sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten wollen, müssen sie diesen Aufenthalt bis spätestens vier Monate nach der Einreise der Aufenthaltsbehörde anzeigen.* Sie erhalten, wenn sie keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen, eine Anmeldebescheinigung, die das Aufenthaltsrecht deklarativ bescheinigt.
Ausgleichszulagenanspruchsberechtigte sind sogenannte Privatiers, also Personen, die nicht mehr aktiv im Erwerbsleben stehen. Auf Grund der Freizügigkeits-RL* ist diese Personengruppe zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die AZ in Anspruch nehmen muss (§ 51 Abs 1 Z 2 NAG).
EWR-Bürger*innen verfügen über ausreichend Existenzmittel, wenn diese über der geltenden Sozialhilfegrenze liegen. 2021 liegt dieser Wert für Alleinlebende und Alleinerziehende bei rund € 949,- und bei rund € 1.424,- für Paare. Drittstaatsangehörige müssen den Ausgleichszulagenrichtsatz nachweisen, der etwas höher ist.* In der Rs Brey hat der EuGH klargestellt, dass die österreichische AZ als Leistung mit Sozialhilfecharakter iSd Art 70 Abs 2 VO 883/2004 zu qualifizieren ist und sie daher bei der Prüfung der wirtschaftlichen Situation nicht zu berücksichtigen ist. Von einem Dritten stammende Mittel zum Lebensunterhalt müssen anerkannt werden. Existenzmittel müssen nicht in Form einer regelmäßigen Zahlung vorliegen, auch angespartes Kapital wird akzeptiert. Als Nachweise dienen etwa Bankguthaben, Sparbücher, Pensionsbezüge sowie Haftungs- oder Patronatserklärungen.
Sind ausreichende Existenzmittel nicht mehr vorhanden, ist wesentliches Kriterium für eine allfällige Ausweisung, ob die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates unangemessen in Anspruch genommen werden. EWR-Bürger*innen dürfen nicht allein deshalb ausgewiesen werden, weil sie Sozialhilfe erhalten.* Bei der Prüfung der Unangemessenheit ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dabei spielt die Dauer des Aufenthalts, die persönliche Situation der Betroffenen, die Höhe der gewährten Sozialhilfe sowie die in der Vergangenheit geleisteten Beiträge zur SV eine wesentliche Rolle.
Eine klassische Konstellation aus der Praxis stellt folgender Fall dar: Die rumänische Pensionistin zieht nach Österreich zu ihrer Tochter und ihren Enkelkindern. Gem § 52 Abs 1 Z 3 NAG hat sie als Verwandte einer Unionsbürgerin in Österreich ein Aufenthaltsrecht, sofern ihr von ihrer Tochter Unterhalt tatsächlich gewährt wird.
Nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt erwerben EWR-Bürger*innen ein Daueraufenthaltsrecht. Die Behörde stellt ih52nen eine sogenannte Bescheinigung des Daueraufenthalts aus. Auch diese Bescheinigung hat lediglich deklarative Wirkung. Dieses Recht existiert unabhängig vom weiteren Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen, die ursprünglich zum Erhalt einer Anmeldebescheinigung erfüllt sein müssen. Dh, ab diesem Zeitpunkt müssen bspw nicht mehr ausreichend Existenzmittel nachgewiesen werden. Gem § 53a Abs 3 NAG erhalten EWR-Bürger*innen bereits nach drei Jahren ein Daueraufenthaltsrecht, wenn sie das Regelpensionsalter erreicht haben und zuvor erwerbstätig gewesen sind. Verkürzte Fristen gelten darüber hinaus für Invaliditätspensionsbezieher*innen bzw jene, die auf Grund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit aus dem Erwerbsleben ausscheiden.
Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger*innen, die über keine Unionsbürgerschaft verfügen (Drittstaatsangehörige) sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie das Bestehen einer familiären Beziehung sowie die tatsächliche Unterhaltsgewährung nachweisen. Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger*innen sind, erwerben das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte bzw eine Daueraufenthaltskarte auszustellen.*
Angehörige österreichischer Staatsbürger*innen sind gegenüber Angehörigen der EWR-Bürger*innen in aller Regel deutlich schlechter gestellt. Die österreichische Tochter etwa muss für die serbische Mutter zwingend eine Haftungserklärung abgeben. Der Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen ist überhaupt auf Ehepartner*innen und unverheiratete ledige Kinder beschränkt.
Wie bereits angeführt, ist für die Beurteilung des rechtmäßigen Aufenthalts das NAG und die Unionsbürger-RL ausschlaggebend. Das Aufenthaltsrecht ist gem Art 10 Abs 1 Z 3 B-VG in der Zuständigkeit und Vollziehung Bundessache. Das NAG sieht in § 3 aber vor, dass der jeweilige Landeshauptmann in der Form der mittelbaren Bundesverwaltung als sachlich zuständige Behörde tätig wird. In allen Bundesländern hat der Landeshauptmann jedoch den Bürgermeister (Magistrat) bzw den Bezirkshauptmann (Bezirkshauptmannschaft) ermächtigt, die Entscheidungen zu treffen.* Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach dem (beabsichtigten) Wohnort der Antragstellerin.
Doch selbst wenn die zuständige Aufenthaltsbehörde über den Aufenthaltstitel entschieden oder eine Anmeldebescheinigung ausgestellt hat, ist der Pensionsversicherungsträger nach der höchstgerichtlichen Judikatur hinsichtlich des sozialrechtlichen Ausgleichszulagenanspruches nicht an die Entscheidung der Aufenthaltsbehörde gebunden. Nach stRsp des OGH besitzt eine Anmeldebescheinigung bloß deklaratorische Wirkung; sie dokumentiert lediglich das aus dem Unionsrecht abgeleitete Aufenthaltsrecht. Da die Bescheinigung keinen Bescheidcharakter hat und nicht rechtskräftig werden kann, sind nach Ansicht des OGH weder die Pensionsversicherungsträger noch die ordentlichen Gerichte daran gebunden.*
Der Pensionsversicherungsträger hat somit die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Inland als Vorfrage iSd § 38 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) selbst zu beurteilen.* Dazu hat der Pensionsversicherungsträger gem § 368 Abs 1 ASVG sechs Monate ab Einlangen des Antrages Zeit. Aufgrund der eindeutigen Rechtslage verwundert die Praxis der PVA,* von Antragsteller*innen die bloß deklarativ wirkende Anmeldebescheinigung der Aufenthaltsbehörde zu verlangen. Bis zur Vorlage der Bescheinigung wird kein Bescheid ausgestellt und damit regelmäßig die Frist für die Bescheiderlassung überschritten. Gerade in Hinblick auf die jüngst öffentlich gewordenen Missstände bei Aufenthaltsbehörden* und den existenzsichernden Zweck der AZ ist diese rechtsgrundlose, verfahrensverlängernde Praxis für Betroffene und die Versicherungsgemeinschaft untragbar.
Der rechtmäßige Aufenthalt kann sich, wie oben unter 2. bereits näher dargelegt, auf mehrere Tatbestände stützen. Ein kumulatives Vorliegen aller oder mehrerer Tatbestände ist für die Erfüllung des rechtmäßigen Aufenthalts nicht gefordert. In der Praxis lehnt die PVA einen Anspruch auf AZ regelmäßig mit der Begründung ab, dass keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen. Andere Tatbestände wie das Daueraufenthaltsrecht spielen in den Bescheidbegründungen keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
Da es sich bei den Entscheidungen betreffend die AZ um eine Leistungssache nach § 354 ASVG handelt, sind gem § 65 Abs 1 Z 1 iVm § 3 ASGG hin53sichtlich der Klage gegen einen ablehnenden Bescheid die Arbeits- und Sozialgerichte zuständig. Diese sind in ihrer Entscheidung weder an die Entscheidung der Pensionsversicherungsträger noch der Aufenthaltsbehörde gebunden.*
Wie bereits angeführt, wird anhand von Entscheidungen von Höchstgerichten, insb des EuGH und OGH, der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts laufend konkretisiert. Die Auflistung nachstehender Entscheidungen ist daher nicht abschließend, sondern soll einen Überblick über die wichtigsten Judikate und deren Inhalt geben.
Rs Brey – C-140/12
In der Rs Brey wurde vom EuGH klargestellt, dass die AZ eine Sozialhilfeleistung iSd der Unionsbürger-RL ist und Beschränkungen zum Zugang dieser Leistung unter gewissen Umständen zulässig sind. Eine Sozialleistung muss Personen, die bloß aufgrund der Sozialleistung in einem anderen Mitgliedstaat migrieren und damit das Sozialsystem des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nahmen, nicht gewährt werden.* Der EuGH dazu ausdrücklich: „Es ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten, ohne dort einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder einer selbständigen Tätigkeit nachzugehen, nicht uneingeschränkt besteht.“
* Der EuGH betont, dass Einschränkungen grundsätzlich nur wirtschaftlich inaktive Unionsbürger*innen treffen können.
Rs Dano – C-333/13, Rs Alimanovic – C 67/14 und Rs García-Nieto – C-299/14
Der EuGH hat in diesen Entscheidungen festgestellt, dass erwerbstätigen Personen ein Aufenthaltsrecht ohne Erfüllung weiterer Voraussetzungen zukommt. Von nicht erwerbstätigen Personen wird jedoch gem Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL verlangt, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügen. Der Zweck dieser Bestimmung liegt auch darin, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen gehindert werden, die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes durch das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats sicherzustellen.* Eine unionsrechtswidrige Ungleichbehandlung gegenüber Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats kann hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen nur vorliegen, wenn die Unionsbürgerin die Voraussetzungen der Unionsbürger-RL erfüllt.* Eine individuelle Prüfung persönlicher Umstände, ob eine Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht, ist aufgrund des abgestuften Systems der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft der Unionsbürger-RL nicht notwendig. Hierbei werden nämlich schon verschiedenste Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände kennzeichnen, berücksichtigt.* In der Rs García-Nieto wurde dazu ergänzend im Einklang mit Art 24 Abs 2 Unionsbürger-RL ausgesprochen, dass auch Familienangehörigen von nicht erwerbstätigen Personen der Zugang zu Sozialhilfeleistungen vom Aufnahmemitgliedstaat verwehrt werden kann.*
Rs Genc – C-14/09 und Rs Levin – 34/81
Wie anhand der obigen Entscheidungen dargelegt, sind Einschränkungen hinsichtlich der Sozialhilfeleistungen bloß bei erwerbslosen Personen möglich. Das Vorliegen einer Erwerbstätigkeit ist daher bei der Prüfung des rechtmäßigen Aufenthalts von erheblicher Bedeutung. Unionsrechtlich ist jede Person als AN anzusehen, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. In der Rs Genc wurde die AN-Eigenschaft bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa € 175,- vom EuGH bejaht. Die Tatsache, dass das Einkommen nicht den gesamten Lebensunterhalt deckt, ändert nichts an der Qualifikation als Erwerbstätige.* Auch sind die Absichten der erwerbstätigen Person, die sie dazu veranlasst haben, in einem gewissen Mitgliedstaat eine Arbeit zu suchen, irrelevant.* Die österreichische Geringfügigkeitsgrenze (2021: monatlich € 475,86) ist daher kein geeignetes Beurteilungskriterium der unionsrechtlichen AN-Eigenschaft.
Rs C-709/20 – The Department for Communities in Northern Ireland
In dieser jüngst ergangenen E vom 15.7.2021 hat der EuGH die verpflichtende Anwendung der Charta der Grundrechte (GRC) für nationale Behörden festgelegt, wenn sich eine Unionsbürgerin nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält. Verfügt die Unionsbürgerin über keinerlei Mittel, um für ihren Lebensunterhalt (und den ihrer Kinder) aufzukommen, haben sich die zuständigen nationalen Behörden zu vergewissern, dass sie im Falle der Nichtgewährung von Sozialhilfe dennoch unter würdigen Umständen leben kann. Dabei können sämtliche nationale Hilfeleistungen berück54sichtigt werden, die der betreffenden Unionsbürgerin tatsächlich zustehen würden. Diese Entscheidung ist äußerst bemerkenswert, da sie die Anwendung der GRC bei der Beurteilung eines Sozialhilfeanspruchs vorsieht und dies noch in der Rs Dano abgelehnt wurde.* Der Einfluss dieser Entscheidung auf künftige höchstgerichtliche Entscheidungen wird sich erst zeigen.
10 ObS 31/16f und 10 ObS 15/16b
In der E 10 ObS 31/16f vom 19.7.2016 hat der OGH im Einklang mit den Entscheidungen Dano, Alimanovic und García-Nieto entschieden, dass wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger*innen eine Gleichbehandlung hinsichtlich Sozialhilfeleistungen nur dann zukommt, wenn diese die Voraussetzung der Unionsbürger-RL erfüllen. Diese Rechtsansicht wurde in der OGH-E 10 ObS 15/16b vom 10.5.2016 nochmals bestätigt und festgelegt, dass die Anmeldebescheinigung sich bloß auf das Aufenthaltsrecht bezieht und ihre deklarativ wirkende Ausstellung keine Auswirkung auf den Ausgleichszulagenanspruch hat. Hinsichtlich des Anspruchs ist daher eine eigenständige Prüfung des Pensionsversicherungsträgers bzw Gerichts notwendig.
In dieser E vom 20.2.2018 musste sich der OGH mit der Frage der AN-Eigenschaft auseinandersetzen. Selbst wenn die Erwerbstätigkeit aufgrund eines Sanierungsverfahrens unfreiwillig beendet wurde, liegt keine für die Qualifizierung als AN iSd Unionsbürger-RL notwendige, tatsächliche und echte Tätigkeit vor.
Der OGH hat in seiner Begründung vom 21.1.2020 auch das Daueraufenthaltsrecht nach Art 16 Abs 1 Unionsbürger-RL geprüft und ist zum Ergebnis gekommen, dass bei dessen Vorliegen keine weiteren Voraussetzungen, wie zB ausreichende Existenzmittel und umfassender Krankenversicherungsschutz, notwendig sind. Jedoch reicht für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nicht bloß der faktische Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat aus; erforderlich sind grundsätzlich fünf Jahre rechtmäßiger Aufenthalt.
10 ObS 12/20t und 10 ObS 110/20d*
Die E wurde nach einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (22.1.2020, C-32/19, Pensionsversicherungsanstalt) getroffen und behandelt ebenso das Daueraufenthaltsrecht nach Art 16 ff Unionsbürger-RL. Art 17 Abs 1 leg cit sieht Tatbestände vor, die unter gewissen Umständen einen leichteren Zugang zum Daueraufenthaltsrecht schaffen. Aufgrund lit a leg cit erhalten Erwerbstätige, die das Alter für eine Altersrente oder die Voraussetzungen für eine Vorruhestandsregelung erfüllen und ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, das Daueraufenthaltsrecht, wenn die Tätigkeit während der letzten zwölf Monate ausgeübt wurde und sie sich im Aufnahmemitgliedstaat zumindest für drei Jahre aufgehalten haben. Hierbei ist der OGH zum Schluss gekommen, dass der maßgebliche Zeitpunkt die Aufgabe der Erwerbstätigkeit bzw das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist. Hinsichtlich der Tatbestände des Art 17 Abs 1 lit a und b Unionsbürger-RL ist die Aufgabe einer im Aufnahmemitgliedstaat – und nicht in einem anderen Mitgliedstaat – ausgeübten Erwerbstätigkeit notwendig.
Wie Johannes Peyrl* richtig festgestellt hat, bleiben nach der Lektüre der EuGH-Judikatur in den Rs Brey und Dano mehr Fragen offen, als beantwortet werden. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die PVA die Vorlage einer Anmeldebescheinigung verlangt, obwohl diese bei ihrer Entscheidungsfindung keinerlei Bedeutung hat.* Aus der täglichen Praxis wissen wir, dass die MA 35 als zuständige Aufenthaltsbehörde in Wien regelmäßig ihre sechsmonatige Entscheidungsfrist gem § 73 Abs 1 AVG verletzt. Umso mehr verwundert es, dass die PVA auf die Anmeldebescheinigung beharrt, obwohl sie die Frage des rechtmäßigen Aufenthalts vollkommen unabhängig der Bestätigung der MA 35 beantwortet und auch beantworten darf.
UE ist die stRsp des OGH aus den folgenden Gründen verfehlt: Die Bezirksverwaltungsbehörden sind zweifelsfrei die zuständigen Behörden in Fragen des Niederlassungs- und Aufenthaltsrechts. Zwar ist richtig, dass Gerichte nur an rechtskräftige Bescheide von Verwaltungsbehörden gebunden sind sowie dass eine Anmeldebescheinigung „nur“ das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht dokumentiert und somit keinen Bescheidcharakter hat. Richtig ist allerdings auch, dass die Verwaltungsbehörden ihre Aufgabe ernst nehmen und sehr streng prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausstellung einer Bescheinigung erfüllt sind. Es ist einigermaßen erstaunlich und uE rechtsstaatlich bedenklich, dass der OGH tatsächlich die Meinung vertritt, dass die eigentlich unzuständigen ordentlichen Gerichte und die Pensionsversicherungsträger die Frage des rechtmäßigen Aufenthalts besser beantworten können als die sachlich zuständigen Verwaltungsbehörden. Auch die regelmäßige Praxis der PVA, den Ausgleichszulagenanspruch vorrangig aufgrund nicht ausreichender Existenzmittel abzulehnen und andere Tatbestände des rechtmäßigen Aufenthalts 55außer Acht zu lassen,* deutet auf ein fehlerhaftes Ermittlungsverfahren.
Ein weiteres Problem tritt hinzu: Wie oben mehrfach dargestellt, begründen Unionsbürger*innen ihr Aufenthaltsrecht durch Unionsrecht. Die Anmeldebescheinigung hat lediglich deklarative Wirkung und keinen Bescheidcharakter. Die Gewährung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige erfolgt mittels Bescheid, was zur Folge hat, dass die Gerichte an diese Entscheidung sehr wohl gebunden sind. Es erscheint wenig plausibel, dass Gerichte an das durch einen Aufenthaltstitel dokumentierte Aufenthaltsrecht bei Drittstaatsangehörigen gebunden sein sollen, während die Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts, welches mit Anmeldebescheinigung bestätigt wird (bei EU-Bürger*innen), überprüft werden können.* EU-Bürger*innen sind im Verhältnis zu Drittstaatsangehörigen tatsächlich schlechter gestellt. Im umgekehrten Fall, nämlich wenn die zuständige Verwaltungsbehörde über aufenthaltsbeendende Maßnahmen entscheidet, fühlen sich PVA und ordentliche Gerichte sehr wohl gebunden.