Offene Entgeltansprüche von Arbeitnehmern – Zahlungsaufforderung durch den Betriebsrat
Offene Entgeltansprüche von Arbeitnehmern – Zahlungsaufforderung durch den Betriebsrat
In der betrieblichen Praxis kommt es vor, dass Betriebsratsmitglieder beim Betriebsinhaber (BI) Entgeltansprüche von AN einfordern, wenn sich durch das Einsichtsrecht oder auf anderem Weg Anzeichen dafür ergeben, dass die Bezahlung nicht richtig ist. Fraglich ist, ob durch die Zahlungsaufforderung des BR Verfallsfristen unterbrochen werden.*
In einem Betrieb mit mehreren hundert ArbeiterInnen kommt aus Anlass einer Begehung durch das Arbeitsinspektorat hervor, dass in einzelnen Abteilungen eine Schmutz-, Erschwernis- und Gefahrenzulage gebühren würde. Der Vorsitzende des Arbeiter-BR fordert den BI aufgrund dessen schriftlich auf, diese Zulage für die in den Abteilungen beschäftigten AN nachzuzahlen und künftig abzurechnen. Der KollV sieht für die Zulage eine sechsmonatige Verfallsfrist vor. Innerhalb dieser Frist sind Ansprüche schriftlich geltend zu machen. Hat der Betriebsratsvorsitzende (BRV) den Verfallseintritt mit seinem Schreiben unterbrochen?
Das Kollegialorgan BR besitzt keine eigene Rechtsfähigkeit.* Die Befugnisse, die das ArbVG eröffnet, stehen der teilrechtsfähigen Belegschaft zu, die sich aus der Gesamtheit der AN bzw der AN-Gruppen (ArbeiterInnen und Angestellte) zusammensetzt. Die Belegschaft wird durch die Organisationsnormen des ArbVG in die Lage versetzt, Organe zu bestellen, durch die sie handlungsfähig wird. Der BR (§ 113 Abs 1 ArbVG) ist dabei der direkte Vertreter der Belegschaft.* Das ArbVG geht vom Konzept des alleinigen Organisationsrechts der betrieblichen Abläufe durch den BI aus und stattet die Belegschaft in abgestufter Form mit betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechten aus.*
Die Mitwirkungsrechte des BR sind unterschiedlich ausgeprägt und in den §§ 89 bis 112 ArbVG festgelegt. Im gegenständlichen Kontext sind die §§ 89 und 90 ArbVG beachtlich. § 89 Z 1 räumt dem BR ein Überwachungsrecht ein, das ua zur Prüfung sämtlicher Aufzeichnungen berechtigt, die für die Bezüge der AN relevant sind. Dazu zählen Arbeitszeitaufzeichnungen, Lohnabrechnungen, Urlaubsaufzeichnungen, usw.* Wortlaut und Systematik dieser Bestimmung zeigen, dass die korrekte Bezahlung einen hohen Stellenwert genießt und der BR eine wichtige Kontrollfunktion innehat, wenn es um Entgeltansprüche der AN geht. Dies bestätigen inhaltsähnliche Regelungen, wie bspw § 11a Abs 3 GlBG. Auch der OGH hebt die Bedeutung der Interessenwahrung in Entgeltfragen ausdrücklich hervor.*
§ 90 ArbVG ermöglicht dem BR in weiterer Folge, sein Interventionsrecht auszuüben. Welche Form und Maßnahme er wählt, steht in seinem Ermessen.* Systematisch baut das Interventions- auf dem Überwachungsrecht auf. Werden durch Ausübung des Letzteren Mängel entdeckt, ist es nur folgerich56tig, dass der BR nicht untätig bleibt. § 90 ArbVG äußert sich nicht explizit dazu, ob der BR berechtigt ist, für AN offene Entgeltansprüche zu fordern. Die Materialien* erwähnen diese Konstellation ebenso nicht. Zweifelsfrei hat aber jeder AN und damit die gesamte Belegschaft ein erhebliches Interesse daran, richtig abgerechnet zu werden. Das hat auch der Gesetzgeber erkannt, indem er in § 89 Z 1 und 2 „entgeltbezogene“ Überwachungsrechte ausdrücklich genannt hat. Aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht gibt es mE kaum ein höherwertiges Interesse als jenes, in seinen Ansprüchen nicht verkürzt zu werden. Dies gilt sowohl für den Grundlohn, aber natürlich auch für sämtliche, nur denkbare, darüberhinausgehende Geld- und Sachbezüge. Vorenthält der BI (Teilen) seiner Belegschaft solche Ansprüche, ist von einem Mangel iSd § 90 ArbVG zu sprechen, der zu beseitigen ist. Dies berücksichtigend würde es mE der Intention des Gesetzgebers, die Interessen der AN zu fördern, widersprechen, wenn die Tätigkeit des BR gleichsam „auf halbem Weg“ stehen bleiben müsste, da er zwar Mängel durch sein Einsichtsrecht aufdecken, nicht aber dessen Beseitigung beim dafür verantwortlichen BI verlangen dürfte. Es bestehen daher keine Bedenken dagegen, dem BR durch § 90 ArbVG das Recht einzuräumen, für den bzw die betroffenen AN beim BI (auch) schriftlich zu intervenieren und ihn aufzufordern, die korrekte Bezahlung von Ansprüchen sicher zu stellen.* Mit diesen Befugnissen korrespondiert die Programmnorm des § 38 ArbVG, die den BR damit beauftragt, ua die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der AN wahrzunehmen und zu fördern.
Die Rechte nach den §§ 89 ff ArbVG können vom BR auch dann ausgeübt werden, wenn nur wenige oder auch nur ein einzelner AN von einem „Mangel“ betroffen sind. Anders können die sich aus den genannten Bestimmungen ergebenden Betriebsratsaufgaben wohl nicht effektiv ausgeübt werden. Wenn sich ein AN an den BR wendet, mit der Bitte, den BI zur Zahlung offener Ansprüche aufzufordern, ist dieser berechtigt,* dem nachzukommen, ohne erst darauf warten zu müssen, bis eine – nicht definierte – größere Anzahl von Betroffenen vorhanden ist. Ergänzend sei erwähnt, dass eine derartige Aufforderung, auch wenn sie im Moment nur einen AN betrifft, erhebliche Folgewirkungen für andere oder zukünftige Kollegen haben wird bzw kann, wenn der BI den Mangel korrigiert. Damit wird im Endeffekt der Belegschaft als Kollektiv geholfen.*
Dem ArbVG ist die Vertretung einer kleinen Gruppe bzw nur einzelner AN auch nicht fremd. So sind bspw dem Kündigungs- und Versetzungsschutz Einzelinteressen maßgeblich immanent.* Betriebsvereinbarungen können nur für Abteilungen oder eine sonstige, kleine Gruppe von AN abgeschlossen werden.* Der OGH hat in 9 ObA 262/89 vom 27.9.1989 zudem hervorgehoben, dass auch der einzelne AN Träger subjektiver, betriebsverfassungsrechtlicher Befugnisse sein kann. Ganz generell sollte beachtet werden, dass jeder AN Bestandteil der Belegschaft ist und mit einer Vertretung der Belegschaft unvermeidlich die Interessen auch einzelner AN wahrgenommen werden, und umgekehrt. Die Belegschaft ist die Summe der einzelnen AN.* Die Grenzen zwischen individuellen und kollektiven Interessen sind mitunter fließend, der BR ist bei Ausübung seiner Befugnisse nicht nur auf die Wahrnehmung letzterer beschränkt. Mit diesen Beispielen soll allerdings nicht in Frage gestellt werden, dass beim Konzept der Mitbestimmung die kollektiven Interessen im Vordergrund stehen.* Dies zeigt sich bspw daran, dass der BR im Rahmen des Sperrrechts befugt ist, Entscheidungen gegen den einzelnen AN und zugunsten der Belegschaft zu treffen.
Der Katalog der dem BR zugewiesenen Möglichkeiten ist nicht abschließend. § 90 Z 3 ArbVG enthält zudem einen Auffangtatbestand, der dem BR faktisch erlaubt, sämtliche Maßnahmen zu verlangen, die die rechtliche bzw tatsächliche Situation der AN verbessern. Die demonstrative Aufzählung zeigt, dass es dem Gesetzgeber gerade kein Anliegen war, sämtliche nur denkbaren Befugnisse iZm der Beseitigung von Nachteilen für die Belegschaft im ArbVG ausdrücklich zu erwähnen. Diese Regelungstechnik führt mE zu einer methodisch wie praktisch wohl einfacheren Handhabung, da die Gerichte im Streitfall nicht erst von einer ungewollten Regelungslücke überzeugt werden müssen. Der Gesetzgeber hat sich nämlich bewusst dafür entschieden, sämtliche Maßnahmen iSd Belegschaft zu erlauben, und nicht nur die gesetzlich erwähnten.* Die konkreten Maßnahmen des BR sind dabei an § 38 ArbVG zu messen, der gleichzeitig die – durchaus weit gefasste – Grenze zieht.* Die Aktivität des BR ist daher durch das ArbVG und das Mandat nur dann nicht mehr gedeckt, wenn objektiv nicht nachvollziehbar bzw erkennbar ist, welche Interessen mit der Handlung des BR gewahrt und gefördert werden sollen.
Fraglich ist, ob die von § 90 ArbVG gedeckte Befugnis, den BI zu richtiger Bezahlung aufzufordern, zur 57Folge hat, dass mit einem entsprechenden Schreiben Verfallsfristen unterbrochen werden. Nach stRsp ist der BR ohne rechtsbegründenden Akt nicht der gesetzliche Vertreter der Belegschaft oder einzelner AN in Bezug auf deren privatrechtliche Ansprüche und daher nicht aktiv legimitiert, wenn es um die Geltendmachung solcher Ansprüche geht.* Auf den ersten Blick könnte dieser Rechtssatz zur Annahme verleiten, dass der BR aufgrund dessen auch nicht berechtigt bzw in der Lage ist, durch ein Aufforderungsschreiben an den BI eine Verfallsfrist zu unterbrechen. Dem ist mE aber nicht so:
Zum einen bezieht sich die im Rechtssatz wiedergegebene Meinung wohl nur auf die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen, soweit von der fehlenden Aktivlegitimation des BR gesprochen wird. Dieser Judikatur ist auch zuzustimmen. Der BR ist nicht berechtigt, im eigenen Namen fremde Rechte vor Gericht geltend zu machen; hierbei würde es sich um den Fall einer gewillkürten Prozessstandschaft handeln.* Vielmehr bedarf es dazu einer gesetzlichen Grundlage (zB § 54 ASGG*).
Zum anderen ist es – wie dargestellt – die Aufgabe des BR, die wirtschaftlichen/sozialen Interessen der AN zu wahren. Verfallsklauseln laufen diesen Interessen diametral zuwider, da sie binnen kurzer Zeit berechtigte Ansprüche der AN vernichten. Dabei kommt dem BR in erster Linie nicht die Aufgabe zu, einen privatrechtlichen Anspruch für den AN geltend zu machen, sondern er ist aufgrund seiner umfassenden Interessenvertretungsaufgabe gehalten, die AN durch die schriftliche Intervention vor einem erheblichen Nachteil zu bewahren, die darüber hinaus idealerweise zur Beseitigung des Mangels (nämlich der falschen Bezahlung) führen soll. So wie der OGH in stRsp die Meinung vertritt, dass eine Verfallsklausel nicht den Anspruch an sich berührt, sondern nur dessen Geltendmachung und Durchsetzung,* gilt dies umgemünzt auf die vorliegende Konstellation mit der Maßgabe, dass die Intervention des BR nicht den AN-Anspruch an sich berührt, sondern dass der BR den AN vor dem erheblichen Nachteil der untergegangenen Durchsetzung seines Anspruchs bewahren will. Die Intervention dient also weniger der Geltendmachung, sondern der Sicherstellung des Anspruchs.* Diese Sicherstellung gehört mE zweifelsfrei zu den Befugnissen des BR nach § 90 iVm § 38 ArbVG, da damit die Rechte des AN gewahrt werden, ohne dass der BR dadurch einen fremden Anspruch erheben würde. Auch der Zweck von Verfallsklauseln, für Klarheit in Bezug auf offene Ansprüche zu sorgen,* steht dem nicht entgegen, zumal hierfür lediglich entscheidend ist, dass der BI fristgerecht und nachvollziehbar mit Forderungen seiner Belegschaft konfrontiert und zur Korrektur seiner Unterentlohnung aufgefordert wird, während es zur Erreichung dieses Zwecks nicht ausschlaggebend ist, ob die betroffenen AN selbst oder die von ihnen gewählten, vertretungsbefugten Organmitglieder die Mängelbeseitigung verlangen.
Zu prüfen ist weiters, ob § 1497 ABGB der hier vertretenen Ansicht entgegensteht. Auf Verfallsfristen sind die Regelungen des § 1497 ABGB analog anzuwenden.* Damit Fristunterbrechung eintritt, muss der Schuldner vom Berechtigten belangt werden.* Damit im Einklang steht die Folgewirkung, dass die Unterbrechung nur zwischen jenen Personen wirkt, zwischen denen die Rechtshandlung (schriftliche Zahlungsaufforderung) gesetzt wurde.* Der Berechtigte ist im hier gegebenen Zusammenhang zwar auch der AN, daraus folgt aber nicht, dass nur ihm diese Möglichkeit zukommt, zumal dem BR – wie gezeigt – eine weitreichende Befugnis zur Bewahrung der Belegschaft vor wirtschaftlichen bzw sozialen Nachteilen eingeräumt wurde und ihm nach dem zentralen Normzweck der Mitbestimmungsrechte des ArbVG die Funktion zukommt, Konflikte zu „mediatisieren“ und die einzelnen AN vor Reaktionen des BI zu schützen, die potentiell gesetzt werden könnten, würden sie bei ihm persönlich intervenieren. Die Befugnis zur Mängelbeseitigung kommt dem BR als „kollegiales Vertretungsorgan“* der einzelnen AN in den zugewiesenen betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten zweifelsfrei zu. Da diese Mängelbeseitigung durch eine Zahlungsaufforderung erreicht werden kann und vor allem der Anspruch damit sichergestellt wird, ist der BR insoweit als Berechtigter iSd § 1497 ABGB anzusehen, dessen Schreiben die Verfallsfrist für die betroffenen AN unterbricht, deren Befugnisse er ausübt. Einer konkreten Aufforderung bzw Bevollmächtigung des BR durch den/die AN bedarf es dafür nicht, da sich die Befugnis – wie gezeigt – aus § 90 iVm § 38 ArbVG ableiten lässt.
Auch § 54 Abs 5 ASGG stützt dieses Ergebnis. Diese Bestimmung soll nach Möglichkeit Einzelrechtsstreitigkeiten unterbinden, indem eine Hemmung von Verjährungs- und Verfallsfristen angeordnet wird.* Auch daraus ist ersichtlich, dass es zu den Aufgaben des BR zählt, Belegschaftsansprüche zu sichern. Der Gesetzgeber beabsichtigte, den BR mit wirkungsvollen Befugnissen zur Rechtswahrung auszustatten. Diese Absicht kann ihm aber auch im Rahmen des § 90 ArbVG unterstellt werden. Aus § 54 ASGG ist mE jedenfalls nicht zu schließen, dass der Gesetzgeber den BR nur in der darin geregelten Konstellation eine Möglichkeit zur Hand 58geben wollte, um seiner Interessenvertretungsaufgabe schlagkräftig nachzukommen. Vielmehr war es den formalen Prinzipien der ZPO geschuldet, dem Organ BR eine Prozessführungsbefugnis einzuräumen. Daraus folgt nicht, dass es dem BR nicht möglich sein soll, außergerichtlich seinen Aufgaben gem § 38 ArbVG effektiv nachkommen zu können. Naheliegender ist mE, dass die Förderung der sozialen/wirtschaftlichen DN-Interessen iVm dem bewusst nicht abschließenden Regelungskonzept des § 90 ArbVG die Befugnis des BR beinhaltet, die korrekte Bezahlung von Ansprüchen einzufordern und ihn insoweit ebenso als Berechtigten iSd § 1497 ABGB zu betrachten, da ihm das Recht zur Belangung des BI durch außergerichtliche Zahlungsaufforderung gesetzlich gerade nicht beschränkt oder abgeschnitten wurde. Es erscheint auch wertungswidersprüchlich, dem BR zwar zu ermöglichen, die Mängelbeseitigung der falschen Bezahlung zu verlangen, diese Befugnis aber doch zahnlos auszugestalten, indem Verfallsfristen nicht unterbrochen werden und die außergerichtliche „Konfrontation“ mit dem BI letztlich daher wieder den AN überbürdet wird, obwohl der BR derartige Konflikte gerade verhindern soll.
Zu beachten ist idZ, dass eine Verfallsfrist nur unterbrochen wird, wenn Ansprüche ausreichend konkretisiert werden, damit sich der AG darüber im Klaren sein kann, was er wem schuldet.* Wenn sämtliche AN bspw einer Abteilung betroffen sind, ist eine namentliche Nennung des Einzelnen mE nicht geboten. Betrifft die Entgeltvorenthaltung nur einzelne AN, wird der BR um eine konkrete Bezeichnung der Person(en) nicht herumkommen. Zusätzlich sollte der exakte Zeitraum der Entgeltvorenthaltung genannt werden, wie auch eine Konkretisierung, welche Entgeltbestandteile fehlen, wobei eine Bezifferung nicht notwendig ist.
Die Ansichten darüber, wem die Befugnisse der §§ 89 ff ArbVG zukommen, sind geteilt. Manche AutorInnen sehen ausschließlich das Kollegialorgan berufen,* ein Teil der Lehre geht davon aus, dass jedes Betriebsratsmitglied zur Ausübung berechtigt ist.* Grundsätzlich ist letzterer Ansicht der Vorzug zu geben, soweit sich aus den Befugnissen keine Rechtsfolgen ergeben. Aus praktischer Sicht ist hier zu ergänzen, dass die Ausübung nur durch das Kollegialorgan die Arbeit des BR unangemessen erschweren würde. Es steht den AN frei, sich an jedes Betriebsratsmitglied zu wenden. Es gibt weder eine „Rangordnung“ im Verhältnis freigestelltes zu nicht freigestelltem Mitglied,* noch sieht das ArbVG vor, dass exklusiv der Betriebsratsvorsitzende konsultiert werden dürfte. Im Gegenteil, gem § 37 Abs 2 ArbVG kann jedes Betriebsratsmitglied Anlaufstelle für Anliegen der Belegschaft sein.* Die Entscheidung, welches Mitglied um Hilfe ersucht wird, hängt in der Praxis oft davon ab, zu wem der AN einen engeren Kontakt bzw ein gewisses Vertrauensverhältnis hat. Dürfte bzw könnte das Betriebsratsmitglied in weiterer Folge aber womöglich gar nicht tätig werden, widerspricht dies nicht nur § 38 ArbVG, der mE einen Auftrag auch an jedes einzelne Betriebsratsmitglied gerichtet enthält,* sondern könnte letztlich auch zu politischen Konsequenzen bei der nächsten Wahl führen, wenn sich die Belegschaft nicht ordnungsgemäß vertreten fühlt. Mit diesem Recht jedes einzelnen Betriebsratsmitglieds geht folgerichtig die Befugnis einher, mit einzelnen AN aktiv Kontakt aufzunehmen, um Angelegenheiten zu klären, die die Interessen gem § 38 ArbVG zum Gegenstand haben.* Die regelmäßige Interaktion zwischen BR und AN erfordert in Bezug auf die Bearbeitung ihrer Anliegen eine möglichst „unbürokratische“ Hilfestellung, die jedes Betriebsratsmitglied gewähren darf.
Eine Beschlussfassung zur Ausübung bspw des Interventionsrechts durch das einzelne Betriebsratsmitglied ist damit grundsätzlich nicht erforderlich.* Auch ist zu bedenken, dass Betriebsratssitzungen idR einmal im Monat (§ 67 ArbVG) stattfinden und das Anliegen des/der AN daher oft nur zeitverzögert behandelt würde, wenn erst nach beschlussmäßiger Freigabe der BI konfrontiert werden könnte. Andererseits könnte das Ersuchen letztlich sogar auf der Strecke bleiben, wenn es im Kollegium nicht mehrheitsfähig ist. Dabei dient die nicht erforderliche Beschlussfassung auch dem Minderheitenschutz,* der in Gefahr wäre, wenn ein „Minderheiten“-Mitglied sein Interventionsrecht nicht ausüben dürfte, weil beabsichtigt keine Abstimmungsmehrheit zustande kommt.
Nach überzeugender Meinung* ist aber eine andere Sicht geboten, wenn die Intervention Rechtsfolgen nach sich zieht. Wird der BI* schriftlich 59zur Zahlung offener Ansprüche aufgefordert, knüpft sich daran nach meiner Ansicht die Rechtsfolge, dass eine Verfallsfrist unterbrochen wird. Aufgrund der insoweit stärkeren Ausprägung der Befugnis ist die Etablierung des dahinterstehenden Willens des Betriebsratskollegiums ebenso erforderlich, wie die Gewährleistung der formellen Richtigkeit der Rechtshandlung iSd § 68 Abs 1 ArbVG. Die Verfallsfrist wird daher nur unterbrochen, wenn dem Aufforderungsschreiben des BR ein gültiger Beschluss zugrunde liegt. Lediglich bei Gefahr in Verzug* könnten mE der BRV bzw dessen Stellvertreter ohne Beschluss handeln, wenn bspw die nächste Betriebsratssitzung zeitlich so geplant ist, dass in der Zwischenzeit ein Monat verfallen würde und eine außerordentliche Sitzung (§ 67 Abs 2 ArbVG) ebenfalls nicht rechtzeitig möglich wäre.
Das Beschlusserfordernis hat weiters zur Folge, dass nur der BRV bzw in seiner Abwesenheit der BRV-Stellvertreter zur Zahlungsaufforderung berechtigt sind, da diese gegenüber dem BI zu erfolgen hat (§ 71 ArbVG). Eine Delegierung im Einzelfall (§ 69 Abs 1 ArbVG) kommt mE nicht in Betracht, da dies gem § 15 Abs 1 BRGO nur zulässig ist, wenn eine Beschlussfassung unterbleiben kann.
Sollte eine externe Stelle, bspw die Arbeiterkammer,* mit einer Intervention beauftragt werden, ist ebenso ein Betriebsratsbeschluss notwendig. Dies ergibt sich aus der dem Gesetz zu entnehmenden Subsidiarität der Befassung Dritter. § 90 ArbVG bestimmt, dass externe Stellen „erforderlichenfalls“ einzuschalten sind. Daraus ist abzuleiten, dass der BR zunächst zu versuchen hat, das Problem intern, dh durch eigenes Einschreiten, zu klären.* Der Gesetzgeber präferiert damit also grundsätzlich eine innerbetriebliche Lösung. Sollte es vor diesem Hintergrund wegen Erfolglosigkeit zu einer externen und damit weitere Kreise ziehenden Problembehandlung kommen, ist ein mehrheitlicher Konsens im Kollegialorgan geboten, da es in diesem Fall – ungeachtet bestehender Verschwiegenheitspflichten – sowohl um die Außendarstellung des Betriebs, wie auch um die Weitergabe von innerbetrieblichen Informationen geht. Die erhöhte Sensibilität dieses Vorgehens gebietet eine beschlussmäßige Zustimmung des Belegschaftsorgans. Vertretungsbefugt gegenüber dem Dritten sind wiederum nur der BRV bzw dessen Stellvertreter.
Die Intervention nach § 90 ArbVG stellt eine schlichte Berechtigung und keine Verpflichtung dar. Nach zutreffender Ansicht statuiert der Gesetzgeber unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts eine Pflichtbefugnis nur in den Fällen des § 89 Z 2 und 3 ArbVG.* Einer Aufforderung (Weisung) der AN muss der BR nicht nachkommen. Es liegt vielmehr im gerichtlich nicht überprüfbaren* Ermessen des Betriebsratskollegiums, tätig zu werden und vom BI die richtige Bezahlung einzufordern. Auch alternative Handlungen, bspw die Unterrichtung der betroffenen AN, sind denkbar.* Dabei trifft die Betriebsratsmitglieder mit Ausnahme der absichtlichen Schädigung (§ 1295 Abs 2 ABGB) ausschließlich eine politische Verantwortung.*
Denkbar wäre auch, dass sich ein Betriebsratsmitglied per Vereinbarung vom AN bevollmächtigen lässt, um dessen Ansprüche geltend zu machen. Der Bevollmächtigung liegt dabei im Innenverhältnis ein Auftrag (Rechtsgeschäft) zugrunde, der eine Handlungspflicht auslöst.* Im Zweifel ist von dieser Vorgehensweise abzuraten, da den BR in diesem Fall eine vertragliche Haftung gem § 1012 ABGB trifft, wenn er die Verfallsfrist übersieht oder eine ausreichend konkrete Geltendmachung unterlässt. Die bloße Aufforderung bzw Bitte an das Betriebsratsmitglied, offene Ansprüche zu intervenieren, ist keine Bevollmächtigung, sondern (nur) eine – unverbindliche – Weisung, seinem Mandat nachzukommen. Für einen Bevollmächtigungsvertrag (§ 1002 ABGB) bedarf es einer am besten schriftlichen und vor allem ausreichend bestimmten (§ 869 ABGB) Vereinbarung ua über Beginn, Dauer, Reichweite, Pflichten und sonstige inhaltliche Details des Auftrags.
Dem BR kommt gem § 90 ArbVG die Befugnis zu, den BI zur Zahlung offener Entgeltansprüche der Belegschaft aufzufordern; dies auch dann, wenn nur ein einzelner AN betroffen ist.
Für die Intervention ist ein Betriebsratsbeschluss erforderlich, die Aufforderung ist dem BRV gem § 71 ArbVG vorbehalten.
Beruht die Intervention auf einem ordnungsgemäßen Beschluss, werden durch die außergerichtliche (schriftliche) Zahlungsaufforderung etwaige Verfallsfristen unterbrochen. 60