74Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen unterlassener Einvernahme von beantragten Zeugen / Lange Verfahrensdauer als Milderungsgrund bei der Strafbemessung
Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen unterlassener Einvernahme von beantragten Zeugen / Lange Verfahrensdauer als Milderungsgrund bei der Strafbemessung
Bei einer „Nachschau“ durch die Finanzpolizei am Sitz einer GmbH (Zweitrevisionswerberin im Verfahren vor dem VwGH), deren alleiniger Gesellschafter der Erstrevisionswerber war, wurde festgestellt, dass sich die Revisionswerber gegenüber mehreren Auftraggebern (vorwiegend Betreibern von Pizzalokalen) zur Speisenzustellung verpflichtet hatten. Dafür wurden in der Folge Werkverträge mit zahlreichen Zustellern abgeschlossen, wobei sich der Verdacht ergab, dass – in näher bezeichneten Zeiträumen – Dienstverträge vorlagen. Das eingeleitete Strafverfahren wegen §§ 153d und 153e StGB wurde eingestellt.165
Der Erstrevisionswerber bestritt die DN-Eigenschaft der 56 Zusteller und beantragte deren Vernehmung. Von der belangten Behörde wurden 56 Geldstrafen von je € 2.180,- verhängt. Das LVwG führte nach der Beschwerde eine mündliche Verhandlung mit sieben Tagsatzungen durch; zahlreiche Zusteller wurden einvernommen – zwei Zusteller sind unentschuldigt nicht erschienen, bei einem war keine aktuelle Anschrift bekannt. Der Erstrevisionswerber selbst konnte nicht einvernommen werden, weil er nicht zur Tagsatzung erschien – vier Mal wegen Erkrankung, einmal wegen „eines beruflichen Termins“, zuletzt ohne Begründung.
Das LVwG gab der Beschwerde mit dem nun angefochtenen Erkenntnis zum Teil Folge. Es wurden nähere Feststellungen zum Inhalt der Tätigkeit getroffen und in der rechtlichen Beurteilung Dienstverhältnisse festgestellt. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig.
Der VwGH hält die außerordentliche Revision für zulässig und insofern auch für begründet, weil das LVwG die zeugenschaftliche Vernehmung von drei Zustellern unterlassen und die lange Verfahrensdauer als Milderungsgrund bei der Strafbemessung außer Acht gelassen hat. Im Übrigen wurde die Revision als nicht zulässig betrachtet.
Das Verfahren ist mangelhaft, weil das Verwaltungsgericht die Einvernahme der (restlichen) drei Zusteller trotz beantragter Ladung unterlassen hat. Wie der VwGH in stRsp vertritt, ist Beweisanträgen grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Beweisaufnahme im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Zur Vermeidung einer antizipierenden Beweiswürdigung dürfen Beweisanträge vom Verwaltungsgericht, vor dem der Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt (vgl die §§ 46 und 48 VwGVG), nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder ein Beweismittel – ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung – an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen. Dass die zwei Zusteller der Verhandlung unentschuldigt fernblieben, berechtigte das Verwaltungsgericht nicht, von der beantragten Vernehmung abzusehen. Vielmehr hätte es darauf hinwirken müssen, dass die Zeugen ihrer Verpflichtung, der Ladung Folge zu leisten, nachkommen, und es hätte zu dem Zweck allenfalls auch Zwangsmittel anwenden müssen. Was den dritten Zusteller betrifft, so wurde das Verwaltungsgericht durch das Fehlen einer aktuellen Anschrift nicht von vornherein von der Aufnahme des beantragten Zeugenbeweises entbunden. Vielmehr ist beim Fehlen einer aktuellen ladungsfähigen Anschrift dem Antragsteller eine angemessene Frist zu deren Bekanntgabe zu setzen. Erst nach deren Ablauf darf angenommen werden, dass der Beweis nicht erbracht werden könne.
Das Erkenntnis ist zum Teil auch inhaltlich rechtswidrig, weil das Verwaltungsgericht betreffend den Umfang des Strafausspruchs die lange Verfahrensdauer als Milderungsgrund unberücksichtigt ließ. Entgegen den Revisionsausführungen ist die knapp einjährige Dauer von der Aufdeckung der Verwaltungsübertretungen am 11.6.2013 bis zur Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung vom 2.6.2014 in die hier im Blick stehende Verfahrensdauer nicht einzubeziehen. Allerdings erstreckte sich auch das weitere Verfahren bis zur Erlassung des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses über mehr als zweieinhalb Jahre. Davon entfielen knapp eineinhalb Jahre auf das behördliche Strafverfahren, obwohl keine zeitaufwändigen Ermittlungen stattfanden, es war auch keine ungewöhnliche Komplexität und Schwierigkeit gegeben. Diese Verfahrensdauer ist als nicht mehr angemessen iSd Art 6 EMRK zu erachten.
Im Übrigen ist die Revision nicht zulässig. Insb das mehrmalige Nicht-Erscheinen des Revisionswerbers selbst machte seine Einvernahme unmöglich, ohne dass er die Hinderungsgründe ausreichend bescheinigte.
Der VwGH hat auch schon mehrfach in ähnlichen Fällen zur Tätigkeit von „Pizzazustellern“ Stellung genommen und die Kriterien für das Vorliegen eines Dienstverhältnisses festgehalten (VwGH 4.4.2016, Ra 2015/08/0195; VwGH 10.9.2014, Ro 2014/08/0069; VwGH 3.11.2015, 2013/08/0153).
(Auf die weiteren Ausführungen des Revisionswerbers zur Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts und zum Eintritt der Verjährung wird hier nicht näher eingegangen.)