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Berufsunfähigkeit bei Erforderlichkeit einer Begleitperson auf dem Arbeitsweg in der Eingewöhnungsphase

ALEXANDERDE BRITO

Grundsätzlich darf eine versicherte Person auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn sie diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens ihres AG verrichten kann.

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass es eines besonderen Entgegenkommens eines AG bedürfe, um eine Begleitung für den Arbeitsweg der Kl auch nur während der ersten Tage eines neuen Arbeitsverhältnisses (in der „Eingewöhnungsphase“) zu organisieren, ist zutreffend.

SACHVERHALT

Mit Bescheid vom 2.9.2015 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag der Kl auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft vorliege. Da aber ab 1.8.2015 vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vorliege, bestehe ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV. Die Kl genießt keinen Berufsschutz und war im Zeitpunkt der Gewährung von Rehabilitationsgeld berufsunfähig. Mit Bescheid vom 21.1.2020 sprach die bekl PVA aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 29.2.2020 entzogen werde. Im Rechtsmittelverfahren war nicht mehr strittig, dass sich das Leistungskalkül der Kl im Entziehungszeitpunkt gebessert hat und sie wieder in der Lage ist, diverse Verweisungstätigkeiten im Rahmen einer Teilzeitarbeit von 20 Stunden pro Woche, aufgeteilt auf fünf Arbeitstage zu je vier Stunden, auszuüben. Der Kl ist allerdings weder eine Wohnsitzverlegung noch Wochenpendeln zumutbar. Sie ist nicht in der Lage, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen. Zu Fuß kann die Kl eine Wegstrecke von 500 m in einer Zeit von 20 bis 25 Minuten zurücklegen, wobei sie in der Phase der Eingewöhnung einer Wegstrecke zu einem neuen Arbeitsplatz für die Dauer von einigen Tagen eine Begleitperson benötigt. Im Umkreis von einem Kilometer vom Wohnort der Kl entfernt bestehen mehr als 30 Arbeitsplätze in den der Kl noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten.

Die Kl begehrte mit ihrer Klage die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld über den 29.2.2020 hinaus. Ua sei sie aufgrund ihrer Therapiebedürftigkeit nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erreichen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Kl könne eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen mit ihr zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf einem regionalen Arbeitsmarkt zu Fuß erreichen. Dass sie dazu anfangs eine persönliche Begleitung benötige, sei ein unbeachtlicher persönlicher Umstand. Dabei handle es sich um einen mit einer kurzen Einschulung vergleichbaren Vorgang.

Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der Kl nicht Folge. Der Arbeitsweg sei zwar nicht mehr dem Privatbereich zuzurechnen, sodass die Rsp zu Hindernissen im privaten Bereich nicht herangezogen werden könne. Die Zurücklegung des Arbeitswegs sei andererseits aber noch keine Arbeitstätigkeit. Die Notwendigkeit einer Begleitperson in den ersten Tagen einer neuen Arbeit könne daher nicht mit einer Einschulungsmaßnahme verglichen werden. Es bedürfte eines besonderen Entgegenkommens eines AG, die Kl vor Arbeitsbeginn in ihrer Wohnung abzuholen und zur Arbeit zu begleiten. Allerdings sei auch keine medizinische Maßnahme der Rehabilitation erforderlich. Bestehe das Hindernis, einen Beruf auszuüben, nur darin, dass ein Versicherter nicht über ein dafür erforderliches Hilfsmittel verfüge, und unternehme der Versicherte nichts, um dieses Hilfsmittel zu erlangen, so entstehe aus der dadurch bedingten Behinderung mangels zumutbarer Mitwirkung des Versicherten kein Anspruch auf eine Leistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit.

Die Revision sei zulässig, weil eine Klarstellung zur „Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen in zumutbarer Weise“ bzw zum Ausmaß der dem Versicherten bei medizinischen Einschränkungen zumutbaren Mitverantwortung geboten erscheine.

Gegen diese Entscheidung richtete sich die von der Bekl beantwortete Revision der Kl, mit der sie die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes über den 29.2.2020 hinaus begehrt.

Die Revision war zulässig und berechtigt.174

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

[12] Die Klägerin macht in der Revision geltend, dass sie aus medizinischen Gründen in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses nicht allein zur Arbeit gehen könne, sondern eine Begleitung brauche. Die Beklagte müsse daher als medizinische Maßnahme der Rehabilitation eine Begleitperson zur Verfügung stellen. Dies habe sie jedoch nicht angeboten. Aus den Feststellungen ergebe sich nicht, dass die Klägerin sich durch einen „Freund“, „Begleiter“ oder „Lebensgefährten“ begleiten lassen könne. Diese Personen träfe auch keine Beistandspflicht im Sinn des § 90 ABGB.

[13] Die Beklagte hält dem in der Revisionsbeantwortung entgegen, dass es keine medizinische Maßnahme der Rehabilitation darstelle, einen Versicherten für einige Tage auf dem Weg zur Arbeit zu begleiten. Darüber hinaus sei in Gesamtschau die Zurücklegung des Arbeitswegs dem privaten Lebensbereich zuzuordnen.

[14] 1.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgeldes ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist. […]

[15] 1.2 Hier steht zwar fest, dass sich das Leistungskalkül der Klägerin im Entziehungszeitpunkt wesentlich gebessert hat, weil sie wieder in der Lage ist, ihr zumutbare Arbeitstätigkeiten in Verweisungsberufen auszuüben. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn die versicherte Person nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. […] Der Arbeitsweg für die Beurteilung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit ist nach dieser Rechtsprechung nicht dem „privaten“ Lebensbereich zuzuordnen. Zutreffend hat das Berufungsgericht den Fall, dass ein Versicherter Hilfe bei Vorbereitungshandlungen im privaten Bereich benötigt, um den Weg zur Arbeit anzutreten (10 ObS 120/9010 ObS 120/90 SSV-NF 4/78; RS0084929RS0084929) von dem hier vorliegenden Fall unterschieden, dass der Arbeitsweg selbst nicht ohne fremde Hilfe zurückgelegt werden kann.

[16] 1.3 Die Klägerin ist nach den Feststellungen aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen nicht in der Lage, einen – beliebigen – Arbeitsweg während einer Eingewöhnungsphase am Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses für die Dauer von einigen Tagen, allein zu Fuß zurückzulegen. Sie benötigt dafür eine Begleitperson. Die Klägerin ist in diesem Umfang allein aus medizinischen […] Gründen an der Zurücklegung des Arbeitswegs gehindert.

[17] 2.1 Die Klägerin ist nicht verpflichtet, während der Eingewöhnungsphase am Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses selbst dafür zu „sorgen“, dass sie am Arbeitsweg begleitet wird:

[18] 2.2 Persönliche Umstände, wie die Sprache, aber auch die persönlichen Einkommensverhältnisse und Vermögensverhältnisse oder die Krankenversicherung, sind bei Prüfung der Berufsunfähigkeit […] nicht zu berücksichtigen. Auch die konkrete familiäre Situation kann weder zugunsten noch zu Lasten des Versicherten herangezogen werden […]. Es kommt schon daher nicht darauf an, ob die Klägerin über eine Begleitperson „verfügt“, die sie in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses auf dem Arbeitsweg begleiten kann.

[19] 2.3 Nach der […] Rechtsprechung ist der Versicherte dann, wenn ein Hindernis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur darin besteht, dass ihm ein erforderliches Hilfsmittel fehlt, bis zu einem gewissen Grad verpflichtet, die Beistellung eines solchen Hilfsmittels zu erreichen. […] Nur dann, wenn über seinen Antrag die Anschaffung des Hilfsmittels verweigert würde oder die Anschaffung seine Leistungsfähigkeit überstiege, könnte ein Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit bejaht werden.

[20] 2.4 Diese Rechtsprechung ist aber im vorliegenden Fall nicht anwendbar: Die Klägerin benötigt nicht ein Hilfsmittel, wie etwa eine Brille, um den Arbeitsweg in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses zurücklegen zu können, sondern einen Menschen als Begleitperson. Ob eine Begleitperson […] überhaupt vorhanden ist oder nicht, gehört wie ausgeführt zu jenen persönlichen Umständen, die weder zugunsten noch zu Lasten der Klägerin berücksichtigt werden dürfen.

[21] […] Zutreffend weist die Beklagte in der Revisionsbeantwortung darauf hin, dass die „Zurverfügungstellung“ einer Begleitperson keine Maßnahme der Rehabilitationsmedizin im Sinn dieser gesetzlichen Lage und Rechtsprechung ist.

[22] 4. Grundsätzlich darf eine versicherte Person auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn sie diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens ihres Arbeitgebers verrichten kann (10ObS81/15g&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">10 ObS 81/15g, SSV-NF 30/14 mwH). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass es eines besonderen Entgegenkommens eines Arbeitgebers bedürfe, um eine Begleitung für den Arbeitsweg der Klägerin auch nur während der ersten Tage eines neuen Arbeitsverhältnisses (in der „Eingewöhnungsphase“) zu organisieren, ist zutreffend und wird von der Beklagten in der Revisionsbeantwortung nicht in Frage gestellt.

[23] 5. Ausgehend davon ist die Klägerin weiterhin vorübergehend berufsunfähig, weil sich zwar ihr Leistungskalkül verbessert hat, sie aber nicht ohne ein besonderes Entgegenkommen eines neuen Arbeitgebers in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz in einer ihr zumutbaren Verweisungstätigkeit wäh175rend der ersten Tage des neuen Arbeitsverhältnisses […] zu erreichen. […]

[31] Der Revision ist daher Folge zu geben. […]

ERLÄUTERUNG

Besonders in Fällen, bei denen das Verweisungsfeld bei Prüfung eines Anspruchs auf Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit extrem eng ist (Arbeitsfähigkeit von nur mehr 20 Wochenstunden, aufgeteilt auf fünf Arbeitstage zu je vier Stunden, ohne Wohnsitzverlegung oder Wochenpendeln, ohne Benützung öffentlicher Verkehrsmittel und Bewältigung einer Wegstrecke von 500 m in einer Zeit von 20 bis 25 Minuten), kommt der Frage, ob die Notwendigkeit einer Begleitperson zur Erreichung des Arbeitsplatzes während der Anfangsphase der Beschäftigung einen persönlichen Umstand darstellt, der für die Frage der Invalidität nicht zu berücksichtigen ist, oder eine medizinisch begründete Einschränkung des Leistungskalküls, Bedeutung zu. Persönliche Umstände wären für die Frage des Vorliegens von Invalidität nicht zu berücksichtigen. Die Entscheidung im vorliegenden Fall fällt klar auf Letzteres. Auch die Judikatur zu notwendigen Hilfsmitteln, für die die Kl selbst Sorge tragen müsste, kommt nicht zur Anwendung. Die Kl benötigt kein Hilfsmittel, wie etwa eine Brille, um den Arbeitsweg in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses zurücklegen zu können, sondern einen Menschen als Begleitperson. Ob eine Begleitperson vorhanden ist oder nicht, gehört aber zu den persönlichen Umständen, die weder zugunsten noch zu Lasten der Kl berücksichtigt werden dürfen. Warum der OGH jedoch seine Entscheidung nicht einfach damit begründet, dass der Arbeitsplatz aufgrund des medizinischen Leistungskalküls nicht erreicht werden kann, ist nicht einfach nachvollziehbar, auch wenn die Begründung, dass ein Entgegenkommen des DG erforderlich ist, zum selben Ergebnis führt.